Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2006. In der Welt staunt Wolf Biermann über Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Film "Das Leben der Anderen", der es schafft, der "gesichtslosen Kanaille" ein Gesicht zu geben. Die FAZ lobt die Herzenskälte des Films. Der Tagesspiegel findet ihn hingegen "eifrig auf die Note Eins hin" inszeniert. In der taz spricht der türkische Pädagoge Ahmet Toprak über das schwache Geschlecht der Türkei: die Männer. In der SZ informiert ein weißrussischer Student über die Proteste in Minsk.

Welt, 22.03.2006

Wolf Biermann hat sich zusammen mit ein paar Freunden, "manche von uns schmerzgeprüfte Knastkenner des Geschehens", Florian Henckel von Donnersmarcks Stasifilm "Das Leben der Anderen" angeguckt und ist baff: Dieser junge Westschnösel hat es geschafft: Die "gesichtslosen Kanaillen" aus seiner Stasiakte bekommen Gesichter, "in denen ich nun lesen kann. Lohr und Reuter waren jahrelang im Zentralen Operativen Vorgang (ZOV) 'Lyriker' damit beschäftigt, mich - so chemisch klingt der terminus technicus im Stasijargon - systematisch zu 'zersetzen'. Zwei von den etwa 20 Maßnahmen stehen so da, mit beiden Stasi-Zeigefingern auf der Dienstschreibmaschine in die lange Liste getippt: 'Zerstörung aller Liebes- und Freundschaftsbeziehungen'. Eine andere: 'Falsche medizinische Behandlung'... In diesem Film nun sah ich, freilich als Kunstfigur verfremdet, zum ersten Mal solche Phantome als lebendige Menschen, also auch in ihrem inneren Widerspruch. Die Gespenster treten aus dem Schatten. Manchmal hat das Kunstwerk mehr dokumentarische Beweiskraft als die Dokumente, deren Wahrheit angezweifelt wird - von den Tätern sowieso, aber schmerzhafter noch von den bald schon gelangweilten Zuschauern."

Im Interview spricht der Leipziger Buchpreisgewinner Ilija Trojanow über den Helden seines letzten Romans, den britischen Diplomaten und Entdecker Richard Francis Burton, und den Islam. Auf die Frage, ob Burton wie er, Trojanow, zum Islam konvertiert sei, antwortet Trojanow: "Nein, das bin ich nicht, das ist eine extrem leidige Frage, weil die Menschen so konditioniert sind, dass sie immer nur in Schwarz oder Weiß denken können. Deshalb wird diese Frage auch im Fall Burtons noch nach 150 Jahren diskutiert. Man kann nur konvertieren, wenn man eine Ideologie ganz verlässt und eine neue ganz annimmt. Wenn man aber nicht ideologisch, sondern inhaltlich und spirituell denkt, am Reichtum partizipieren will und eine Affinität zu dem verspürt, was man im Islam Sufismus nennt, dann kann man auch nicht konvertieren."

Weitere Artikel: Thomas Kielinger berichtet über die letzten Verhandlungstage im Dan-Brown-Prozess. DW meldet, dass der Berliner Admiralspalast am 11. August mit der "Dreigroschenoper" wiedereröffnet werden soll. Klaus Maria Brandauer inszeniert, Campino gibt den Mackie Messer. Peter Dittmar berichtet von einem Buch des Florentiner Archivars Andrea Manetti, der behauptet, Michelangelo sei nicht in Caprese, sondern im Castello von Chiusi Nuovo geboren worden. Boris Kalnoky stellt ein Buch des türkischen Historikers Cem Özgönül zum Massaker an den Armeniern vor, das bei deutschen Wissenschaftlern heftigen Widerspruch ausgelöst hat. Heute vor 200 Jahren bewilligte das britische Parlament das erste Patent auf die maschinelle Herstellung von Furnieren, erinnert Michael Stürmer. Kerstin Strecker trauert um den verstorbenen Kater Humphrey, Hauskater von drei britischen Premierministern. Und Iris Alanyali meint über Feridun Zaimoglus "Schwarze Jungfrauen", die Neco Celik am Hau3 inszeniert hat: "Das sind keine Neomosleminnen, das sind Neofeministinnen".

Berliner Zeitung, 22.03.2006

Okay, aber nicht sensationell findet Anke Westphal "Das Leben der Anderen": "Tatsächlich hat sich Florian Henckel von Donnersmarck große Mühe gegeben, sich maximal in den Überwachungsalltag in der DDR einzufühlen: in das heikle Verhältnis zwischen Macht und Ohnmacht, Politik und Kunst, Observierern und Observierten, das so viele gebrochene Biografien verschuldet hat. Und da der junge Regisseur in Westdeutschland aufwuchs, wird dem Film dieses Bemühen um Komplexität auch gleich als besonders große Leistung angerechnet. Das sind so mediale Selbstläufer. Doch die Frage ist, warum 'Das Leben der Anderen' die Verfolgung einer eigentlich linientreuen Figur mit dem Triebstau eines fetten Bonzen motiviert, wo der Film doch auch von einer gesellschaftlichen Verfasstheit sprechen will? Man könnte antworten: Natürlich um die ganze Willkür des Terrorregimes zu zeigen! Und es wird nicht wenige geben, denen das einleuchtet. Aber es ist wohlfeil."

Tagesspiegel, 22.03.2006

Einen neuen Trend macht Jan Schulz-Ojala im deutschen Kino aus: die "großen und kleinen Täter als Opfer" zu inszenieren: "Der Welthit 'Der Untergang' über die letzten Tage im Führerbunker und das radikale Vergewaltiger-Psychogramm 'Der freie Wille', das voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte ins Kino kommt: An der Kasse mag sie vieles trennen. Gemeinsam aber ist ihnen der Furor, menschliche Bestien melo-dramatisch zu überhöhen, und - schlimmer noch - das eisige Desinteresse an den Opfern ihrer Bestialität. Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Bewältigungsfilm 'Das Leben der Anderen' wird man die Indifferenz gegenüber den Opfern nicht geradlinig vorwerfen können; schließlich bieten sie gewissermaßen das Wärmefutter einer observationstechnisch durchindustrialisierten, unerhört muffigen Diktatur. Das Hauptaugenmerk aber dieses in allen Zeugnisfächern eifrig auf die Note Eins hin inszenierten Erstlings gilt dem erst bösen, dann aber armen Stasi-Schwein Gerd Wiesler (Ulrich Mühe). Und seiner Läuterung zum 'guten Menschen'. Mit drei dramaturgischen Ausrufezeichen."

FAZ, 22.03.2006

Selten genug bekommt eine Filmkritik den Aufmacherplatz in der FAZ. Andreas Kilb schreibt tief beeindruckt über Florian Henckel von Donnersmarcks Stasi-Drama "Das Leben der Anderen": Er "hätte an moralischem Übereifer scheitern können. Aber der Film lässt sich Zeit, er beobachtet geduldig, wie die Konstellation, die er selbst aufgebaut hat, kippt, und fädelt dann die Katastrophe ein. Zu dieser Geduld gehört eine Herzenskälte, die bei Debütanten selten und bei lebensgeschichtlich Betroffenen noch seltener ist. Vielleicht ist es daher kein Zufall, dass von Donnersmarck aus Westdeutschland kommt, dass er in Berlin, Frankfurt und New York aufgewachsen ist. Ein ostdeutscher Regisseur wäre vermutlich weniger unschuldig und weniger neugierig an den Stoff herangegangen."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger glossiert eine Zeugenaussage Joschka Fischers zu sagenumwobenen Hausbesetzerzeiten. Eberhard Straub verfolgte eine von der Bundeszentrale für politische Bildung ausgerichtete Berliner Tagung über die Katholische Kirche in der Globalisierung. Dieter Bartetzko gratuliert Roger Whittacker zum Siebzigsten. Martin Otto assoziiert die Übernahme des Schering-Konzerns durch Merck irgendwie mit einem Dagobert-Duck-Comic. Wolfgang Sandner wirft einen Blick auf die kommende Saison in der Alten Oper Frankfurt. Frank Rexroth schreibt zum Tod des Historikers Ernst Schubert.

Auf der Medienseite zitiert Michael Hanfeld Medienberichte über die Frage, wer genau auf den berüchtigten Kapuzenbildern aus Abu Ghreib zu sehen ist - eine Frage, die bei Entschädigungsprozessen eine große Rolle spielen wird (salon.com hat die Fotos dokumentiert). Susanne Klingenstein hat einem Bostoner Symposion über die amerikanischen Präsidenten und die Kriege - vor allem in Vietnam und Irak - zugehört. Michael Hanfeld spekuliert, welcher Deutsche Jerome Clement demnächst als Arte-Präsident ablöst.

Für die letzte Seite besucht Hannes Hintermeier den deutschen Krimiautor Veit Heinichen in seiner geliebten Stadt Triest. Gina Thomas hörte den Schlussplädoyers im Londoner Plagiatsprozess gegen Dan Brown zu. Und Manfred Lindinger bereitet uns auf eines der spannendsten Sportereignisse des Jahres vor - die Fußballweltmeisterschaft für Roboter in Bremen im Juni.

Besprochen werden Marc-Aurel Floros' und Elke Heidenreichs Oper "Gala Gala" in Frankfurt, Werner Schwabs Stück "Volksvernichtung" in David Böschs Essener Inszenierung und eine Ausstellung mit Fotografien von Ursula Schulz-Dornburg in Köln.

NZZ, 22.03.2006

Die Schriftsteller Osteuropas sind gezwungenermaßen noch politisch, bemerkt Andreas Breitenstein. "Der Politik entkommt man als ukrainischer Autor dieser Tage schon wegen der bevorstehenden Wahlen vom 26. März nicht. Es war rührend zu sehen, wie bereitwillig die Autoren in Leipzig ihren literarischen Eigensinn zurückstellten und sich einspannen ließen als Kommentatoren des politischen Nahkampfs (die ostmitteleuropäischen Kollegen sind dieser Rolle längst müde geworden). Trotz Ernüchterung ist der Stolz auf die junge Demokratie nicht verflogen." Weißrussischen Autoren ist Breitenstein leider nicht begegnet.

Weiteres: Beim Pariser Salon du livre ist Bernard-Henri Levy schon zum siebten Mal Opfer eines Tortenattentats der Gruppe um den Belgier Noel Godin (Wikipedia) geworden, die ihrer Meinung nach zu selbstbewusste Prominente mit Sahne verziert, wie Marc Zitzmann berichtet.

Besprochen werden eine Schau mit Werken des Industriedesigners Konstantin Grcic im Münchner Haus der Kunst, und Bücher, darunter Roddy Doyles Roman "Jazztime" und Jürgen Schreibers Annäherung an Gerhard Richters Familie "Ein Maler aus Deutschland" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 22.03.2006

Im Meinungsteil spricht der Pädagoge und Autor Ahmet Toprak mit Daniel Bax über türkische Männer, die am Pascha-Komplex leiden und sich als das wahre "schwache Geschlecht" entpuppen: "Türkische Frauen machen öfter Abitur, schließen öfter die Realschule oder ein Studium ab. Das zeigt: Die Freiheiten, die man den Jungs gewährt, sind kontraproduktiv. Die Mädchen müssen sich ihre Freiheiten über die Bildung oft erst erkämpfen und früher Eigenverantwortung übernehmen."

Weiteres: Adrienne Goehler, derzeit Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds Berlin, plädiert in einem Auszug aus ihrem Buch "Verflüssigungen" dafür, neben der Lohnarbeit andere Formen der Arbeit anzuerkennen. Brigitte Werneburg kommentiert den Abbruch der umstrittenen Kunstaktion des Spaniers Santiago Sierra. In der zweiten taz wirbt der Leiter der französischen Nationalbibliothek Jean-Noël Jeanneney für eine europäische digitale Bibliothek.

Besprochen werden Florian Henckel von Donnersmarcks Spielfilmdebüt "Das Leben der Anderen", das Claus Löser wegen der "Vermischungen von behaupteter Geschichtsschreibung und ungehemmter Kolportage" scheitern sieht, und das als "schöne Spinnerei" bezeichnete Buch von Germar Grimsen und Sven Regener "Angulus Durus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

Spiegel Online, 22.03.2006

Nach Regisseur Steven Soderbergh will nun auch der Schauspieler Morgan Freeman seine nächsten Filme gleichzeitig im Netz, im Fernsehen und im Kino herausbringen, worüber die Kinobranche tief verstört ist, berichtet Nina Rehfeld: "Vor allem Kinobetreiber, verstärkt aber auch Regisseure fühlen sich durch die Verlagerung des Kinosaals ins Wohnzimmer oder auf den PC bedroht. Doch das von Internetpiraterie gebeutelte Hollywood, dessen Box-Office-Umsätze bereits im vierten Jahr in Folge sinken, hat es bislang versäumt, Strategien zum Umgang mit der Krise zu entwickeln und das Kino an veränderte, digitale Konsumgewohnheiten anzupassen."

FR, 22.03.2006

Abdel Mottaleb el Husseini skizziert auf der Medienseite die prekäre Situation der libanesischen Presse. "Bei der friedlichen Zedernrevolution spielte die Presse eine wichtige Rolle. Sie ging einen Schritt weiter und machte sich für die Aufklärung des Mordes an Al Hariri stark. Bekanntlich stehen höhere syrische und libanesische Offiziere im Verdacht, diesen Mord geplant und ausgeführt zu haben. Seitdem ist die libanesische Presse ins Visier der syrischen Diktatur geraten. Sie wird von den höchsten syrischen Regierungsstellen attackiert. Man fürchtet in Damaskus ihre destabilisierende Rolle."

Das Feuilleton: Ulf Jonak, Architekturtheoretiker an der Uni Siegen, fürchtet, der Neubau des Fachwerkquartiers in der Frankfurter City wird unprofessionell angegangen. Wer die tobende "Fachwerkdebatte" um die Innenstadtgestaltung verfolgen will, kann weitere Beiträge in einem Dossier nachlesen. Frank Keil weiß, dass die Planungen für das Maritime Museum in Hamburg derzeit auch wegen der Militärlastigkeit der Sammlung von Peter Tamm ins Stocken geraten sind. In Times mager erläutert Harry Nutt den "ersten soziologischen Hauptsatz", nach dem soziale Systeme und damit auch Deutschland nicht sterben können.

Besprochen werden die Ausstellung "Kino wie noch nie" in der Wiener Generali Foundation, die das Medium Film mit künstlerischen Mitteln untersucht, das neue Album der Gruppe Mudhoney und Bücher, darunter ein Band mit 100 Gedichten von Joseph Brodsky sowie Bernard-Henri Levys Porträt des modernen Amerika "American Vertigo" (mehr in unserer Bücherschau  heute ab 14 Uhr).

SZ, 22.03.2006

Ingo Petz lässt sich im Interview von einem weißrussischen Studenten berichten, wie es zur Zeit auf dem Minsker Oktoberplatz aussieht. "Die Stimmung war gut, sehr emotional. Auf der Demo waren vor allem Jugendliche, die schon lange für einen Wechsel kämpfen, weil sie keine Perspektive in diesem Land sehen. Sie haben längst keine Angst mehr, weil sie nichts zu verlieren haben. Ich habe auch mit jungen Esten, Georgiern und Ukrainern gesprochen, die angereist sind um uns zu unterstützen. Ein älterer Weißrusse, der bei der Stimmenauszählung dabei war, erzählte mir, Milinkiewitsch habe mindestens 30 Prozent der Stimmen bekommen. Deswegen ist er auf den Platz gekommen: Für die Wahrheit. Alle anderen saßen wohl zuhause vor dem Fernseher, wie üblich. Wichtig aber ist, dass man in Minsk sieht, dass es eine Demo gibt. Viele haben wohl verstanden, dass etwas nicht richtig ist in unserem Land. Sie sind demoralisiert, sie haben noch Angst. Aber vorbei fahrende Autos hupen. Fremde Menschen bringen Lebensmittel. Und so riskieren sie natürlich was. Das ist schon ein gutes Zeichen."

Weiteres: Für Gerhard Matzig geht es völlig in Ordnung, dass Thomas Manns jetzt fertig rekonstruierte Münchner Villa ein Privathaus bleibt und demnächst vom Deutschland-Chef einer amerikanischen Investmentbank bezogen wird: "Hätte die Öffentlichkeit etwas anderes gewollt, hätte sie den Preis dafür bezahlen müssen." Gustav Seibt informiert dazu über Thomas Manns Verhältnis zu München, der "eigentlich dummen Stadt". Ein neue Maßstäbe setzendes Werk der politischen Abrechnungsliteratur annonciert Johannes Willms: Franz-Olivier Giesberts "La Tragedie du President", dessen "ikonoklastischer Furor" gegen Jacques Chirac "nichts weniger ist als die moralische Empörung eines eingefleischten Liberalen".

Im Interview mit Thomas Bärnthaler spricht auf der Plattenseite Kritikerliebling Wayne Coyne von den Flaming Lips über die psychedelische Note seiner Musik: "Ich habe mir diese funkelnde, fantastische, drogengeschwängerte, unvorhersehbare Freakwelt erschaffen. Sie ist das Vehikel, um unsere Liebe, unsere Frustration und was uns sonst noch beschäftigt auszudrücken... Wir sind wie der Zauberer von Oz." Karl Bruckmeier präsentiert sein "Dreckiges Dutzend" neuer Platten.

Besprochen werden Spike Lees "gut durchdachter" Thriller "Inside Man" ("Nur sein Frauenbild, das wird von Film zu Film immer nuttiger und gestriger", stöhnt Susan Vahabzadeh), Marc-Aurel Floros' Oper über Gala Dali "Gala Gala", für die Elke Heidenreich das Libretto beigesteuert hat, und Bücher, darunter neue Bände von Siegfried Kracauers Schriften, Jörg Blechs Diagnose einer "Heillosen Medizin" und Dubravka Ugresic' Roman (hier eine Leseprobe) "Das Ministerium der Schmerzen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).