Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2006. Noch ist die Schlacht um Peter Handke nicht zu Ende. Frank Schirrmacher will Literaturpreise und -kritiker in der FAZ vor der Politik bewahren. Sigrid Löffler und Jean-Pierre Lefebvre treten in der SZ aus der Heine-Jury aus. Die Welt versucht zu schlichten, die taz betont, dass Handke nicht für alle Serben spricht. Nur die NZZ zeigt sich unberührt und solidarisiert sich nicht mit Handke, sondern den Roma von Istanbul. Die SZ macht außerdem einen Ausflug nach Kinshasa, die Hauptstadt des Kongo.

SZ, 02.06.2006

Svante Weyler beschreibt die unmögliche Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo: "Kinshasa hat die Geopolitik gegen sich. Eine Hauptstadt, im äußersten Westen eines Landes gelegen, das so groß ist wie Westeuropa (wäre Kinshasa Paris, dann würde sich die Demokratische Republik Kongo im Südosten bis zum Schwarzen Meer und im Nordosten bis St. Petersburg erstrecken!), und ohne funktionierende Infrastruktur - es ist physisch wie politisch unmöglich, das Land von hier aus zu kontrollieren... Alles, was sich besitzen und ausbeuten ließe, all das, worauf die Kongolesen so gern stolz wären und womit sie reich werden könnten, liegt in anderen Gegenden. Kupfer, Gold und Diamanten gibt es in Katanga, im Süden des Landes; das Metall Koltan, das für unsere Mobiltelefone unentbehrlich ist, wird im Osten gefunden."

Sigrid Löffler und Jean-Pierre Lefebvre verkünden in einem öffentlichen Brief, dass sie aus der Jury des Heine-Preises austreten und warum sie das tun. "Niemand wird Handkes bizarre Aktionen in Sachen Milosevic nachvollziehen oder gar billigen wollen." Doch dass er "ohne Rücksicht seinen poetischen Blick gegen die veröffentliche Meinung und deren Rituale setzt, ist eine der Jury-Begründungen dafür, ihm den Heine-Preis zuzuerkennen. Die Hetzjagd gegen den Gekürten beweist ungewollt, wie sehr Peter Handke den Heine-Preis verdient hätte." Eine Verteidigungsrede für Handke hält noch Wim Wenders auf der Seite 2 des politischen Teils. (Ganz schön viel Öffentlichkeit für den "mundtot gemachten" (Löffler) Handke.)

Weitere Artikel: Moshe Zimmermann kommentiert bitter den Boykott israelischer Universitäten durch die englischen Hochschullehrerorganisation NATFHE: "Wir, die Linken, die wir uns um eine Kehrtwende in der israelischen Politik bemühen, werden zu Geiseln dieser Politik, dank der Initiative der 'Gutmenschen' aus England. Wieder ein kontraproduktiver Boykott." Alex Rühle mokiert sich über den Vorschlag von Lea Rosh, während der WM die Breker-Statuen auf dem Berliner Olympia-Gelände zu beseitigen. Die Muslime Athens sollen ein eigenes Gotteshaus bekommen, meldet Kai Strittmatter. Harald Welzer gratuliert dem Historiker Raul Hilberg zum Achtzigsten. Willi Winkler gratuliert Bazon Brock zum Siebzigsten. Lothar Müller hat mit Feridun Zaimoglu, Emine Sevgi Özdamar und dem Lektor von Kiepenheuer & Witsch, Helge Malchow, über die Plagiatsvorwürfe gegen Zaimoglu gesprochen und stellt fest: Solange die Literaturwissenschaftlerin, die das behauptet, anonym bleibt und ihre Arbeit nicht veröffentlicht ist, hat der Vorwurf "keine Bedeutung".

Besprochen wird die neue Dauerausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, eine Ausstellung der trügerischen Brasilien-Idyllen von Frans Post im Münchner Haus der Kunst, Frank Castorfs Version von Richard Wagners "Meistersinger von Nürnberg" am Grand Theatre in Luxemburg, Peter Sempels Dokumentarfilm "Lemmy" über die Band Motörhead und Bücher, darunter Jochen Oltmers Studie über "Migration und Politik in der Weimarer Republik" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Wirtschaftsteil und leider nicht online präsentiert die SZ die Sieger des von ihr mit dem Handelsblatt und dem Kulturkreis der deutschen Wirtschaft ausgelobten Kulturförderpreises. Gestaffelt nach Unternehmensgröße sind Deutschlands beste Förderer von Kunst und Kultur die Allianz Kulturstiftung (mehr), die Stiftung des Bankhauses Metzler (mehr) und der Kunstversicherer Axa Art. Entscheidend war nicht der Umfang des Engagements, sondern "die besondere Idee".

Welt, 02.06.2006

Ulrich Weinzierl versucht im Fall Handke zu schlichten und drängt auf die Einstellung der Kampfhandlungen. "Gewiss hat Handke in einem völlig recht: Ein Schriftsteller ist an seinem Geschriebenem zu messen, darum heißt er schließlich so. Andernfalls könnte man ihn gleich als Redner oder Dampfplauderer bezeichnen. Doch auch hier gibt es Fragwürdiges und eines auf Genauigkeit pochenden Sprachkünstlers unwürdige Formulierungen. (...) Trotzdem würde es wenig bringen, Handkes Arbeiten jetzt wieder Zeile für Zeile auf Fauxpas und Ärgerlicheres abzuklopfen. Der Poet Peter Handke, nahezu eine Berufskrankheit, entspricht dem Typ der Kampfmimose: Äußerst empfindlich, die leibhaftige Sanftmut, kann er - gereizt - von verstörender Aggressivität sein."

Eckhard Fuhr lobt die selbstironische Erkundung des Deutschseins im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. "Ein deutscher Sehnsuchtspfad führt von Goethes römischer Campagna tief hinein in die Blaue Grotte auf Capri, durch die deutsche Bildungsgeschichte und den deutschen Schlager und schließlich zu Aldi. Die deutsche Italiensehnsucht und die Italianisierung des deutschen Alltags sind ein besonders fesselndes Kapitel dieser Ausstellung. Es zeigt, wie Geistesgeschichte und Migration, Tourismus und Design, der europäische Markt und die Medien in einem großen kulturgeschichtlichen Laboratorium zusammenwirken."

Weiteres: Münchens umstrittene Kulturreferentin Lydia Hartl scheidet aus dem Amt, ihr Posten ist schon ausgeschrieben, berichtet Wieland Freund. Dass die britische Dozenten-Gewerkschaft für Fort- und Hochschulbildung nun israelische Bildungsinstitutionen, die sich nicht offen gegen ihre Regierung stellen, boykottieren will, hält Thomas Kielinger gelinde gesagt für unklug. Manuel Brug rühmt den Estnischen Philharmonischen Kammerchor aus Tallinn. Sven Felix Kellerhoff gratuliert Raul Hilberg zum Achtzigsten, Verfasser des Holocaust-Standardwerks "Die Vernichtung der europäischen Juden". Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Hollywood-Bühnenbildners Henry Bumstead.

Im Forum plädiert der Harvard-Historiker Niall Ferguson mit Verweis auf Harvard für eine Privatisierung der europäischen Eliteuniversitäten.

Besprochen werden die "überzeugende" neue Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin und das Album "Lenin" der Goldenen Zitronen.

FR, 02.06.2006

Abgedruckt ist der Text zu Handke, den Elfriede Jelinek "Aus gegebenem Anlaß" auf ihre Homepage gestellt hatte: "Der Dichter hat, was er zu sagen hat, zu sagen, weil es ihm notwendig ist, es zu sagen, aber er hat nicht das Notwendige zu sagen, sonst hätte er gar nichts mehr zu sagen. Sonst hätte er nur noch zu erledigen, was erledigt werden muß. Das ist zuwenig."

Weitere Artikel: Elke Buhr berichtet über das Berliner Klangfestival Sonambiente. Matthias Arning gratuliert Raul Hilberg zum Achtzigsten. In Times Mager befasst sich Ina Hartwig noch einmal mit Handke. Ein Meldung informiert uns, dass Nordrhein-Westfalens Kultur-Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU) das Veto des Düsseldorfer Stadtrates gegen den Heine-Preis für Handke verteidigt, obwohl er selbst Mitglied der Preis-Jury war. "Bei der entscheidenden Sitzung hatte er allerdings gefehlt."

Besprochen werden Urs Trollers Inszenierung von Heiner Müllers "Quartett" am Schauspiel Frankfurt und eine Ausstellung über den "Herrn der Regeln", den Schiedsrichter, im Stadtgeschichtlichen Museum in Leipzig.

TAZ, 02.06.2006

Zwei Kommentare zu Handke: Andrej Ivanji weist darauf hin, dass Peter Handke keineswegs für alle Serben gesprochen hat, sondern nur für einige: "Mitte der 90er-Jahre besuchte Handke das Land, las im Belgrader Theater 'Jugoslovensko dramsko pozoriste' auf Serbisch und gewann die Herzen der versammelten serbischen intellektuellen Elite. Zumindest derjenigen Dichter und Denker, die sich um den serbischen Schriftstellerverband und die Akademie der Wissenschaften und Künste versammelten und die Ideologie eines Großserbiens prägten, die Slobodan Milosevic als Grundlage für seine Feldzüge diente."

Gerrit Bartels fasst Handkes Verteidigung in FAZ und SZ zusammen und meint: "Ihm gehe es, so erklärt er seine Teilnahme an der Beerdigung von Milosevic, nicht um Loyalität zu Milosevic, 'sondern die Loyalität zu jener anderen, der nicht journalistischen, der nicht herrschenden Sprache'. Das kann man naiv finden, so wie seinen Wunsch, die bösen Geister, 'die schlimmen oder vergifteten Worte' mögen doch bitte schön die Sprache verlassen, als ob Sprache immer nur rein und gut und unschuldig sein könnte!, so wie man das seinerzeit naiv und verwerflich fand, dass Handke sich offenen Auges der Gefahr aussetzte, sich von der serbischen Propaganda instrumentalisieren lassen. Aber ist es gleich illegitim?"

Weitere Artikel: Kirsten Riesselmann schreibt über Plagiatsvorwurf gegen Feridun Zaimoglu. Rudolf Walther gratuliert dem Historiker Raul Hilberg zum Achtzigsten. Auf den Tagesthemen-Seiten zeigt sich Marcel Reich-Ranicki enttäuscht von dem mageren Kritiker-Echo auf seinen Kanon. Besprochen wird die neue CD der Pet Shop Boys.

Schließlich Tom.

NZZ, 02.06.2006

Für ein Museumsviertel soll nun Istanbuls Roma-Quartier Sulukule abgerissen werden, eines der ältesten seiner Art. Günter Seufert vermutet hier auch Motive am Werk, die über das Wirtschaftliche hinausgehen. "Neben Müllsammlern und Handwerkern leben in Sulukule noch immer Musiker, und ihre Frauen und Mädchen treten bisweilen in Kneipen als Tänzerinnen auf. Bis in die neunziger Jahre war Sulukule Geheimtipp für zahlungskräftige Besucher, die hier fanden, was im muslimisch-sittlichen Istanbul jener Tage nur schwer zu finden war: In einigen der Hütten ließen die Mädchen beim Tanz die Hüllen fallen. Heute ist diese Branche auch in Istanbul längst internationalisiert, doch in der Phantasie der Männer bleibt Sulukule, was es einmal war. Geschichten von der lockeren Moral der Romafrauen geistern noch immer durch die Stadt."

Weiteres: Herausgefordert von Dan Brown sucht der Romanist Hans-Martin Gauger in offiziellen und apokryphen Evangelien nach Fakten über Maria Magdalena. Roman Hollenstein gratuliert dem italienischen Architekten Carlo Scarpa zum hundertsten Geburtstag. Lilo Weber überreicht der renommiertesten Tanztruppe Englands, dem Royal Ballet, Glückwünsche zum 75-jährigen Bestehen. Satte 200 000 Dollar beträgt das Preisgeld für den wichtigsten Literaturpreis Russlands, dessen Finalisten nun bekannt gegeben wurden, berichtet Marina Rumjanzewa.

Auf der Filmseite verabschiedet Martin Girod den japanischen Regisseur Shohei Imamura. Vorgestellt werden Jean-Marc Vallees Mischung aus Familiensatire und Schwulendrama "C.R.A.Z.Y", Ning Cais Nomadenfilm "Season of the Horse", Paul Greengrass' Film über den 11. September "United 93" und Brett Ratners Actionstreifen "X-Men: The Last Stand".

Auf der Medien- und Informatikseite schildert "ras" die Diskussion um die wettbewerbsverzerrende Wirkung der Internetaktivitäten des öffentlichen Schweizer Rundfunks. S.B. beschreibt die in Handy-TV gesetzten Hoffnungen, "Bor" berichtet über den deutschen Markt. Gemeldet wird, dass immer mehr amerikanische Sender ihre Serien im Internet anbieten wollen und dass die britische Times sich über den Atlantik wagt - als Konkurrenz zur New York Times.

FAZ, 02.06.2006

Auf der letzten Seite erklärt Georg Baselitz im Interview, warum er einige seiner Bilder noch einmal gemalt hat: "Ich habe in den letzten Jahren immer mehr mit einem Foto in der linken Hand gearbeitet, was ich früher nie gemacht habe. Ich nehme Fotos von Bildern, zum Beispiel von Edvard Munch. Ich verwende also Zitate. Und so mache ich das auch mit meinen Bildern. Ich nehme Fotos von meinen Bildern und male sie dann noch einmal. Sie erinnern sich einer Situation, eines Bildes, einer Zeit, in einer wirklich tränenseligen Weise, so dass sie gar nicht anders können, als sich die Sache noch einmal vorzunehmen. Natürlich, um sie besser zu machen. Das ist ein Aufbegehren."

Für Frank Schirrmacher lautet die aktuelle Frage nicht mehr, ob Peter Handke den Heine-Preis verdient hat (dies hatte Hubert Spiegel kürzlich in der FAZ verneint), sondern: "Soll Peter Handke den Heine-Preis in Empfang nehmen dürfen? Das ist eine reine Machtfrage. Bekommt er ihn nicht, nachdem die Entscheidung der Jury gefallen ist, dann wären literarische Preise in Deutschland der Willkür ausgeliefert, dem Rufmord, wie er seit den Zeiten des 'anonimo romano' bis heute gepflegt wird. Einen wie auch immer Umstrittenen zu ehren, um dann, ohne dass irgendein neues Ereignis eingetreten wäre, ihn öffentlich für unwürdig zu erklären, ist die ultimative Form sozialer Demontage. Sie macht den Literaturkritiker zum Büttel der Politik, weil sein Einwand gegen Handke nun durch Einmischung der Politik wirkt wie der denunziatorische Ruf nach der Polizei."

Weitere Artikel: In der Reihe "Kunststücke" ärgert sich Eduard Beaucamp darüber, dass in Berlin die junge Kunst immer mehr die ältere verdrängt. Andreas Rosenfelder war bei einer Lesung von Hape Kerkeling in Köln. Sabine Löhr berichtet über Pläne Indiens für seinen Auftritt als Gastland der Frankfurter Buchmesse. Lorenz Jäger gratuliert Raul Hilberg zum Achtzigsten. Rainer Schulze porträtiert den Popsänger Peter Licht.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung zur deutschen Geschichte im Deutschen Historischen Museum in Berlin, Riccardo Chaillys Uraufführung von Bernd Frankes "Cuts VI-VIII" im Gewandhaus, eine Ausstellung von Meisterwerken islamischer Kunst im Louvre, Urs Trollers Inszenierung von Heiner Müllers "Quartett" im Schauspiel Frankfurt, ein vom Dirigenten Thomas Hengelbrock inszenierter "Don Giovanni" beim Feldkirch Festival und Sachbücher.