Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2006. In der SZ denkt Claudio Magris über das "merkwürdige Kulturklima" nach, das Silvio Berlusconi in Italien schuf. Die NZZ untersucht die kulturpolitischen Vorstellungen der italienischen Regierungs- und Oppositionsparteien. In der Welt analysiert Wolf Lepenies die Franzosen als höfisch-revolutionäre Zwitterwesen. In der Berliner Zeitung erklärt Jürgen Kuttner, warum Lenin so aktuell ist. Und Neukölln entzweit taz und FAZ.

Welt, 07.04.2006

"In Frankreich waren es stets revolutionäre Umbrüche, die den sozialen Wandel bewirkten. Zu Reformen war das Land selten in der Lage" schreibt Wolf Lepenies auf den Forumsseiten. "Die Franzosen sind reformunwillig und revolutionssüchtig geblieben. Ausländische Beobachter staunen über das Fortwirken revolutionärer Rhetorik und eine Protestbereitschaft, die im Konflikt um den Erstanstellungsvertrag allein in Paris eine Million Menschen auf die Straße bringt. In den Hintergrund tritt dabei eine andere Konstante der französischen Politik: das Fortleben der Monarchie - von Napoleon über de Gaulle bis zu Mitterand und Chirac. Auch in der Republik bleiben Hof ('La cour') und Straße ('La rue') die bevorzugten Schauplätze der Politik - das Parlament tritt demgegenüber in den Hintergrund."

Der Schriftsteller Hussain Al Mozany empört sich über die Entscheidung der irakischen Regierung, sämtliche Denkmäler des Saddam-Regimes zu zerstören. Zum Opfer fallen ihr offenbar auch Arbeiten wichtiger zeitgenössischer Künstler: "Jene Kunstwerke, die dem islamischen Terror nicht zum Opfer fielen, werden nun durch das mutwillige Handeln des Kulturministeriums erbarmungslos vernichtet."

Uwe Schmitt schreibt zum achtzigsten Geburtstag des Ober-Playboys Hugh Hefner, der Generationen von Männern, wie Schmitt mit dem Komiker Mort Sahl witzelt, in der Überzeugung aufwachsen ließ, "dass Frauen an drei Stellen faltbar sind und Heftklammern im Nabel tragen". Die Statistiken hat Schmitt auch gelesen: "Auf die Frage, was sie am meisten anmache, geben die Gespielinnen erst Musik, dann Tiere an. Männer und Nacktheit landen abgeschlagen auf hinteren Rängen. Johann Sebastian Bach führt bei den 'Men Turn Ons'."

Weiteres: Berthold Seewald berichtet über die Präsentation des sagenumbwobenen Judas-Evangeliums, einen 13-seitigen Kodex, den National Geographic nun aus dem Koptischen übersetzt hat ("Was he innocent?"). Uta Baier erzählt, wie der Münchner Physiker Rolf Esche nach dem Bild "Adam und Eva" von Franz von Stuck sucht, das zu DDR-Zeiten beschlagnahmt worden war. Elmar Krekeler findet die Verquickungen, die im Streit um den Literaturfonds ans Licht kommen, doch recht "unglücklich". Beglückt zeigt sich Konrad Adam über die angeblich neue Nachfrage nach Latein und Altgriechisch. Besprochen wird die Sigmund-Freud-Ausstellung "Psychoanalyse" im Jüdischen Museum Berlin.

Berliner Zeitung, 07.04.2006

Ulrich Seidler interviewt den ehemaligen Radiostar und heutigen Kleinkünstler Jürgen Kuttner zu seiner Revue "Lovely Lenin" in der Berliner Volksbühne: "Ich will Lenin nicht nur vom Ende her begreifen. Er ist ja auch kläglich gescheitert. Mich interessiert seine Entschlusskraft, sein Mut zu sagen: Gesetze hin oder her, wir machen jetzt Revolution. Die Verhältnisse sind beschissen, also muss man: 'Was tun!' Das ist der Anknüpfungspunkt, es geht weniger um die historische Figur. Außerdem kann man aus Lenin nicht so schnell eine Marke machen wie aus Che Guevara. Oder so eher Mutti-mäßig aus Rosa Luxemburg. Bei Lenin ist die Irritationskraft stärker."

FR, 07.04.2006

Marcia Pally nimmt in ihrem Flatiron-Letter christliche Zeitschriften unter die Lupe, die ihr von Amazon angeboten wurden. Peter Steinke berichtet über das Wiesbadener goEast-Filmfestival. Martin Lüdke schreibt zum Tod des Übersetzers und Literaturkritikers Walter Boehlich. In Times Mager meldet Ina Hartwig, dass Wolf Biermann zwar seinen Verlag Kiepenheuer & Witsch verlassen habe, weil Volker Weidermann ihn in seiner umstrittenen kurzen Literaturgeschichte direkt nach dem Krieg in die KPD steckt, er aber nicht beleidigt sei: "Ich bin andere Kaliber von Kritik gewöhnt, und das ist bekannt", wird Biermann zitiert.

Besprochen wird eine Ausstellung über den "empfindsamen Arno Schmidt" im Schiller-Nationalmuseum in Marbach.

NZZ, 07.04.2006

Konzeptionslosigkeit auf beiden Seiten: Sowohl das Berlusconi- wie das Prodilager haben keine Ideen für eine künftige Kulturförderung, meint Gianfranco Capitta, Theaterkritiker bei Il manifesto. "Am auffälligsten sind indessen, je näher der Wahltermin rückt, die Seitenwechsel und Neugruppierungen in der Kulturwelt: unelegant, aber nicht ohne surreale Komik. Viele Direktoren und Verwalter von Kulturinstitutionen rechnen mit einem Wechsel in der Regierung. Deshalb wenden sie sich jetzt plötzlich der ehemaligen politischen Gegenseite zu und geben ihrer neuen Zugehörigkeit lauthals Ausdruck."

Seit 2002 gibt es auch in Südafrika Boulevardblätter, erzählt Erika von Wietersheim in einem Schauplatz Afrika. Und sie kommen sehr gut an: "Nicht das öffentliche Geschehen, nicht politische Meinungsbildung im traditionellen Sinn haben in den Tabloids Priorität, sondern im Wirtschaftsteil geht es um das Geschäft um die Ecke und persönliche Bankkonten, in den Nachrichten aus Landwirtschaft, Gesundheitswesen und Erziehung um praktische Ratschläge und persönliche Erfahrungen."

Weiteres: Für Samuel Herzog markiert die Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst einen neuen Trend zur Introspektion. Kristina Bergmann berichtet über eine Fatwa, die in Ägypten hohe Wellen schlägt, weil sie das Aufstellen von Statuen im Haus als unislamisch brandmarkt. Besprochen wird eine Ausstellung über Sport und Dichtung in München und Lübeck.

Auf der Filmseite werden Isabel Coixets "The Secret Life of Words" besprochen, Francois Ozons "Le temps qui reste", Antonin Svobodas "Spiele Leben" und Oskar Roehlers "Elementarteilchen".

Auf der Medien- und Informatikseite kritisiert Uwe Bork, Redaktionsleiter beim SWR, die Entscheidung der ARD, eine Dokumentation über Unterdrückung von Christen im Nahen und Mittleren Osten vorerst nicht zu senden: "Die Verhältnisse - sprich: die ungeahnte Wucht der religiösen Auseinandersetzungen - haben uns Journalisten in eine Lage gezwungen, in der wir nicht mehr das sagen und zeigen können, was wir eigentlich sagen und zeigen müssten. Nicht, dass wir an unseren Redaktionssitzen in Mitteleuropa selbst bedroht würden, nein, es sind unsere Informanten und potenziellen Interviewpartner, die unverzichtbaren Zeugen unserer Filme, unsere Kollegen und Helfer vor Ort, die in einem Klima leben, das ihnen immer öfter den Mund versiegelt."

Weiteres: S.B. widmet sich mit dem Windows-kompatiblen Apple-Programm Boot Camp einer kleinen kulturellen Revolution im Computergeschäft.

FAZ, 07.04.2006

Neukölln treibt diese Zeitung weiter um. Heinrich Wefing spürte bei einer Versammlung von Hauptschullehrern vorrevolutionäre Stimmung: "Seit fünfundzwanzig Jahren, berichtet ein Lehrer, der aussieht, als lasse er sich nicht leicht aus dem Gleichgewicht bringen, unterrichte er an der 2. Grundschule, in einem Hinterhof am Hermannplatz. Neunzig Prozent der Kinder dort stammten aus Familien mit 'Migrationshintergrund'... Als er damals angefangen habe, fährt der Redner unbeirrt fort, habe es alte und junge Lehrer gegeben, erfahrene und viele frisch aus dem Referendariat. Mittlerweile sei der jüngste seiner Kollegen mehr als fünfzig Jahre alt. Man muss nicht viel von Pädagogik verstehen, um das für ein Desaster zu halten."

Weiteres: Andreas Kilb plädiert für eine Abschaffung der Hauptschulen und eine Fusion mit den Realschulen. In der Leitglosse schließt Eleonore Büning aus der Meldung, dass der Berliner Opernstiftung nun doch Geld fehlt, dass mindestens zwei Opernhäuser fusioniert werden und Michael Schindhelm de facto zum Generalintendanten ernannt werden soll. In seiner Kolumne "Kunststücke" beklagt der emeritierte Kritiker Eduard Beaucamp einen allgemeinen Verfall des künstlerischen Ernstes in der "alternativlosen Marktgesellschaft". Karol Sauerland berichtet aus Posen über den Streit um die Synagoge der Stadt, die ein populistischer Politiker als Symbol des Bismarckschen Kulturkampfes abreißen will: "Die Juden hätten, ermuntert von den preußischen Deutschen, ein Gebäude errichtet, das die katholische Kirche, das Wahrzeichen des Polentums, überragt." Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Literaturkritikers Walter Boehlich. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Leon Krier zum Sechzigsten. Andreas Rossmann schreibt den Nachruf auf den ehemaligen Direktor des Museums Ludwig Karl Ruhrberg. Und Wolfgang Schieder wirft einen Blick auf das von kleinen Charismatikern dominierte italienische Parteienwesen.

Auf der Medienseite porträtiert Jordan Mejias die Anchorwoman des CBS Katie Couric. Monika Osberghaus würdigt das Werk des Kinderfernsehmachers und Mauserfinders Armin Maiwald, und Stephan Sahm wirft einen kritischen Blick auf die Krebswoche der ARD.

Auf der letzten Seite interviewt Irene Bazinger den großen alten Mann des Kindertheaters, Volker Ludwig vom Grips-Theater Berlin, zu Geburtenschwund und Kindertheater. Patrick Bahners resümiert einen Berliner Vortrag des Historikers Robert Paxton über den Begriff des Faschismus. Und Jürg Altwegg porträtiert die französische Autorin Benoite Groult, die inzwischen 85 Jahre alt ist und sich vehement für Sterbehilfe einsetzt.

Besprochen werden die Ausstellung über die verbleibende "Jugend von heute" in der Schirn, Igor Bauersimas neues Stück "Boulevard Sevastopol" in eigener Regie in Wien, der tschechische Film "Cesky sen" von Vit Klusak und Filip Remunda, ein Auftritt der Grunge-Band Urge Overkill in Berlin und Sachbücher zu Fragen der Bioethik.

TAZ, 07.04.2006

Robin Alexander schildert perfide Überlebensstrategien der Neuköllner: "Alteingesessene Neuköllner, berichtet unser Nachbar, haben eine Theorie entwickelt: Diese Art der Hysterie trete periodisch auf. Ungefähr alle sieben Jahre, sie beginne mit Artikeln im Lokalblatt Tagesspiegel und schaukle sich zu Spiegel-Texten hoch und klinge dann mit Fernsehbeiträgen und Bild-Schlagzeilen langsam aus. Das habe aber auch sein Gutes: Bei Mieterhöhungen in den vergangenen Jahren hefteten viele Neuköllner an den kommentarlosen Widerspruch einfach eine Kopie des letzten Spiegel-Artikels über den Bezirk: 'Schüsse peitschen über die Straße.'"

Daniel Bax stellt die Musikerin Amparo Sanchez und ihre Band Amparanoia vor: "Amparo Sanchez zählt zu den Schlüsselfiguren der so genannten Mestizo-Szene - jener Musikrichtung, die aus der Verschmelzung von Reggae, Ska-Punk und lateinamerikanischen Einflüssen hervorgegangen ist und die in Südeuropa und Lateinamerika schwer populär ist. Bis heute ist sie eine der wenigen Frauen, die sich in diesem Genre einen Namen gemacht haben. Manchen gilt sie deshalb gar als 'Königin des Mestizo'."

Besprochen werden der Briefwechsel zwischen Gottfried Benn und Ernst Jünger und CDs mit Britpop.

Schließlich Tom.

SZ, 07.04.2006

Im Gespräch mit Henning Klüver erklärt der Schriftsteller und Journalist Claudio Magris das politische Erfolgsrezept Berlusconis. "Über uns wohnte eine Familie, die klassische Familie Saubermann, die ihre Wohnung blitzrein hielt, aber den Dreck auf die Straße warf. Wenn sich in unserem Treppenhaus ein Genozid abgespielt hätte, es hätte sie nicht gekümmert. (...) Lange Jahre ist diese Schicht auf der einen Seite von der Democrazia Cristiana und auf der anderen Seite von der KPI und den Gewerkschaften kontrolliert worden, sie war in dem Sinne kein freies politisches Subjekt. Dann kam Berlusconi und rief ihnen zu: Ihr seid frei, mich zu wählen, ihr seid ein Subjekt! Dabei hat er alle Register gezogen, die Regeln des Anstandes verletzt und dieses merkwürdige Kulturklima hervorgebracht, das jetzt sogar viele seiner eigenen Leute verschreckt. Denen sollten wir uns zuwenden. Es war ein großer Fehler der Linken, sie einfach zu verachten."

Noch mehr Italien: Berlusconi ist angeschlagen, berichtet Henning Klüver: Sogar seine eigenen Fernsehredakteure sind schon mit dem Konkurrenzblatt Corriere della sera gesehen worden. Außerdem wird auf den Wahlaufruf von Umberto Eco verwiesen.

Alvis Hermanis und sein Rigaer Theater zeigen im Berliner Hebbel am Ufer "Lettische Geschichten". Peter Laudenbach ist von den zwanzig Monologen aus dem lettischen Postsozialismus schwer beeindruckt. "Ausgangspunkt der Arbeit waren Recherchen: Jeder Schauspieler sollte sich einen Menschen aussuchen, den er einen Monat lang kennenlernt und beobachtet - keine Freaks, keine schrillen Figuren, sondern möglichst durchschnittliche, unauffällige Leute. 'Die großen Dramen finden im Leben dieser Menschen statt, man muss nur genau hinsehen', sagt Hermanis zu dieser Methode. 'Das ist das Gegenteil des Starkults der globalen Pop-Kultur. Das Theater führt einen Guerillakrieg gegen die Kultur der Massenmedien. Dieser Krieg ist weniger gefährlich als der Widerstand der Kultur während der Diktatur, in der Zeit der Sowjetunion, aber er ist viel komplizierter.'"

Weitere Artikel: Der Mannheimer Soziologe Hartmut Esser spricht sich gegen die Förderung der Herkunftssprache von Immigranten aus, weil sie den Erwerb der neuen Sprache und damit die Integration behindere. Ira Mazzoni schreibt zum Tod des Kunstpublizisten und Museumsleiters Karl Ruhrberg. Der Dichter Durs Grünbein erinnert sich im Literaturteil an Samuel Beckett und die "Frische der Desillusionierung", die ihm der Roman "Watt" bescherte: "Vereinfacht gesagt, verhält sich Becketts Roman zu Prousts Opus wie ein gynäkologischer Anatomieatlas zum Lebensbericht einer Dame, die an einem äußerst seltenen Unterleibsleiden tapfer zugrunde geht."

Besprochen werden die Ausstellung "Bühne des Lebens - Rhetorik des Gefühls" im Lenbachhaus München, Alex Nowitz' "Bestmannoper" in Osnabrück, zwei Uraufführungen in der Neuen Oper Wien, die "Zauberflöte 06" von Thomas Pernes und Dieter Kaufmanns "Requiem für Piccoletto", das neue Album "Graden Ruins" der Popband Calexico ("okay zum Entspannen" meint Tobias Kniebe), eine "ausweichende" Schau zu Sigmund Freud im Jüdischen Museum Berlin, Erika Tophovens Führer durch "Becketts Berlin", das Hörspiel "Henry Silber geht zu Ende" sowie Karin Hellwigs Untersuchung "Von der Vita zur Künstlerbiografie" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).