Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2006. Die Kommentare zu den Oscars sind irgendwie lau, nur die Welt ist richtig zufrieden. Die Welt hat außerdem über türkische Zeitungen in Deutschland recherchiert. Und in der SZ staunt Oliver Storz über den britischen Soldaten im "Dresden"-Spektakel, der mit Bauchschuss über die Kriegsschuldfrage diskutiert, während er mit seinem Mädel tanzt.

SZ, 07.03.2006

Susan Vahabzadeh ist nicht recht zufrieden mit den Oscars: "Die Academy sei modern geworden, hat es geheißen, als sie Ende Januar eine Nominierungsliste für die 78. Oscarverleihung herausgab, die kontroverser und politischer war als irgendeine je zuvor. Gestern Nacht nun wurden Entscheidungen präsentiert, die so lahm und unpolitisch sind, wie es aufgrund dieser Liste überhaupt möglich war." Fritz Göttler würdigt nochmal Paul Haggis' "Virtuosenstück" "L. A. Crash", der überraschenderweise siegte. Und Michael Bitala verzeichnet Jubel in Südafrika über die Oscar-Entscheidung für den Film "Tsotsi".

Weitere Artikel: Wolfgang Schreiber kommentiert das Starwesen in der Klassischen Musik, mit dem man versucht, rückläufigen Tendenzen im Markt zu begegnen. Alexander Menden musste in London mit ansehen, wie Eric Hobsbawm und Jacques Attali während einer Diskussion versuchten, Karl Marx wiederzubeleben. Christina Maria Berr glossiert den Umstand, dass die vielgefragte Autorin Margaret Atwood einen Signierstift für Leseabende erfand und mit eigener Firma jetzt vertreibt.

Besprochen werden ein Konzert der Arctic Monkeys in Köln ("Die Arctic Monkeys sind die neue Version des Modells Englische-Jungs-aus-Eckkneipen-und-Vorstadtclubs. Die Hartz-IVer aus Sheffield, die nicht jammern, sondern Spaß haben, sich etwas raufgeschafft haben und wissen, wo sie herkommen. Insofern die perfekte Ergänzung zu den gestylten, ironischen, camp-artigen Maximo Park und Franz Ferdinand", schreibt ein hingerissener Helge Malchow, der sonst bei Kiepenheuer und Witsch Bücher macht), außerdem zwei Kinderopern von Klaus Lang und Martin Smolka in Nürnberg, ein Giacinto Scelsi-Konzert unter Hans Zender in München, Jorinde Dröses Hamburger Inszenierung des "Sommernachtstraums", Thomas Ostermeiers Inszenierung von Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" an der Berliner Schaubühne, Philip Taylors Ballettabend "Lebenslinien" am Münchner Gärtnerplatztheater und Bücher, darunter das bisher nur auf Englisch erschienene "The Fall of Rome and the End of Civilization" von Bryan Ward-Perkins.

Auf der Medienseite bringt Michael Jürgs ein süffiges und einigermaßen informationsfreies Porträt über den Springer-Chef Mathias Döpfner. Und der Regisseur Oliver Storz staunt in seiner Besprechung des "Dresden"-Spektakels vor allem über die Figur des britischen Soldaten: "Der Mann hat einen Bauchschuss (für den Normalsterblichen der fast sichere, qualvolle Tod), übersteht jedoch mühelos den Fußmarsch in einem Flüchtlingstreck, den Hundert-Meter-Sprint auf der Flucht vor einer Wehrmachts-Streife, er klettert über Dächer und erscheint auf der Verlobungsfeier der Geliebten als deutscher Offizier verkleidet, und er tanzt, die Kriegsschuldfrage diskutierend, mit seinem Mädel."

Auf der Wissen-Seite lesen wir einen Essay des Zukunftsforschers Jeremy Rifkin über neue Energien.

FR, 07.03.2006

Christian Thomas gibt zwar zu, dass Günter Behnischs Neubau für die Akademie der Künste am Pariser Platz "erhebliche funktionale Mängel" aufweist, wie der Rechtsanwalt Peter Raue am Samstag im Tagesspiegel klagte. Aber als Architektur sei das eben "so etwas wie eine Provokation auf dem Niveau der klassischen Moderne".

Daniel Kothenschulte lässt die Oscarverleihung Revue passieren. Christian Schlüter schreibt zum Siebzigsten von Bazon Brock. Im Times Mager schüttelt Ursula März den Kopf über den Spiegel, der in seiner aktuellen Ausgabe Werbung für Frank Schirrmachers neues Buch "Minimum" macht - "in Form eines Essays und eines Interviews (mit dem Autor), denen im Protektionsfuror distanzlos serviler Beipflichtung das Gefühl für Banalität und Peinlichkeit erstaunlich weit verloren ging".

Besprochen werden Thomas Ostermeiers Inszenierung von Eugene O'Neills "Trauer muss Elektra tragen" an der Berliner Schaubühne ("Wir haben alles gesehen. Und können keinen Grund dafür entdecken", seufzt Nicolaus Merck), die Aufführung von Händels Oper "Lotario" am Badischen Staatstheater Karlsruhe, und ein "Torquato Tasso" am Wiener Burgtheater.

NZZ, 07.03.2006

Samuel Herzog hat die "Ars 06" im Kiasma-Museum von Helsinki besucht, eine Art Dokumenta des Nordens. "Auf Paradiese mit mehr oder weniger gut eingefetteten Rutschbahnen in die Hölle trifft man an allen Ecken und Enden dieser Schau. Wir finden sie in den Schneekugeln von Walter Martin und Paloma Munoz, in den Ku-Klux-Klan-Idyllen von Kent Henricksen aus den USA, am interaktiven Zen-Weiher von Shu-Min Lin aus Taiwan, in den Zahlenhexereien von Charles Sandison aus Finnland, in den Malereien der Österreicher Muntean/Rosenblum und in dem bizarren Videogemälde 'In Orgia' von Lars Nilsson aus Schweden."

Weiteres: George Waser berichtet aus London über den Plagiatsprozess gegen den Thriller-Autor Dan Brown. Besprochen werden Johan Simons Inszenierung nach J.M. Coetzees "Foe" an den Münchner Kammerspielen, Amin Maaloufs Roman "Die Spur des Patriarchen", Natasha Radojcics Auswanderer-Roman "Du musst nicht hier leben" (hier eine Leseprobe) und Peter Adolphsens Erzählung "Brummstein" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 07.03.2006

Die Philosophin Isolde Charim staunt über die "unfassbare Karriere des Begriffs des religiösen Empfindens in den letzten Wochen". Petra Kohse erzählt in der Reihe über die neue Bürgerlichkeit, wie man sich als freie Journalistin mit zwei Kindern durchschlägt. Michael Rutschky schreibt über "h5n1, traumlogik etc."

Besprochen werden ein Konzert des Rappers Kanye West in Berlin, die erste Einzelausstellung von Clemens von Wedemeyer in Köln und ein neuer Roman von Roddie Doyle.

Schließlich Tom.

Welt, 07.03.2006

Mariam Lau hat sich im südhessischen Mörfelden-Walldorf umgetan, hier haben die Deutschlandredaktionen der großen türkischen Medien ihren Sitz. Nach Sichtung der einschlägigen Leitartikel stellt sie fest: "Weder im Karikaturenstreit noch in der Debatte um Deutsch auf den Schulhöfen hat man die alten Fanfaren geblasen. Auch aus der Debatte um die Ehrenmorde, in der Hürriyet ursprünglich heftig gegen Autorinnen wie Seyran Ates gehetzt hatte, wurde gelernt: Seit elf Monaten läuft eine Kampagne des Blattes gegen häusliche Gewalt. Gleichwohl klingt es in einem ganzseitigen Beitrag des Kolumnisten Oktay Eksi zum Thema 'Deutschgebot' so: 'Unsere europäischen Freunde, die in Bezug auf 'Toleranz' immer wieder versuchen, uns eines Besseren zu belehren. Genau über sie sprechen wir. Über unsere Freunde, die mit der Argumentation 'Eure Kultur ist anders als unsere', vor allem Türken, aber auch alle anderen Menschen diskriminieren, die nicht zu ihnen gehören.'"

Hanns-Georg Rodek ist völlig einverstanden mit den am Sonntag vergebenen Oscars, besonders mit dem für "L.A. Crash" als bestem Film: "Nahezu einzigartig ist sein Mut, Dinge beim Namen zu nennen, die von zwei Jahrzehnten politischer Korrektheit unter den Teppich gezwungen wurden." Auch Holger Kreitling singt eine Lobeshymne auf Paul Haggis, den Autor und Regisseur von "L.A. Crash". Bei der Oscar-Verleihung soll er in den Saal gerufen haben: "Kunst ist kein Spiegel, sondern ein Hammer". Und im Interview mit Peter Zander steckt Ang Lee lässig weg, dass er "nur" drei von acht möglichen Oscars für "Brokeback Mountain" bekommen hat.

Weiteres: Johannes Wetzel berichtet vom neuen Schwung in der Pariser Museumslandschaft. Besprochen werden Volker Löschs Inszenierung eines "Bürger-Faust 21" in Stuttgart und Kanye Wests Tourneestart in Berlin. Gemeldet wird dass Peter Sloterdijk im Focus den deutschen Feuilletons in Sachen Kulturkampf "exzessive Panikbereitschaft" vorgeworfen hat.

FAZ, 07.03.2006

"Vieles über einen Film zu wissen hat selten so wenig ersetzt, selber zu schauen, wie hier." Ang Lees "Brokeback Mountain" muss man gesehen haben, meint Verena Lueken damit, und sei es nur wegen des Cowboys mit dem hellen Hut. "Es ist Heath Ledger in der Rolle des schweigsamen Ennis, der den Film mit seiner ernsten Art beherrscht. Wie er seine Liebe zu Jack in sich verschließt und lange versucht, seine Familie vor sich selbst zu schützen; mit welch existenzieller Gier er nach Jahren ohne Lebenszeichen von Jack diesen, als er endlich auftaucht, vom Hof in eine Seitengasse zieht, wo seine Frau sie nicht sehen kann; wie er Rotz und Wasser heult, weil sie keine Zukunft haben, und wie er gleichzeitig den traurigsten Satz des Jahres sagt - 'If you can't fix it, Jack, you gotta stand it' - und wie er am Ende mit zwei blutigen Hemden und einer Postkarte in einem Wohnwagen steht und auf die Berge blickt - das ist von so unendlicher Sehnsucht und so fern jeder Attitüde, dass es alle Preise verdient, die Ledger für diese Rolle gewonnen hat, auch wenn kein Oscar dabei war."

Weiteres: Michael Althen fragt sich im Resümee der seiner Meinung nach überwiegend überraschungslosen Oscars, ob die Oscar-Jury bei all den Kritikerfilmen nicht das Publikum aus den Augen verloren hat. Nachdem Joseph Hanimann die Neuerscheinungen der französischen Literatur gesichtet hat, ruft er ein Comeback des Realismus aus. Der Göttinger Jurist Christoph Möllers plädiert für eine stärkere Kompetenztrennung von Bundestag und Bundesregierung in Sachen Rechtsverordnung. Andreas Rosenfelder war auf einer Germanistentagung zur literarischen Moderne in Freiburg.

Im Medienteil klagt Michael Hanfeld über die Selbstherrlichkeit des ZDF, das jetzt beim Bundesverfassungsgericht gegen die aus seiner Sicht zu niedrige Gebührenerhöhung klagt. Der öffentliche Rundfunk in den USA muss sogar mit massiven Kürzungen rechnen, berichtet Nina Rehfeld. Die Sender werden in den kommenden beiden Jahren 150 Millionen Dollar weniger Zuschüsse aus Washington bekommen. Die Filmseite befasst sich mit den Filmografien von Philipp Seymour Hoffman und Ang Lee sowie Robert Altmans Fernseh-Anthologie "Gun Kaliber 45".

Auf der letzten Seite wird ein Auszug aus Peter Zadeks zweitem Memoirenband "Die heißen Jahre" abgedruckt, in dem Zadek seine Lieblingsfilme aufzählt. Jürg Altwegg stellt Renaud Donnedieu de Vabres vor, der wegen eines umstrittenen Gesetzesvorhabens zu Autorenrechten im Internet wohl nicht mehr lange Frankreichs Kulturminister ist. Michael Gassmann schreibt über die Kino-Orgel der Firma Welte aus dem abrissgefährdeten Kino Metropol in Bonn.

Besprochen werden die Ausstellung "Critical Space" der Künstlerin Andrea Zittel im New Yorker New Museum of Contemporary Art, die Uraufführung von Valere Novarinas "Brief an die Schauspieler" in Düsseldorf, Klaus Weises "eindringliche" Version von Paul Hindemiths Oper "Cardillac" am Theater Bonn, Auftritte von Liza Minnelli in Frankfurt und des Rappers Kanye West in Berlin, Holly Williams' Album "The Ones We Never Knew", und als einziges Buch Ellen Feldmans Roman "Der Junge, der Anne Frank liebte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).