Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2006. Die SZ liest den "Schäfer-Bericht" als Dokument eines ins Extrem getriebenen Beamtenwahns. Ebenfalls in der SZ antwortet der Historiker Michael Brenner auf die Israel-Kritik seines Kollegen Tony Judt. Der Streit um den Heine-Preis für Peter Handke hält die Kulturwelt weiter in Atem. Das Festival von Cannes hinterlässt eher laue Resümees.

Tagesspiegel, 29.05.2006

Dieser Cannes-Jahrgang war eher mittelmäßig, meint Jan Schulz-Ojala, trotz oder gerade wegen der Fülle an Politik und Sex. Die goldene Palme an Ken Loach geht in Ordnung und ist symptomatisch. "Ein Altmeister des europäischen Autorenfilms hat sich durchgesetzt in Cannes, und mit reifen Autorenfilmen hob der Wettbewerb auch an - die Preise für Pedro Almodovars Publikumsliebling 'Volver' zeugen ebenfalls von der Stärke jenes Kinos, für dessen Förderung das Festival seit einem Vierteljahrhundert steht. Noch einmal haben die Alten die Nase vorn vor der Generation der 40-Jährigen - wenn auch der Franzose Bruno Dumont, der Mexikaner Alejandro Gonzalez Inarritu und die britische Newcomerin Andrea Arnold weitere wichtige Preise holten. Aber selbst dies: keine Überraschung. Kein großer Jubel, keine Trauer. Die 59. Ausgabe von Cannes ist eine ohne Katastrophen und ohne Happy End. Eine, bei der niemand etwas Rechtes zum grenzenlosen Jubel oder, schöner noch, zum leidenschaftlichen Streiten gefunden hätte. Weshalb sich nun alles zur unerquicklichen Trendforscherei in einem Bildergebirge aufmachte, das sich disparat wie selten auftürmte."

NZZ, 29.05.2006

Joachim Güntner versteht zwar den Ärger, den die Auszeichnung Peter Handkes mit dem Heinrich-Heine-Preis auslöste. "Aber man sollte, so scharf und einhellig rundum die Empörung ist, doch eines nicht vergessen: Nicht Handke, sondern die Jury, die zu Teilen bereits nichts mehr mit der Entscheidung zu tun haben will, hat die Wahl des Preisträgers zu verantworten. Der Berliner Tagesspiegel zitiert einen Juror mit dem Eingeständnis, Sigrid Löffler habe beharrlich für den Weltliteraten Handke getrommelt, bis dass die anderen Preisrichter mürbe geworden seien. Auch so kann Eigensinn Triumphe feiern."

Weitere Artikel: Die Chinesen haben den Tourismus entdeckt - bevorzugte Reiseziele sind Russland und die Mongolei, erzählt Matthias Messmer in einem Schauplatz China. Werner Spillmann und Angelus Eisinger vergleichen auf einer ganzen Seite die räumliche Entwicklung der Schweiz mit der Deutschlands. Christoph Egger resümiert die Filmfestspiele von Cannes. Eine Meldung zählt die Gewinner auf.

Besprochen werden die Kammeroper "Gramma" von Jose Maria Sanchez-Verdu in Luzern, die Architekturausstellung "Good N.E.W.S. Temi e percorsi dell'architettura" bei der Mailänder Triennale und Nino Rotas Oper "Il cappello di paglia" in Lausanne.

Welt, 29.05.2006

Uwe Wittstock sucht nach einem Ausweg im Streit um den Heine-Preis für Peter Handke. "Mehrere Jurymitglieder haben sich bereits von der Wahl distanziert. Der Stadtrat muss die Jury-Entscheidung noch bestätigen und SPD, Grünen und FDP, die zusammen die Mehrheit stellen, wenden sich heftig gegen die Wahl Handkes. Allerdings würde ein solcher Beschluss der Stadtpolitiker - wie bereits die Entscheidung der Comedie Francaise das 'Spiel vom Fragen' abzusetzen - Handke wieder in die Rolle des Verfolgten und Märtyrers bringen. Die Situation ist gründlich verfahren. Vielleicht wäre es ein Ausweg, die Jury - der unter anderem Gabriele von Arnim, Sigrid Löffler, Julius H. Schoeps und Christoph Stölzl angehören - dazu zu bewegen, in einer überarbeiteten Begründung nachdrücklich klarzustellen, dass der Heine-Preis dem Schriftsteller Handke und eben nicht seinen abwegigen politischen Positionen gilt."

Weitere Artikel: Iris Alanyali porträtiert den Sänger Muhabbet, den "türkischen Xavier Naidoo". Bruno ist jetzt im Zillertal, was Bernd Brunner nicht daran hindert, das Verhältnis von Mensch und Bär als seit altersher ambivalent zu charakterisieren. Fünfhundertdreiundfünfzig Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II. zieht Konrad Adam den Schluss, dass die Venezianer mal besser den Kaiser unterstützt hätten. Johnny Erling meldet, dass die Tiger-Team-Jugendbuchreihe des österreichischen Autors Thomas Brezina mit zehn Millionen verkauften Exemplaren in China nun Harry Potter abgehängt hat. Manuel Brug freut an der Diskussion um Simon Rattle, dass wieder diskutiert wird.

Im Magazin beginnt Urs Gehriger ein längeres Porträt des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, für das er Freunde und frühere Weggefährten traf. Der zweite Teil folgt morgen.

Besprochen werden Luk Percevals erst nach der Pause durchstartende Version von Tschechows "Platonow" an der Schaubühne sowie Ödön von Horvaths "Kasimir und Karoline" in der "zu flachen" Inszenierung von Andreas Dresen am Deutschen Theater, beide in Berlin, und Inszenierungen von Verdis Oper "Simon Boccanegra" in Paris und Amsterdam.

TAZ, 29.05.2006

Gabriele Goettle bekommt von der Medizinhistorikerin Ortrun Riha einen an der Pest geschulten Einblick, worauf es bei einer Seuche ankommt. "Was man auf alle Fälle als Erstes lernt, ist, dass bei diesen einschneidenden Seuchen die verwaltungstechnische Bewältigung wichtiger ist als die medizinische. Die Medizin ist normalerweise individuellen Krankheiten verpflichtet, im Seuchenfall soll sie aber die globale Problematik bewältigen. Dazu ist die Medizin nicht gemacht, das müssen die Verwaltungsleute machen. Seuchen sind ein politisches Problem und untergeordnet ein medizinisches. Man schiebt der Medizin fremde Aufgaben unter, etwa die Triage (mehr). Sie ist demokratisch überhaupt nicht legitimiert nach unserem Verständnis. Ich bzw. der Arzt kann immer sagen: Die kriegen es, die es am nötigsten brauchen! Das ist ein objektives Kriterium. Die Politik weigert sich zu sagen, es kriegen nicht alle."

Außerdem: Mag die Hülle auch noch so eventorientiert und dynamisch sein, in seinem Kern war der am Wochenende zu Ende gegangene Pen-Kongress immer noch eine "bürokratische" Veranstaltung, seufzt Gerrit Bartels. Auf der Medienseite begrüßt Leif Kramp das neue Fernsehmuseum am Potsdamer Platz in Berlin als überfällig, sorgt sich aber jetzt schon um dessen Zukunft. Auf den Tagesthemenseiten wertet Christian Rath die einzelnen Bewertungen zu den BND-Bespitzelungen von Journalisten im Schäfer-Bericht (pdf) aus und kommt zu dem Schluss, dass Schäfer vor allem die Ineffizienz der Aktionen kritisiert.

Besprochen wird einzig und allein Hiner Saleems Film "Kilometre Zero", der größtenteils während des iranisch-irakischen Krieges spielt.

Und Tom.

SZ, 29.05.2006

Sehr politisches Feuilleton heute. Hans Leyendecker liest den "Schäfer-Bericht" über die Bespitzelung von Journalisten und Geheimdienstkollegen durch den BND und kann ihn allenfalls als ins Extrem getriebenen Beamtenwahn ernst nehmen: "Im alten Rom gab es zur Zeit des Tiberius den Beruf des professionellen Denunzianten, den delator, die moderne Entsprechung in Pullach ist der Kollege."

Der Historiker Michael Brenner antwortet auf eine Polemik seines Kollegen Tony Judt gegen die Politik der israelischen Regierung: "Inzwischen ist die israelische Regierung bereit, Gebiete an eine Palästinenserregierung zu übergeben, die schlichtweg die Existenz des Staates Israel bestreitet. Verhandeln würde man schon gerne, aber mit wem?"

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh mag sich zwar nicht mit der Goldenen Palme für Ken Loachs Film "The Wind that Shakes the Barley" abfinden, zeigt sich aber insgesamt recht zufrieden mit dem diesjährigen Wettbewerb von Cannes. Und Tobias Kniebe lässt die deutschen Filme aus den Nebenreihen Revue passieren. Gemeldet wird, dass sich Jury-Mitglied Christoph Stölzl für die Entscheidung, den mit 50.000 Euro dotierten Heinrich-Heine-Preis an Peter Handke zu vergeben, distanziert hat. Andrian Kreye bringt Nachrichten aus New York, unter anderem über Verwerfungen um das 9/11-Mahnmal. Jenny Hoch betrachtet eine Reihe von ironischen Installationen, in denen sich Künstler mit dem properen Salzburg auseinandersetzen. Henning Klüver berichtet über eine Welle der Auseinandersetzung mit Leonardo da Vinci in Italien - unter anderem will der Kunsthistoriker Giuseppe Pallanti endgültig die Identität der in der "Mona Lisa" porträtierten Frau geklärt haben. Auf der Literaturseite meldet Martin Reischke, dass die USA und Kuba beim Hemingway-Nachlass kooperieren.

Auf der Medienseite unterhält sich Hans Hoff mit dem "Monty-Python"-Schauspieler John Cleese, der bei Arte demnächst einen Film über die Kunst des Fußballs moderiert. Auf Seite 2 des politschen Teils wendet sich der Historiker Martin Schulze Wessel gegen das Motto der nächsten Jahrestagung der "Sudetendeutschen Landsmannschaft": "Vertreibung ist Völkermord - dem Recht auf die Heimat gehört die Zukunft".

Besprochen werden Luk Percevals Inszenierung von Tschechows "Platonow" an der Berliner Schaubühne, einige neue DVDs, unter anderem von Jean-Luc Godard, und Helmut Oehrings Oper "Unsichtbar Land" am Theater Basel.

FAZ, 29.05.2006

Es ist keineswegs so, meint der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan, dass man sich im Iran selbst so recht einen Reim aufs eigene Land machen könnte: "Die Stadt Teheran entspricht Iran, wenngleich in beschleunigter Form. Hier versucht man, Nukleartechnologie zu erringen, doch im Parlament gibt es Abgeordnete, die gegen die Anwesenheit von Frauen in Fußballstadien protestieren. (...) Die Übertragung iranischer Realitäten in westliche Begriffssysteme ergibt kein klares Bild dessen, was in diesem Land vor sich geht. Nicht nur der Westen ist dazu unfähig, auch dem zeitgenössischen Iran gelingt es nicht, sich selbst zu begreifen."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann mokiert sich über den Brockhaus, der in seiner neuesten Ausgabe das Bergbaumuseum in Bochum als "Zeche Zollverein" deklariert. Für keineswegs sicher hält es derselbe Andreas Rossmann, dass die Stadt Düsseldorf dem Votum der Heinrich-Heine-Preis-Jury folgt, den Schriftsteller Peter Handke auszuzeichnen. Mit halbem Ernst nur erklärt Christian Schwägerl den Berliner Bahnhof "Gesundbrunnen" zum "spektakulärsten Neubau der Bahn". Beim Blick in deutsche Zeitschriften ist Ingeborg Harms auf viel Musikalisches gestoßen. In der Reihe "Marbacher Glanzstücke" präsentiert Heinrich Detering eine Restaurantrechnung, auf deren Rückseite Gottfried Benn "Heiliges und Profanes" vermischt. Eberhard Rathgeb war dabei, als Kardinal Lehmann in Meßkirch Martin Heidegger ehrte.

Auf der Medienseite erfahren wir, dass während der Fußball-WM alle Filmkameras stillstehen werden, weil Hotel- und sonstige Kosten von Dreharbeiten nicht zu kalkulieren wären. Tilmann Lahme und Michael Hanfeld fragen sich nach der Lektüre des Schäfer-Berichts: "Ist das eine Affäre oder nur eine lange Liste von Peinlichkeiten?" Auf der letzten Seite porträtiert Oliver Ilan Schulz den legendären amerikanischen DJ Jeff Mills (Wikipedia). Wolfgang Schneider berichtet vom Pen-Kogress in Berlin - und zeigt sich vor allem von der Schriftstellerin A.L. Kennedy sehr beeindruckt. Und Martin Otto erinnert an Joseph Beuys' plötzlich wieder aktuelle Forderungen nach einem "Hausfrauengeld".

Besprochen werden in einer Doppelkritik Luc Percevals "Platonow" an der Berliner Schaubühne ("in einer sterilen Choreographie der Uneigentlichkeit schockgefroren") und Andreas Dresens Version von "Kasimir und Karoline" am Deutschen Theater ("atmosphärisch eindringlich", so Irene Bazinger), die Freiburger Inszenierung von Michael Levinas' Oper "Les Negres", Hiner Saleems "Kilometre Zero", ein Berliner Konzert der Band "Yeah Yeah Yeahs" und Bücher, darunter ein Band mit späten Erzählungen von Anna Seghers und - auf der Sachbuchseite - eine ganze Reihe Fußballbücher (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).