Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2006. In der SZ kritisiert Ingo Schulze den Mythos Dresden. Die NZZ lobt die Lust des Economist an der pointierten Analyse. Die taz verteidigt ehemalige Kritikerkollegen gegen die Kritik von Kritikerkollegen. Die FAZ porträtiert Thomas Flierl als engagierten Grübler, der ein Herz für die Opfer des Mauerfalls hat. Und Michel Wieviorka deutet die französischen Studentenproteste als Gegenteil von 68.

NZZ, 31.03.2006

Einem der begehrtesten Medienjobs widmet sich Christian Meier auf der Medienseite mit einem Porträt des britischen Economist. Dessen Chefredakteursposten wurde vergangene Woche an 43-jährige John Micklethwait vergeben und Meier schwärmt: "Anders als bei den meisten angloamerikanischen Medien gilt die Trennung von Meinung und Nachricht nicht allzu viel. Beim Economist zählt nicht der Autor - Autorenzeilen gibt es nicht -, sondern die Macht des Arguments, die Meinungsstärke, die Lust an der pointierten Analyse, verbunden mit einem trockenen, dabei eleganten Sprachstil."

Im Feuilleton plädiert Kardinal Karl Lehmann für einen interreligiösen Dialog, der sich nicht nur auf die Suche von gemeinsamen Schnittmengen beschränkt. Dominique von Burg besichtigt eine Ausstellung brasilianischer Gegenwartskunst in der Freiburger Kunsthalle Fri-Art. Den neuen Kulturkomplex Les Champs libres in Rennes sieht Marc Zitzmann als Wahrzeichen bretonischer Identität. Lilo Weber besucht eine Ausstellung über Kastratensänger in London.

Besprochen werden auf der Filmseite Detlev Bucks "wuchtiger Großstadtfilm "Knallhart", "Firewall" - Richard Loncraines Thriller mit Harrison Ford in der Hauptrolle und Roberto Begninis neuer Film "Der Tiger und der Schnee" (der "seinem ungleich bestechenderen Zwillingsbruder "La vita e bella" meuchlings seine einzigartige Wirkungskraft entzieht").

FR, 31.03.2006

Matthias Dell hält es für unmöglich, im Film Geschichte nachzuerzählen. "Der Rote Kakadu" oder "Das Leben der Anderen" - alles nur fade Versuche, die DDR mit Hollywoodmitteln zu verstehen. "Tatsächlich interessant ist an 'Das Leben der Anderen' etwas anderes als die scheinbare historische Glaubwürdigkeit. Der Film ist offensichtlich fasziniert von der Schönheit, die die Mangelwirtschaft der DDR produziert hat. Von der Leere der Straßen und dem melancholischen Grau verfallener Häuser, von der funktionalen Neubauwohung des Bürokraten und der selbst gebastelten Bürgerlichkeit des Dichterheims. In das zeitgenössische Design hat dieser berückend triste Minimalismus lange Einzug gehalten. Es wäre an der Zeit, ihn als Motiv für eine Auseinandersetzung mit der DDR im Kino zu erkennen, wo bis heute der lähmende Verdacht auf Ostalgie regiert."

Weiteres: In Times Mager zeigt sich Harry Nutt enttäuscht von Kulturstaatsminister Bernd Neumann. Besprochen wird das Soloalbum von Steely-Dan-Mitglied Donald Fagen.

Berliner Zeitung, 31.03.2006

Wolfgang Fuhrmann unterhält sich ausführlich mit Intendant und Chefdirigent der Komischen Oper Berlin, Andreas Homoki und Kirill Petrenko. Homoki verteidigt die Tradition des Hauses, alle Opern auf deutsch aufzuführen: "Der Verlust der Muttersprache beim Singen hat aus meiner Sicht dazu geführt, dass die Textverständlichkeit seit dem Beginn der Entwicklung zur Originalsprachlichkeit eklatant zurückgegangen ist. Sie wird schlicht nicht mehr eingefordert. Bei uns wird eine Aufführung mit schlechter Textverständlichkeit zu recht sofort kritisiert. Sie hat für mich bei meiner Regiearbeit mittlerweile Priorität. Bevor ich eine Szene probiere sage ich zu den Sängern: Jetzt singt das bitte, und meint auch, was ihr sagt, und projiziert den Inhalt."

Welt, 31.03.2006

Die Nationalstaaten werden im Zeitalter der Globalisierung immer unbedeutender, meint der Managerberater Kenichi Ohmae im Forum, Gewinner sind die Regionen. "Die Vorstellung vom Regionalstaat als Ort der Prosperität ist keineswegs neu. Venedig entstand aus einem Regionalstaat, der sich im späten Mittelalter zu einem Reich auswuchs. Italien war übersät von solchen Zentren: Sie waren die Wiegen der Renaissance und anderer Beiträge zur Weltkultur, wie beispielsweise der doppelten Buchführung. Im Norden Europas gab es die Hanse. Zentren wie Riga, Tallinn oder Danzig bildeten die Regionalstaaten ihrer Zeit. Sie suchten ihr Glück in der Außenwelt und nicht an den Futtertrögen einer Zentralregierung."

Im Kulturteil zeigt sich Manuel Brug unzufrieden mit der Wahl Elmar Weingartens zum neuen Kurator des Hauptstadtkulturfonds: "es geht um einen 64 Jahre alten Mann, der für alles andere steht als Aufbruch, Optimismus oder Innovation". Dankwart Guratzsch berichtet über die Feierlichkeiten in Dresden zum 800. Geburtstag. Berthold Seewald denkt über die Folgen des Krimkriegs nach, der vor 150 Jahren beendet wurde. Gerhard Gnauck beschreibt, wie unterschiedlich sich Ost- und Westukrainer an ihre Geschichte erinnern: Im Osten errichtete man ein Denkmal für die Tschekisten, im Westen eine Gedenkstätte für die "Division Galizien", die im Zweiten Weltkrieg zusammen mit der Waffen-SS gegen die Rote Armee kämpfte. Karl Prümm würdigt den Direktor des Filmmuseums Berlin und der Stiftung Deutsche Kinemathek Hans Helmut Prinzler, der in den Ruhestand geht. Andrea Seibel erzählt von der Beerdigung eines Wirts in Kreuzberg, der sich das Leben genommen hat. Josef Engels schreibt zum 80. Geburtstag des Tenorsaxophonisten Max Greger.

Besprochen werden eine Ausstellung zu 100 Jahre österreichische Kunst in der Sammlung Essl und eine CD von Calexico.

TAZ, 31.03.2006

Gerrit Bartels nimmt den FAS-Redakteur und früheren taz-Kollegen Volker Weidermann gegen die Kritiker von SZ und Zeit in Schutz, die ihn für seine kurze Geschichte der Literatur "Lichtjahre" beim Literarischen Colloquium in die Mangel genommen haben: "Offensichtlich war bei dieser 'Buchvorstellung', dass hier drei ältere Literaturkritiker, zwei Fünfzigerjahrgänge, ein Vierzigerjahrgang, dem 1969 geborenen Weidermann eine Abreibung verpassen wollten; dass hier einer, der in seinem taubengrauen Anzug und einem schönen fliederfarbenen Hemd nicht wie ein Punkrocker aussah, anscheinend das Establishment mit seinem Buch punkrockmäßig herausgefordert hatte."

Daniel Bax stellt die Ergebnisse einer Umfrage vor, in der die Körber-Stiftung Stimmungsbilder in der Türkei und Deutschland untersuchte: "Dass viele Deutsche ein klares Bild von der Türkei haben, das auf touristischen Erfahrungen und einer schlechten Meinung über Politik und Gesellschaft des Landes fußt, kann ebenso wenig verwundern wie die Tatsache, dass die meisten Türken nur ein schwaches Bild von Deutschland haben".

Katrin Bettina Müller meldet, dass Elmar Weingarten als neuer Kurator des Hauptstadtkulturfonds Adrienne Göhler nachfolgen wird. Besprochen werden die HipHop-Compilations "Big Apple Rappin'" und "Cellulloid Years".

Auf den vorderen Seite findet die Aufregung um die Neuköllner Rütli-Schule ihren Niederschlag, deren Lehrer die Auflösung der Schule gefordert hatten, weil sie der Probleme und Gewalt nicht mehr Herr werden konnten. "Hauptschulen sind fürn Arsch" titelt die Zeitung und dokumentiert den Brief an den Senat: "Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen."

Und Tom.

FAZ, 31.03.2006

Mechthild Küpper porträtiert den Berliner PDS-Kultursenator Thomas Flierl, der jüngst durch sein Verständnis für Opfer des Mauerfalls (wie zum Beispiel ehemalige Stasi-Mitarbeiter) auffiel: "Flierl gehört der DDR-Aristokratie an, sein Vater ist der populäre Architekturhistoriker Bruno Flierl; seine Herkunft hat mindestens so viel mit seiner Berufung zum Senator zu tun wie seine Qualifikation. Zum anderen kultiviert Flierl die gedeckten Farben und leisen Töne mit einer solchen Hingabe, dass er als Karikatur eines DDR-Intellektuellen auftreten könnte. Diese engagierten Grübler mahnen ... am liebsten dann ein 'differenzierteres Geschichtsbild' an, wenn historische Verbrechen der eigenen Seite zu verhandeln sind."

Weitere Artikel: Auf Seite 1 des politischen Teils kommentiert Christian Schwägerl den verzweifelten Hilferuf der von Gewalt geplagten Neuköllner Rütli-Schule. In der Leitglosse freut sich Lorenz Jäger, dass der Humorist Harald Schmidt in seiner Sendung eine Kassette mit Cembalo-Sonaten von Scarlatti anpries. Eberhard Rathgeb meldet, dass der Hamburger Senat den hinteren Gebäudeteil des Hamburger Schauspielhauses verkaufen will - allerdings soll das Haus die Räumlichkeiten noch fünfzig Jahre lang mietfrei nutzen dürfen. Dieter Bartetzko freut sich über Nachbauten von Brückenmühlen in Frankfurt, die an die Existenz der längst demolierten Alten Brücke erinnern sollen. Eleonore Büning meldet, dass Hans-Joachim Frey ab 2007/08 das Bremer Theater leiten soll. In der Reihe über Leitsprachen schildert Paul Ingendaay die Lage des Spanischen, das nach außen auftrumpft und nach innen von Regionalsprachen bedrängt wird. Kerstin Holm berichtet, dass in Russland zwei Spielfilme über das Schicksal deutscher Kriegsgefangener gedreht werden. Der Juraprofessor Christoph Möllers freut sich, dass Bertelsmann eine internationale Klage wegen Verletzung des Urheberrechts abwenden konnte. Andreas Kilb traf in Berlin den ehemaligen Sicherheitsberater der amerikanischen Regierung Zbigniew Brzezinski. Günter Mick gratuliert dem Fotografen Lutz Kleinhaus zum Achtzigsten. Timo John besucht ein puristisches Wohn- und Arbeitshaus des Berliner Architekten Thomas Bendel im oberschwäbischen Dorf Gaisbeuren. Andreas Rossmann stellt ein Künstleraustauschprogramm für Deutsche und Türken vor.

Au der Medienseite porträtiert Stefan Niggemeier die "Fernsehentdeckung des Jahres" in Gestalt der Schauspielerin Nina Kunzendorf, die mit Grimme-Preisen überschüttet wird. Und Gerd Gregor Feth freut sich über die Erfolge des populären Radiosenders Antenne Bayern.

Auf der letzten Seite unterhalten sich Alexandra Kemmerer und Heinrich Wefing mit dem Staatsrechtler Laurence Tribe, der fordert, dass George W. Bush "für sein gravierendes Fehlverhalten, das eine Amtsenthebung rechtfertigen würde, zur Verantwortung gezogen werden" muss. Peter Richter stellt eine Aktion des polnischen Künstlers Pawel Althamer vor, der während der Berlin-Biennale einem vom Abschiebung bedrohten Türken ein Bleiberecht erkämpfen will. Und Julia Bähr porträtiert den Blur- und Gorillaz-Musiker Damon Albarn, der für die Berliner Staatsoper in der nächsten Saison ein Spektakel vorbereitet.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten Jonathan Monks in Hannover, eine Ausstellung über die Anfänge der Porträtkunst in Basel und Sachbücher, darunter eine neues Handbuch der deutsch-französischen Geschichte.

SZ, 31.03.2006

"Was ist das für ein Geist, der aus Dresden ein Märchen machen will, und es damit der Geschichts- und Gesichtslosigkeit preisgibt?" fragt der Schriftsteller Ingo Schulze, einst ein begeisterter Dresdner, in einem Artikel zur bevorstehenden 800-Jahr-Feier der Stadt: "Die offizielle Propaganda, die vorgab, die Städte schöner denn je wieder aufzubauen, klang in Dresden einfach nur zynisch. Merkwürdigerweise aber, so meine Vermutung, war es gerade das Ungenügen an der eigenen Gegenwart, die Glanz und Zerstörung Dresdens einen mythischen Aspekt verliehen. Denn das Schicksal der Stadt schien besiegelt. Die Nachkriegsbauten hatten nichts mehr mit Dresden zu tun, das war einfach nur sozialistische Bezirkshauptstadt."

Im Interview mit Marcus Rothe erklärt der französische Soziologe Michel Wieviorka, warum die französischen Studenten zu Recht so sauer sind: "Anstatt a la Thatcher sozialen Kahlschlag für alle zu wagen, wird eine Mini-Maßnahme an einem Teil der Bevölkerung ausprobiert, der es ohnehin schon schwer hat, sich durch Arbeit gesellschaftlich zu integrieren. Hätte man stärkere und weiter gefasste Maßnahmen ergriffen, wäre das, so paradox das klingt, gerechter gewesen."

Weiteres: Der israelische Historiker Moshe Zimmermann kommentiert den Ausgang der Wahlen vor allem mit Blick auf die alarmierend geringe Wahlbeteiligung. "Die meisten Protestwähler haben diesmal keine Partei mit einer klaren Aussage zum Thema Mauer, Besatzung oder Rassismus gewählt ... sondern die bizarre Partei der Rentner: Sie erhielt sechs Prozent." Gottfried Knapp meldet eine Sensation: Erst jetzt wurde erkannt, dass die Villa für die wohlhabende Engländerin Ada Ryder in Wiesbaden 1923 von Ludwig Mies van der Rohe gebaut wurde. Gerhard Persche berichtet vom Budapester Frühlingsfestival, das an einem langen tollen Tag alle Da-Ponte-Opern zeigte, darunter einen "Don Giovanni" als Widergänger von Ali G.

Auf der Literaturseite greift Ijoma Mangold die aktuelle Diskussion um Sinn und zweck von Literaturkritik auf, die Volker Weidermann mit seinem Buch "Lichtjahre" im Betrieb ausgelöst hat. Hubert Winkels hatte in der Zeit dabei die Gnostiker gegen die Emphatiker in Stellung gebracht: "Weil die Wahrheitsfrage, wie alle letzten Fragen, nachgerade unentscheidbar bleibt, kann man sich ersatzweise nur an die Frage halten: Und wer hat das intensivere Leben? Und wer hat den besseren Sex?"

Besprochen werden eine Ausstellung der Tour-Fotografien des Gitarristen Nicholas Zinner in der Vice Gallery in Berlin, Eoin Moores Berliner Komödie "Im Schwitzkasten" und Bücher, darunter Nicolas Gamez Davilas "Notas" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr).