Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.02.2006. Im Spiegel dankt Botho Strauß den Islamisten für das Ende der Beliebigkeit. In der FAZ erläutert Frank Schirrmacher Strauß' Begriff der "Vorbereitungsgesellschaft". In der SZ begreift Antje Vollmer die Krise des Hollywood-Kinos als Chance für den deutschen Film. Außerdem meldet die SZ die Rückkehr des Franz-Xaver Kroetz. Oskar Roehlers Verfilmung der "Elementarteilchen" dominiert die Berlinale-Berichterstattung. Manche sind begeistert, andere enttäuscht.

Weitere Medien, 13.02.2006

"Die religiös Indifferenten leben nicht mehr ganz unter sich in diesem Land", bemerkt Botho Strauß im Spiegel. Der Verletzung sakraler Gefühle komme daher eine andere Bedeutung zu als in der früheren Bundesrepublik. "Sie sollte ebenso strafbar sein wie die Verletzung der Ehre." Spott und Satire werden uns in der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht weiterhelfen. Denn wir leben in einer "Vorbereitungsgesellschaft. Sie lehrt uns andere, die wir von Staat, Gesellschaft, Öffentlichkeit abhängiger sind als von der eigenen Familie, den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis." Durch den Islam sei die im Westen "herrschende Beliebigkeit" in eine Krise geraten. "Vielleicht darf man sogar sagen: Wir haben sie hinter uns. Es war eine schwache Zeit!"

FAZ, 13.02.2006

Frank Schirrmacher kommentiert Kommentare zu den Karikaturen, darunter auch Botho Strauß' Gedanken zur "Vorbereitungsgesellschaft". Das "heißt zunächst nichts anderes, als dass sich in der für die Familienbildung und die gesellschaftliche Dynamik entscheidenden Gruppe der Zwanzig- bis Vierzigjährigen ein Austausch vollzieht. Dieser Austausch, der in vielen Metropolen von uns verantwortungslos schlecht ausgebildete Zuwanderer zu Mehrheiten macht, wird einen weiteren gesellschaftlichen und sozialen Druck auf die heute zehnjährigen Kinder ausüben. Die Familie, die in Not und Bedrängnis zusammenhält, werden sie innerhalb der Metropolen dann mehrheitlich als muslimisch geprägte Familien wahrnehmen."

Wiebke Hüster bewundert den Mainzer Ballettdirektor Martin Schäpfer, der einzig und allein vor Beethovens Siebter kapitulieren muss. "Dieses Mal hat er sich zum Gefangenen eines eigenen Einfalls gemacht und so die Musik verfehlt. Um es aber gleich vorweg zu sagen: Das bemerkenswerte Konzept, das Schäpfer hier entwickelt, ist noch in seinem Scheitern um ein Vielfaches anregender, durchdachter und sehenswerter als das allermeiste auf den deutschen Tanzbühnen dieser Tage."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko weiß von neuen Mumienfunden im ägyptischen Tal der Könige zu berichten. Regina Mönch erinnert in der Diskussion um das Berliner Zentrum gegen Vertreibungen an die Vertreibungen der Italiener aus Istrien und Dalmatien 1945. Rtg. amüsiert sich über das Logo zum sechzigsten Geburtstag Niedersachsens.

Auf der Berlinaleseite geht es in Sammelbesprechungen um Oskar Roehlers "Elementarteilchen", Michel Gondrys "The Science of Sleep", Wettbewerbsfilme von Chen Kaige, Terrence Malick und Michael Glawogger, um Jasmila Zbanics "Grbavica" und Winfried und Barbara Junges Zeitdokumentation "Und wenn sie nicht gestorben sind". Auf die erste Seite ausweichen musste die Besprechung von Romuald Karmakars Dokumentarfilm "Hamburger Lektionen" über die isamistischen Unterweisungen des Hamburger Predigers Mohammed Ben Mohammed al-Fazazi.

Auf der letzten Seite porträtiert Konstanze Crüwell den Forscher und Museumsgründer Willson Peale. Heinrich Wefing bezeugt die Rückgabe von drei Bildern des deutschen Malers Heinrich Bürkel, die von GIs 1945 in die USA geschmuggelt worden waren. Und Monika Osberghaus stellt die Jugendbuchautorin Karla Schneider vor.

Im Medienteil wettert der Kommunikationswissenschaftler Horst Müller gegen die Verbreitung von kostenpflichtigen Gewinnspielen im Radio.

Besprochen werden Peter Zadeks Inszenierung von Shelag Delaneys "Bitterer Honig" im St. Pauli Theater in Hamburg, Luk Percevals Version von Schillers "Maria Stuart" an der Berliner Schaubühne, ein Konzert der Sopranistin Angela Denoke und den Bamberger Symphonikern in Frankfurt am Main, und Bücher wie Matthias Matusseks Wendeerinnerungen "Palasthotel" (mehr aus unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 13.02.2006

Die Autorin Olga Martynova berichtet von ihrer Reise nach Moskau, das sie zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder besucht hat: "Auf vieles waren wir gefasst, nur auf das nicht, was uns zu Gesicht kam: Moskau heute ist eine nahezu gemütliche, geschäftige und sich amüsierende Handelsmetropole und nicht die gravitätische Hauptstadt einer Weltmacht, als die es seit 1918 missbraucht wurde. Moskau löst allmählich die sowjetische Maske ab von seinem Gesicht. Ich kenne keine andere Stadt, der die Straßenwerbung so gut steht. Und die verschnörkelten Springbrunnen, neuen Türme und Türmchen und die heiligen George. Und die neuen Denkmäler überall, die zu errichten eine Volkskrankheit zu sein scheint: Puschkin und seine Frau Natalie in einer Gartenlaube aus Gußeisen und Gold; der Liedermacher Wysozky mit Gitarre; Sergei Jessenin mit einem winzigen Pegasus zu seinen Füssen. Es gibt sogar ein Denkmal für einen Schmelzkäse."

Die palästinensische Schriftstellerin Sahar Khalifa schreibt zum Wahlsieg der Hamas: "Nun sitzen wir in der Falle. Die Liberalen sehen ihre Perspektiven durch den Konservatismus und den Extremismus der Hamas verbaut. Die Demokraten fühlen sich durch die Eingleisigkeit der neuen politischen Kraft bedroht. Und nicht zuletzt fürchten die progressiven Frauen, dass sie all das verlieren werden, was sie sich in einem oft zermürbenden Mehrfrontenkrieg erkämpft haben." Wer daran schuld sei, mag sie nicht entscheiden, die Opfer werden auf jeden Fall die Palästinenser sein.

Weiteres: Roman Hollenstein diskutiert die Entwürfe für ein Kultur- und Kongresszentrum in Ascona, mit dem monumentalen Siegerprojekt von Caruso St John ist er gar nicht einverstand. Besprochen werden Peter Zadeks Inszenierung von Shelagh Delaneys "Bitterer Honig" (die für Barbara Villiger Heilig "trotz honigsüßen Einlagen bis zum bitteren Schluss nicht klärt, weshalb um alles in der Welt das Stück noch gespielt werden muss") und Gretrys Oper "Guillaume Tell" in Biel.

TAZ, 13.02.2006

Euphorisch berichtet Katrin Bettina Müller von Luk Percevals Inszenierung der "Maria Stuart" an der Berliner Schaubühne: "Selten lauert man so gespannt auf jeden neuen Satz; selten bewundert man so die taktische Intelligenz in der geschliffenen Sprache der Lords und der beiden Königinnen. Friedrich Schiller glänzt plötzlich sophisticated, als hätte er sich für sein englisches Königsdrama tatsächlich angelsächsischen Witz einverleibt: Man fühlt und genießt, wie in den Figuren persönliche Gefühle und politisches Kalkül ständig umeinander schleichen, wie sie mit jedem Satz schon dessen Wirkung vorauszuberechnen scheinen, wie ironische Bissigkeit die Rede schärft."

Weiteres: "Wer Meinungsfreiheit will, muss auch Intoleranz zulassen, das ist der Punkt", stellt Dirk Knipphals klar, der die allenthalben geforderte Verbindung von "Meinungsfreiheit und Toleranz" für eine Falle hält. Besprochen wird Niki Caros' Verfilmung des ersten Sammelklageprozesses wegen sexueller Belästigung "Kaltes Licht" mit Charlize Theron.

Auf den Berlinale-Seiten stellt Susanne Messmer die koreanischen Beiträge im Forum vor. Stefan Reinecke spricht mit Andres Veiel über seinen Film "Der Kick", rechte Gewalt und die kläglichen Reste der Zivilgesellschaft. Besprochen werden Terrence Malicks Pocahontas-Märchen "The New World", Romuald Karmakars Film "Hamburger Lektionen", in dem Manfred Zapatka zwei Vorträge des Islamisten Mohammed Fazazi nachstellt, Michel Gondrys "verspielter, manchmal auch voll trauriger" Film "The Science of Sleep", Robert Altmans Minnesota-Milieustuidie "A Prairie Home Companion" und Thomas Arslans Reise in die Türkei "Aus der Ferne".

Und hier noch TOM.

Welt, 13.02.2006

Peter Zadek hat am kleinen Sankt-Pauli-Theater Shelagh Delaneys Stück "Der bittere Honig" mit Eva Mattes und Julia Jentsch inszeniert. Und Stefan Grund schreibt: "Hätte der eine oder andere Staatstheater-Intendant im Saale sich bei der Premiere von 'Der bittere Honig' im eigenen Hinterteil verbissen, wir hätten ihn gut verstanden. Den großen Häusern muss es ja bitter aufstoßen. Ausgerechnet im kleinen, überhaupt nicht subventionierten Sankt-Pauli-Theater auf der Reeperbahn führt Regie-Altmeister Peter Zadek gemeinsam mit seinen Schauspielstars vor, wie fesselnd psychologisches, wie betörend Schauspielertheater heute sein kann."

Weitere Artikel: Sehr beeindruckt zeigt sich Hanns-Georg Rodek in seiner Berlinale-Kolumne von Romuald Karmakars "Hamburger Lektionen". Karmakar lässt hier den Schauspieler Manfred Zapatka eine Predigt des Hamburger Islamisten Mohammed Fazaz verlesen. Peter Zander findet, dass Oskar Roehler am Zynismus von Houellebecqs Roman "Elementarteilchen" gescheitert ist und klagt über eine "kitschige Musiksoße, die den provokanten Ton radikal in eine andere Richtung biegt, hin zum Melodram". Wieland Freund liest Kurt Vonneguts Roman "Mann ohne Land" über die Bombardierung Dresdens. Besprochen wird zudem "Maria Stuart" in Luk Percevals Inszenierung an der Schaubühne Berlin.

Tagesspiegel, 13.02.2006

Die dänische Regisseurin Annette K. Olesen, die ihren Film "1:1" in einer Sozialsiedlung vor den Toren Kopenhagens angesiedelt hat, fordert gegenüber Jan Schulz-Ojala von ihren Mitbürgern mehr Realitätsbewusstsein. "Die Einwanderung ist ja relativ neu in Dänemark. Vor 30 Jahren hätte sich jeder nach einem Schwarzem umgedreht. Dann kamen viele - aus der Türkei, aus Pakistan und schließlich Araber. Aber wir Dänen sind eher scheu und nicht neugierig, jedenfalls nicht im guten Sinne. Wir begreifen bis heute nicht, dass wir eine multiethnische Gesellschaft sind und es keinen Weg zurück gibt."

SZ, 13.02.2006

Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer setzt die Reihe über die Lage des Kinos in Deutschland fort. In der Krise der Hollywood-Produktionen erkennt sie auch eine Chance: "Der wesentlichste Punkt für den Neubeginn des deutschen Kinos aber sind seine Filme. Die Entzauberung der Allmacht der auf ein weltweites Publikum durchgestylten Hollywoodstoffe bringt neue Freiheiten und Chancen für eigene Produkte. Der Kern des Kinopublikums nämlich liebt lokale Produktionen, wiedererkennbare Stars, Themen, die eigene Identifikationen ermöglichen."

Franz-Xaver Kroetz, Münchner Original und einst meist gespielter deutscher Theaterautor kehrt aus dem Exil in Teneriffa nach Deutschland heim, inszeniert wieder und hat auch ein Stück geschrieben, das er demnächst zur Aufführung bringt. Darin geht's, so Kroetz im Interview mit Christine Dössel "um fünf vor dem Fernseher verreckende, onanierende, fressende Männer. Und um drei Frauen, die sich gegen das TV-Programm wehren, aber auch krepieren."

Weitere Artikel: Johannes Willms meldet, dass der wieder aufgefundene erste und bisher nie publizierte Roman Romain Garys auf Geheiß des Sohns und Erben weiterhin nicht erscheinen darf. Stefan Koldehoff berichet über Zeitungsenten zu den rätselhaften Diebstählen britischer Großskulpturen. Christian Kortmann bucht für die Reihe "Heimatkunde" Wettbüros.

In ihrer Berlinale-Kolumne bekennt Susan Vahabzadeh ihre Begeisterung über Oskar Roehlers "Elementarteilchen"-Verfilmung: "Roehler hat's geschafft: Er hat gehalten, was alle sich versprochen haben. Irgendwie ist er beim Betreten des exklusiven Mainstream-Kino-Clubs um die Zahlung der Aufnahmegebühr herumgekommen. 'Elementarteilchen' hat einen eher lahmen Wettbewerbsbeginn aufgepeppt, macht seine Produzenten glücklich und ist doch kein Verrat an den Filmen, die Roehler vorher gemacht hat. Das ist doch geradezu wegweisend fürs deutsche Kino." Anerkennung auch für Romuald Karmakars "Hamburger Lektionen".

Besprochen werden Kaija Saariahos Oper "L'amour de loin" in der Inszenierung Peter Sellars' auf DVD, eine Werkschau von Georg Baselitz im dänischen Louisiana-Museum, Luk Percevals Inszienerung von Schillers "Maria Stuart" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter einige Kunstbände mit Frauenakten von Picasso, Schiele und Klimt.

FR, 13.02.2006

Hundertprozentig überzeugend findet Daniel Kothenschulte in seiner Berlinale-Kolumne den von Moritz Bleibtreu dargestellten Bruno in Oskar Roehlers Houellebecq-Verfilmung nicht: "Noch immer sieht man gerne dabei zu, wie ein derart attraktiver Mann so viel Pech bei Frauen haben soll, nur eines will Roehler nicht gelingen: Dieser Figur die für Houellebecq so entscheidende zynische Ader einzuziehen, einen Widerhaken, der es verhindern würde, dass Bruno zum Darling des Films wird."

Weitere Artikel: Jamal Tuschik resümiert eine Frankfurter Tagung über Migration und Integration. Und in Times mager rät Elke Buhr mit Rücksicht auf die Life-Work-Balance zum Mittagsschlaf im Büro. Besprochen wird "Macbeth" in der Neubearbeitung von Jens Groß am Schauspiel Frankfurt.