Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.05.2006. Die Büchner-Preis-Entscheidung für Oskar Pastior wird im Namen des Autors begrüßt und in Namen des Preises kritisiert. In der Welt kennen Ayaan Hirsi Ali und Leon de Winter die Antwort auf Bin Laden: Hybridautos. Die NZZ identifiziert Mexiko-Stadt als die wichtigste Kunststadt Zentralamerikas. Die Welt am Sonntag besuchte die Protagonisten des vorletzten Hypes: die Jungen Wilden.

Welt, 15.05.2006

"Wenn Sie Bin Laden schlagen wollen, fangen Sie mit einem Hybridauto an." Im Forum fordern Ayaan Hirsi Ali (mehr) und Leon de Winter (mehr) den Westen auf, "seine Abhängigkeit vom arabischen Öl, das den globalen Dschihad finanziert, radikal (zu) reduzieren". Das sollte innerhalb von fünf Jahren möglich sein. "Bereits jetzt gibt es zahlreiche Alternativen zu fossilen Brennstoffen - Solar- und Windenergie, Biotreibstoffe wie Ethanol, Hybridautos, Wasserstoffmotoren. Womöglich wird es Jahrzehnte dauern, das globale Energiesystem zu transformieren, ein technologischer Durchbruch aber würde die Ölpreise dramatisch sinken lassen und Osama Bin Ladens Vision eines auf Öleinnahmen gegründeten islamistischen Kalifats die Luft nehmen."

Im Kulturteil porträtiert Dorothea von Törne fröhlich den rumäniendeutschen Lautlyriker Oskar Pastior, der in diesem Jahr den Büchner-Preis erhält: "Kaum zu glauben, dass jemand, der 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurde, der drei Jahre Militärdienst ableistete und als Betontechniker in einem Baubüro sein Dasein fristete, sich bald mit umwerfenden Anagrammen wie 'Urologe küsst Nabelstrang' in bundesdeutsche Ohrmuscheln einsang." (Hier einige Gedichte zum Lesen und Hören)

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek kommentiert die Verleihung der Lolas - geht alles in Ordnung, nur dass Michael Kohlhaase keine Lola für das Drehbuch von "Sommer vorm Balkon" bekommen hat, empfindet er als eklatante Ungerechtigkeit. (Alle Filmpreise hier.) Uta Baier fasst die Argumente des Kunstgeschichtsprofessors Frank Zöllner gegen Dan Browns Thriller "Sakrileg" zusammen. Und der Neutestamentler Matthias Klinghardt spricht im Interview über die historische Aussagekraft der Evangelien und heilige Küsse. Wenig erbauliches hörte Michael Pilz auf einem Frankfurter Kongress zum 65. Geburtstag von Bob Dylan: "Man findet sich in einem Kino wieder, das als Hörsaal dient, als kritisch-theoretisches Gemeindezentrum, und hört Sätze, die einen benommen machen und in Panik stürzen, weil man an die drohende Magisterarbeit denkt." Wen. gratuliert dem britischen Dramatiker Peter Shaffer zum Achtzigsten.

Besprochen werden Ruedi Häusermanns Oper "Lautlos" in Hannover und erste Aufführungen bei den Wiener Festwochen.

In der Welt am Sonntag hatte Cornelius Tittel eine hübsche Idee für eine Reportage: "Die Jungen Wilden waren einst, was heute die Vertreter der Leipziger Schule sind: Internationale Malerstars, von der Presse gefeiert, von Sammlern hofiert. 25 Jahre nach ihren größten Erfolgen kämpfen sie jetzt um einen Platz in der Kunstgeschichte", und Tittel hat sie besucht.

NZZ, 15.05.2006

Joachim Güntner war dabei, als die Darmstädter Akademie in Kopenhagen tagte. Er fand es vor allem merkwürdig, "wie wenig doch die Gegenwart eine Rolle spielte. Da saß man Stunden zusammen, sprach über grenzüberschreitenden Kulturaustausch und blickte über den Öresund hinüber nach Schweden, wo in Malmö demnächst die erste Moschee gebaut wird - und weder Europa noch die verschärfte Gangart der dänischen Regierung gegenüber Migranten wurde Thema. Das heißt, um Migranten ging es durchaus, dann aber nur um die Literaten, Wissenschafter und Künstler, die aus Nazideutschland nach Dänemark geflüchtet waren... Gegen die Konzentration zumal auf die Literaturhistorie bei einer auf Sprache und Dichtung verpflichteten Akademie ist nichts einzuwenden. Seltsam aber blieb es dennoch, wie sich die Akademiker damit beschieden, die ganze Tagung über fast ausschließlich auf einer Zeitinsel zu spazieren."

Samuel Herzog weiß, warum Mexiko-Stadt heute die "wichtigste Kunststadt" in Zentralamerika ist: "Mit ihren zwanzig Millionen Einwohnern, ihren Migrationsproblemen, ihrer Luftverschmutzung, ihrer Kriminalität und ihrer schwierigen geologischen Lage bietet sich auch Mexiko-Stadt schon rein statistisch als eine ideale Stätte für die Kunst an. Denn an einem Ort, wo das Leben existenzieller scheint als anderswo, hat auch die Kunst fast automatisch mehr Relevanz. Und wo sogar der städtische Müllberg Gegenstand diverser Bodenspekulationen ist, scheint fast alles möglich."

Weitere Artikel: Marc Zitzmann zitiert aus neueren soziologischen Studien, die das Selbstverständnis der Banlieue-Bewohner in Frankreich spiegeln. Nick Liebmann resümiert das 17. Schaffhauser Jazzfestival.

Besprochen werden Gavin Hoods Filmdrama "Tsotsi" (mehr) und der Sechsteiler "Stadt der Zukunft" mit dem sich Michael Schindhelm als Intendant vom Theater Basel verabschiedet und zwei Uraufführungen des Genfer Balletts.

TAZ, 15.05.2006

Als "klugen Nachhall" bezeichnet Oliver Ruf die Entscheidung, den Büchner-Preis in diesem Jahr an den Lyriker Oskar Pastior zu vergeben. Schließlich sei der 78-jährige aus Siebenbürgen stammende Sprach- und Lautartist "der Prototypus des minutiös harkenden, gezielt aussäenden Gärtners. Er ist ein fähiger Züchter, der es bravourös versteht, seine Aufzucht magisch hochzupäppeln."

Weitere Artikel: Cristina Nord zeigt sich von der Konzentration des Deutschen Filmpreises auf Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der anderen" enttäuscht. "Von dem, was wirklich interessant am deutschen Kino ist, hat die Filmakademie keine Vorstellung." In der zweiten taz porträtiert Robert Misik die Präsidenten von Venezuela und Bolivien, Hugo Chavez (mehr) und Evo Morales (mehr), die angetreten waren, das politische Establishment aufzumischen.

Im Medienteil berichtet Steffen Grimberg, dass der Chefredakteur der Berliner Zeitung Uwe Vorkötter nun doch gehen wird, seine Nachfolge aber noch nicht geklärt ist. "Vorkötters Stellvertreterin Brigitte Fehrle dürfte kaum durchsetzbar sein, da sie sich mit Vorkötter frühzeitig gegen die Neueigentümer positioniert hat. Bessere Chancen kann sich dagegen der andere stellvertretende Chefredakteur, Hendrik Munsberg, ausrechnen."

Besprochen werden zwei CDs, Jon Savages "Queer Noises 1961-1978. From the Closet to the Charts" und "A Tom Moulton Mix".

Und hier noch Tom.

FR, 15.05.2006

Martin Lüdke hält Oskar Pastior für den goldrichtigen Büchner-Preisträger 2006. "Eine wunderbare, eine überfällige und eine überraschende Entscheidung. Wer Oskar Pastior auch nur einmal erlebt hat, lesend, die Brille vorn auf der Nasenspitze balancierend, wer diese freundlich leise, warme, doch klare, etwas fremdartig klingende Stimme gehört hat, wer gesehen hat, wie seine Oberlippe mitsamt dem kleinen Bärtchen beim Schnurren der Vokale zu vibrieren beginnt, wer also durch ihn erfahren hat, dass Dichtung lebt und atmet, dass die Worte klingen und der Sinn flirrt, der muss sich mit ihm freuen." (Hier kann man Pastior hören!)

Jamal Tuschick resümiert den "an peinlichen und ranzigen Episoden" offenbar nur knapp vorbeischrammenden Bob-Dylan-Kongress in Frankfurt am Main. In Times mager prophezeit Ursula März das Ende des Patriarchats, weil 82 Prozent der Männer schlecht sitzende Kondome ordern.

Eine Besprechung widmet sich der Tanzaufführung "Romeo et Juliette" vom Ballets de Monte-Carlo bei den Wiesbadener Maifestspielen.

Berliner Zeitung, 15.05.2006

Jens Balzer durfte einer pophistorischen Sensation beiwohnen: "Pete Doherty ist pünktlich zu einem Konzert erschienen. Babyshambles-Auftritt im Hamburger Grünspan begann ohne Verzögerung. Allerdings vergaß der Musiker, dass er zeitgleich bei einem Gerichtstermin in London auftreten musste."
Stichwörter: Balzer, Jens, London

FAZ, 15.05.2006

Der Büchner-Preis für Oskar Pastior (mehr hier und hier) ist verdient, meint Hubert Spiegel, aber zufrieden ist er mit der Entscheidung trotzdem nicht: "Die Regeln des Anstands verlangen, dass man einem bald Achtzigjährigen den Respekt vor seinem Lebenswerk nicht versagt, und die Akademie darf sich darauf verlassen, dass diese Regel eingehalten wird. Sie wagt also nichts. Aber hätte die Auszeichnung vor einem Vierteljahrhundert nicht eine ungleich größere Bedeutung für diesen Autor gehabt als heute? (...) Die Akademie... muss sich fragen lassen, ob nicht andere Kandidaten vorhanden waren. Uwe Timm, Herta Müller und Martin Mosebach, Ralf Rothmann und Ernst-Wilhelm Händler, auch Daniel Kehlmann, Felicitas Hoppe und Michael Lentz, um drei Autoren unter fünfzig zu nennen - all das sind Schriftsteller, über deren Werk sich streiten ließe."

War die Sonntags-FAZ vorab informiert? Sie brachte unter der Überschrift "Der Favorit" ebenfalls Artikel über Pastior, darunter ein von Volker Weidermann verfasstes Porträt, in dem wir erfahren, dass Oskar Pastior und Herta Müller, die wie Pastior Rumäniendeutsche ist, gemeinsam einen Roman über die Zeit seiner Deportation in der Sowjetunion verfassen.

Weitere Artikel: Felicitas von Lovenberg hörte zu, wie Pastior am Wochenende, vor der Büchnerpreis-Entscheidung, in Kopenhagen eine Hommage auf Inger Christensen darbrachte. In der Leitglosse spießt Paul Ingendaay einen Fall von Zensur bei der EU-Veranstaltung Cafe d'Europe in der letzten Woche auf, wo ein EU-Funktionär die Lesung eines Gedichtes von Miguel Veyrat verhinderte. Lorenz Jäger lauschte einem Frankfurter Kolloquium über Bob Dylan. Verena Lueken berichtet von der Verleihung der Filmpreise am Freitagabend. Abgedruckt werden eine Laudatio von Wolfgang Schäuble und die Dankrede von Joachim Fest für die Verleihung des Henri-Nannen-Preises. Martin Otto besucht die bereits in den zwanziger Jahren erbaute Ahmadiyya-Moschee in Berlin-Wilmersdorf und erläutert, was es mit der Ahmadiyya-Sekte auf sich hat - ein anderer Zweig der Sekte möchte zur Zeit in einem Randbezirk Berlins eine neue Moschee errichten.

Auf der Medienseite berichtet Rainer Hermann, dass der Sender Al Dschasira für seine bald kommende englische Version fleißig Journalisten und Anchormen und -women bei BBC, CNN, ABC und ITV einkauft. Michael Hanfeld gratuliert Report Mainz zum Vierzigsten. Gemeldet werden die Henri-Nannen-Preise - einer von ihnen, der Kisch-Preis, ging an Bartholomäus Grills Reportage über den Tod seines krebskranken Bruders in der Zeit. Gemeldet wird auch, dass Uwe Vorkötter, noch Chefredakteur der Berliner Zeitung, das Haus verlassen wird.

Auf der letzten Seite schildert Christian Schwägerl, was deutsche Wissenschaftler mit importierten Stammzellen von Embryonen machen. Joseph Hanimann stellt ein aus Anlass des Karikaturenstreits formuliertes Papier der Unesco über Toleranz für Religionen, aber auch für Meinungsfreiheit vor. Und Jürg Altwegg empfiehlt Jacques Chirac, dessen Amtszeit in Düsternis versinkt, eine Emigration nach Japan vor, wo er auf einem Geheimkonto angeblich 50 Millionen Euro liegen hat.

Besprochen werden Theaterereignisse der Bonner Biennale, die Indien gewidmet ist, ein Auftritt der Fiery Furnaces in Köln, Goethes frühes Lustspiel "Die Mitschuldigen" in Weimar und Sachbücher, darunter der erste Band von Friedrich Kittlers Studien über "Musik und Mathematik".

SZ, 15.05.2006

Es war das Wochenende der Preise. Dass dem Lyriker Oskar Pastior und Akademiemitglied auf der Frühjahrstagung der Darmstädter Akademie in Kopenhagen der diesjährige Büchner-Preis zugesprochen worden ist, hält Thomas Steinfeld für eine "richtige, aber keine spektakuläre" Entscheidung. Spektakulärer ist vielleicht das beigestellte Gedicht, das aus einer Begegnung Oskar Pastiors mit Inger Christensen auf der Tagung hervorging und in variabler Homolettrie nur die Buchstaben verwendet, die in Christensens Namen vorkommen. "In inger christensens Registern reicht eine chinesin ihre hirse-terrine ins reisgericht, eine geste. in ihrer strengen geste ist gerste geschichtet, in ihrer gerste gries - eine geschichte ..." Lothar Müller fasst zudem den Tagungsablauf zusammen.

Weitere Artikel: Fritz Göttler berichtet über die Feier zur Berliner Verleihung des Deutschen Filmpreises, wo Florian Henckel von Donnersmarck erwartungsgemäß mit "Das Leben der Anderen" alle wichtigen Lolas abräumte. Gerhard Persche berichtet von dem wunderbaren Frühlingsabend in Wien, auf dem Daniel Barenboim den Siemens Musikpreis erhalten hat. Johan Schloemann hat die Stellungnahme, die der Historiker Luciano Canfora zu seinem umstrittenen Buch nun in Bonn gegeben hat, als Rhetorikstunde und nicht viel mehr erlebt.

Willi Winkler tröstet sich auf dem Bob-Dylan-Kongress in Frankfurt. "Bob Dylan hat schon so viel überlebt, er wird auch diesen Kongress überleben." Alexander Menden gratuliert Peter Shaffer, Autor des "Amadeus"-Stücks, zum achtzigsten Geburtstag. Und im Medienteil schildert Ralf Wiegand die glamouröse Vergabe des Henri-Nannen-Preises in Hamburg, auf der Bartholomäus Grill für die beste Reportage ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "A Stamp Collector"s Guide To World Domination" mit Kunstbriefmarken des früheren KLF-Mitglieds James Cauty in "The Aquarium" in Berlin, Roger Vontobels "plakative" Inszenierung von Gerhild Steinbuchs neuem Stück "Schlafengehn" im Schauspiel Essen, Tatjana Gürbacas "schlüssige" Intepretation von Philippe Hersants Oper "Der schwarze Mönch" in Leipzig, Nicolas Winding Refns "Pusher"-Filme und Costa-Garvras "Die Axt" als DVD, und Bücher, darunter Hans Kortes Vortrag von Antonio Skarmetas "Mit brennender Geduld" und Kjell Espmarks Gedichtband "Die Lebenden sind ohne Gräber" (in der Rezension präsentiert der schwedische Schriftsteller Aris Fioretos en passant eine Lyriktheorie) (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).