Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2006. Robert Gernhardt ist tot. Die FAZ bringt eines seiner letzten Gedichte: "Rückblick, Einsicht, Ausblick". In der SZ erklärt Martin Mosebach, warum die deutschen Feuilletons ihn so spät entdeckten - er hatte Form und Witz. Die FR kommentiert die Meldung vom Abgang des Suhrkamp-Lektors Rainer Weiss als "Bombe". In der Berliner Zeitung erklärt Jean Nouvel, wie er es schaffte, ein derart sakrales und geheimnisvolles Museum an den Pariser Quai Branly zu setzen.

FR, 01.07.2006

Martin Lüdke erinnert sich an seinen Freund Robert Gernhardt: "Schon seit einigen Wochen war er nicht mehr unten durch das kleine Vorgartentor gekommen; zuerst Bella, Gernhardts Hund, dann er. Ich habe diesen Anblick immer genossen. Der Hund ging rechts, Gernhardt nach links - und durch beide ging, als sich die Leine gespannt hatte, ein Ruck." Und Michael Braun würdigt Gernhardt als Dichter: "Man kann gewiss einiges einwenden gegen den traditionalistischen Poesie-Begriff dieses Autors, der seine handwerkliche Routine manchmal über Gebühr strapazierte. Aber 'über seine Verhältnisse' gedichtet, wie so mancher ambitionierte 'Modernist' hat Gernhardt nie. Er wusste um die ästhetischen Reize, die man den klassischen Formen durch Aktualisierung abgewinnen kann."

Als "Bombe" kommentiert Ina Hartwig die Meldung vom Abgang des Suhrkamp-Lektors Rainer Weiss: "Der ehemals Vertraute hat das Haus jetzt verlassen. Als einziger Geschäftsführer neben Ulla Unseld-Berkewicz verbleibt nur noch der Kaufmann Philip Roeder. Alles läuft hinaus auf eine weitere Bündelung der Macht der Verlegerin."

Weitere Artikel: Hans-Klaus Jungheinrich gratuliert Hans Werner Henze zum Achtzigsten. Und Martina Meister schreibt über die Sportreporterin Estelle Denis, die Frau des französischen Nationaltrainers, der ihr gerne exklusive Interviewtermine zur objektiven Berichterstattung gewährt.

SZ, 01.07.2006

Die erste Seite des SZ-Feuilletons gehört ganz dem verstorbenen Robert Gernhardt. Thomas Steinfeld porträtiert ihn als Geliebten und Liebenden (des Publikums). Ein Artikel sammelt Reaktionen von Künstlern und Politikern.

Martin Mosebach schreibt: "Gernhardt schrieb im Wettstreit mit seinen Freunden, ohne vom Literaturbetrieb beachtet zu werden. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, die Form der Lyrik, die sich aus den großen poetischen Traditionen speiste, sei damals nur in der komischen Dichtung noch gepflegt worden. Ja, die Dichter um Gernhardt machten die Erfahrung, dass die Form und die Komik einander in der Wirkung noch steigerten. Form bedingt Übung und Handwerklichkeit, Begriffe, die in der feierlichen Sphäre der 'ernsthaften' Dichter belächelt wurden, wenn man auch sonst zum Lachen nicht bereit war. Als Tausende Leser Gernhardt-Gedichte schon auswendig konnten, erschienen in den Feuilletons der großen Zeitungen noch immer Gedichte, von denen keine Zeile im Gedächtnis der ergriffenen Leser haften blieb."

Und ein Gedicht von Gernhardt gibt es auch: "Abschied. Ich könnte mir vorstelln, / mich so zu empfehlen: / Die Zeit. Ich will sie euch / nicht länger stehlen. / Den Raum. Ich will ihn euch / nicht länger rauben. / Den Stuß. Ich will ihn euch / nicht länger glauben..."

Weitere Artikel: Jörg Heiser erzählt von einer Auftragsarbeit, die der Künstler Olafur Eliasson übernommen hat: Ein BMW Art Car. Jürgen Zimmerer schreibt zum 80. Geburtstag des Historikers Robert W. Fogel, Wolfgang Schreiber zum Achtzigsten von Hans Werner Henze. Dazu gibt's ein Interview mit dem Komponisten, in der er über seine neue Oper "Phaedra" spricht und deren Stiefsohn Hippolyt: "Mehrere Damen waren sehr an Hippolyt interessiert, sexuell, und haben alles Mögliche angestellt, um ihn zu kriegen. Aber er hatte keine besonderen Wünsche in dieser Richtung. Und er bringt Phädra um. Sie stirbt also zweimal. Einmal, weil sie sich selbst erhängt hat, und dann im 2. Akt, weil sie unerträglich war und Hippolyt keine Geduld mehr hatte." Reinhard J. Brembeck erzählt von einem Geburtstagskonzert für Henze in Rom.

Besprochen werden Wilfried Minks' Zürcher Inszenierung von Büchners "Woyzeck" in einer Bearbeitung von Neil LaBute ("Tiernummer eben, aber sehr schön dressiert", meint Christopher Schmidt) und Bücher, darunter eine Biografie Zigarren-Impresarios Zino Davidoff (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende zeigt Christian Nürnberger der Allianz die rote Karte: Die Versicherung hatte gerade trotz üppiger Gewinne die Entlassung von 7.500 Mitarbeitern verkündet. Stefan Ulrich erzählt von einem Besuch im sizilianischen Mafiadorf Corleone. Nora von Westphalen stellt das britische Wäschelabel "Agent Provocateur" vor, das demnächst seine erste deutsche Depandance in den Berliner Galeries Lafayette eröffnet. Aus aktuellem Anlass (WM) wirft Jan Brandt einen Blick auf die Geschichte der kontrollierten Prostitution seit dem Mittelalter. Billy Joel erzählt im Interview, was seine Hände ruiniert hat. Das Boxen war es nicht. "Gebrochen habe ich sie mir erst bei einem Motorradunfall. In der Kuppe meines linken Daumens ist kein richtiger Knochen mehr. Man kann ihn bewegen wie einen Joystick, sehen Sie?"

Welt, 01.07.2006

Kein großer Essay heute in der Literarischen Welt, sondern eine Reise-Impression aus den Abruzzen von Patrick Leigh Fermor, den die Redaktion als einen der bedeutendsten Reiseschriftsteller des 20. Jahrunderts vorstellt: "Der Wechsel von der sanften, friedlichen, so italienischen Landschaft Umbriens zu den kargen Höhen der Abruzzen war, als käme man auf einen fremden Planeten. Und tatsächlich, diese wilden, grauen Gipfel sind fast so fern wie der Mond, und man kann sich kaum einen einsameren Ort vorstellen als das Dörflein Cucullo, ein Gewirr aus Gassen und Häusern am Ende eines Bergtals." Im Dörlemann-Verlag erscheint demnächst ein Band mit Reiseberichten des Autors.

Besprochen werden unter anderem Erzählungen Rudyard Kiplings, einige Bücher über Neapel und Capri und eine Biografie Michelangelos von Antonio Forcellino. Und Tilman Krause spricht etwas schwärmerisch "Klartext" über die zur Zeit gehobene Stimmung ("Ist es uns eigentlich jemals aufgefallen, dass wir eine besonders ansprechende Fahne besitzen? Sind wir uns eigentlich der Tatsache bewusst gewesen, dass wir auch eine besonders innige Hymne haben?")

Im Kulturteil schreibt Michael Pilz über die Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg. Thomas Brussig setzt seine WM-Kolumne mit einer Dramentheorie fort. Ulrich Weinzierl besucht das "Haus der Künstler" auf dem Areal der niederösterreichischen Landesnervenheilanstalt Maria Gugging, das dem Art Brut gewidmet ist. Klaus Geitel gratuliert Hans Werner Henze zum Achtzigsten. Einige Artikel gelten dem Kunstmarkt. Und im Magazin schreibt Uwe Wittstock den Nachruf auf Robert Gernhardt.

Berliner Zeitung, 01.07.2006

Im Magazin der Berliner Zeitung erklärt der Architekt Jean Nouvel, warum er sein Musee du Quai Branly in einen dicht bepflanzten Park gesetzt hat. "Mir war es wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, die irgendwie anders ist, sakral und geheimnisvoll. Die sich von westlichen Museen abhebt. Hier werden ja nicht Kunstobjekte im traditionellen Sinn gezeigt, sondern ethnologische Relikte uralter Zivilisationen und lebender Völker, Spuren von Ritualen und Aberglauben. Um das Mysteriöse hervorzuheben, habe ich das ethnologische Museum ins Halbdunkel gehüllt. Punktuell leuchten von der Decke Spots wie Sterne, die die 3.700 Kultobjekte neu erstrahlen lassen. An der Südseite filtern rote Jalousien, Sonnenblenden das Licht. Perforiert öffnen und schließen sie sich je nach Lichteinfall wie die Blende einer Kamera und streuen das Licht gebrochen in die Halle. Eine Technik, die ich auch schon beim Institut du Monde Arabe anwandte. Ein diffuses Flimmern von Licht und Schatten entsteht, das so natürlich wie Baumschatten wirkt. Alles in allem ist es ein Universum der Ruhe und Stille."

TAZ, 01.07.2006

Klaus C Zehrer, Mitherausgeber der Anthologie "Hell und Schnell - 555 komische Gedichte aus 5 Jahrhunderten", erinnert sich an Robert Gernhardt: "So war es immer mit Gernhardt: Jeden schweren Brocken, den ihm das Schicksal in den Weg legte, verwandelte er mit leichter Hand in Kunst, und das Schicksal musste sich eine neue Schikane ausdenken, die Gernhardt sofort wieder als Inspirationsquelle nutzte. Kein leichtes Schicksal für das Schicksal, es mit so einem aufnehmen zu wollen."

Weitere Artikel: Der Schriftsteller Ralf Bönt meditiert über Giordano Bruno, die Angst des Mannes vor seinem eigenen Eros, Betäubungsmittel in Kondomen und Michel Houellebecq. Besprochen wird Danis Tanovis Film "Wie in der Hölle" (mehr hier) nach einem Projekt von Krzysztof Kieslowski.

Im taz-Mag porträtiert Jan Feddersen den Hirnforscher und Medizinnobelpreisträger Eric Kandel. Und der Politologe Klaus Walter dementiert das Gerücht, er sei ein 68er.

Und noch TOM.

NZZ, 01.07.2006

Martin Krumbholz rühmt den verstorbenen Dichter Robert Gernhardt. Seinen Nachruf hatte der übrigens schon selbst geschrieben. "'Lieber Gott, nimm es hin, / dass ich was Besond'res bin. / Und gib ruhig einmal zu, / dass ich klüger bin als du. / Preise künftig meinen Namen, / denn sonst setzt es etwas. Amen.' Dieses Gedicht aus dem Band 'Besternte Ernte' (1976), das sich natürlich keck 'Gebet' nennt, enthält alle Varianten der Selbstbehauptung: den Hinweis auf die eigene Singularität, einen gewaltigen Schuss Hybris und zuletzt die unverhohlene, gleichwohl leere Drohung. Im großmäuligen Gehabe, das diese Verse persiflieren, steckt auch ein Körnchen Wahrheit, und das macht ihren Charme aus. Dass der hier zutage tretende Größenwahn nur die Kehrseite der flagranten Depression ist, liegt auf der Hand, und so entspricht dem Gebet das intime Bekenntnis: 'Ich leide an Versagensangst, / besonders, wenn ich dichte. / Die Angst, die machte mir bereits / manch schönen Reim zuschanden.'"

Weitere Artikel: Der Literaturprofessor Joachim Dyck erzählt, wie Gottfried Benn nach Kriegsende mit Hilfe des Schweizer Journalisten Erhard Hürsch wieder Fuß fasste. Paul Jandl stellt die Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig vor: Ihr Text "Sie befinden sich hier" "ist einer der smartesten Beiträge, die je in Klagenfurt gewonnen haben, und er steht wohl auch für eine Generation, die in ihren Patchwork-Karrieren gelernt hat, ökonomisch und ergebnisorientiert zu denken."

Besprochen werden Wilfried Minks' Zürcher Inszenierung von Neil LaButes "Woyzeck"-Bearbeitung ("anmaßender Etikettenschwindel", findet Barbara Villiger Heilig), eine Retrospektive zum Werk der Architektin Zaha Hadid im New Yorker Guggenheim Museum und Bücher, darunter Essays von Jorge Luis Borges.

In Literatur und Kunst stellt Karl-Markus Gauß einen österreichischen Dichter vor, dessen Hauptwerk "Kettenreaktion Kontra" - "ein politisch wie sprachexperimentell gleichermaßen radikales Werk" - nach 55 Jahre erstmals veröffentlicht wurde. "Theodor Sapper, 1905 in der Steiermark geboren, brauchte, als er 1982 in Wien starb, gar nicht erst vergessen zu werden. Er war, von wenigen geschätzt, stets völlig unbekannt geblieben, ein Mensch, dem jede Eignung abging, auf sich aufmerksam zu machen, ein schüchterner, zurückhaltender Charakter, den Freunde als wandelnde 'Wehrlosigkeit' beschrieben, von früh auf daran gewöhnt, im Getriebe nicht bemerkt zu werden, doch dankbar für jede noch so bescheidene Resonanz, die seine Literatur fand. Auch sein 100. Geburtstag im letzten Jahr wurde von der Jubiläumsfeuilletonistik übersehen."

Weitere Artikel: Georg Sütterlin porträtiert den Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor. Barbara Spengler-Axiopoulos porträtiert Lord Byron, dessen Gedichtband "Childe Harold's Pilgrimage" sie als "atemberaubenden Reisebericht" beschreibt. Alexandra Lavizzari erzählt von zwei Briten, die die Schweizer Berge gebührend zu bewundern wussten, Leslie Stephen und John Ruskin. Rudolf Isler schreibt über Manes Sperbers Exil in Zürich. Hans Bernhard Schmid erinnert an den Soziologen Rene König, der vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden Bücher, darunter Josef Haslingers Erzählband "Zugvögel" und Ralf Dahrendorfs Essay "Homo Sociologicus" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 01.07.2006

Klaus Unger hat die neue CD der New Yorker Band "TV On The Radio" gehört und fragt sich, was er davon halten soll: "Mitsummen fällt meist flach, ist sicher auch nicht gewollt. Mitwippen gibt sie selten her. Wer sich gerne mal ergreifen lassen würde, den kühlt sie ab. Man lauscht hin, mit wichtiger Sinfoniemiene, interessant klingen die ja unbedingt, denkt man, und: Ob Rock das soll?" Wissen wir auch nicht, aber dieses Stück kann man eigentlich ganz gut mitsingen, beim FAZ-Verarbeiten.

Eine Meldung verkündet, dass die Hamburger Kunsthalle gerichtlich verurteilt wurde, das nach einem "spektakulären Kunstraub" gezahlte Lösegeld für die Wiederbeschaffung eines Gemäldes von Caspar David Friedrich in Höhe von 250.000 Euro sowie ein Honorar über 20.000 Euro an den Frankfurter Rechtsanwalt Edgar Liebrucks zu zahlen, der die Wiederbeschaffung organisiert hatte. Eine weitere Meldung informiert uns, dass Rainer Weiss den Suhrkamp Verlag verlässt.

Weitere Artikel: Der amerikanische Verfassungsrechtler Lawrence H. Tribe erklärt im Interview das Guantanamo-Urteil (mehr) des Obersten Gerichtshofs der USA: "Die Rechtsstaatlichkeit hat sich gegen die unbegrenzte Präsidialmacht durchgesetzt." Drei Blätter des Zyklus der "Jahreszeiten" von Caspar David Friedrich konnte das Berliner Kupferstichkabinett kaufen, Philipp Demandt ist entzückt. Michael Lentz erklärt in seiner WM-Kolumne, warum er die brasilianischen Fußballspieler, "diese gesättigten Grinsköppe", nicht mehr sehen kann. Ina Helweg-Nottrot stellt das von Ieoh Ming Pei entworfene Musee d'art moderne Grand-Duc Jean in Luxemburg vor. Julia Spinola gratuliert dem Komponisten Hans Werner Henze zum Achtzigsten. Jörg Becker stellt Nushu vor, eine Schrift, die Frauen in der chinesischen Provinz Hunan erfunden haben. Wim Wenders verneigt sich zum Hundertsten vor dem Regisseur Anthony Mann.

Hubert Spiegel schreibt den Nachruf auf Robert Gernhardt. (Online hat die FAZ ein Gernhardt-Special zusammengestellt.) Abgedruckt ist "Rückblick, Einsicht, Ausblick", eines der letzten Gedichte von Gernhardt: "Durch die Landschaft meiner Niederlagen / gehe ich in meinen alten Tagen: / Abends ist es am schlimmsten ..."

Besprochen werden Wilfried Minks' Züricher Inszenierung von Büchners "Woyzeck", der von Neil LaBute ins Englische übersetzt und dann von Frank Heibert ins Deutsche rückübersetzt wurde ("die Frechheit der Saison", so Gerhard Stadelmaier), David Slades Racheepos "Hard Candy", Kang Je-gyus Kriegsfilm "Brotherhood", ein Konzert von Billy Joel in Hamburg, Danis Tanovics Film "Wie in der Hölle" und Bücher, darunter Yasmina Rezas "Im Schlitten Arthur Schopenhauers" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Schallplatten- und Phono-Seite stellt Ellen Kohlhaas das Klassik-Label Telos vor. Weiter geht's um zwei Einspielungen von Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 1, eine Aufnahme von Beethovens Neunter mit Stanislaw Skrowaczewski und dem RSO Saarbrücken und eine neue CD von Venom, Erfinder des Death- und Black-Metal, behauptet Martin Schlögl.

In der Frankfurter Anthologie interpretiert Wulf Segebrecht ein Gedicht von Ludwig Tieck: "Waldeinsamkeit".