Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2006. Die taz outet einige schwule Hiphopper wie zum Beispiel Puff Daddy und lobt sich den offen schwulen Gangsta-Rapper Deadlee. Ein Jahr nach den Londoner Anschlägen konstatiert die NZZ wachsende Entfremdung zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft in Großbritannien. Allgemein wird des seit fünfzig Jahren toten Gottfried Benns gedacht. In der FR erklärt der Benn-Übersetzer Natias Neutert Parallelen zwischen Benn und Shakespeare. In der SZ gibt Alexander Kluge Auskunft über sein Verhältnis zum Dichter.

NZZ, 07.07.2006

Ein Jahr nach den Londoner Terroranschlägen haben sich Großbritanniens Muslime und Nichtmuslime eher noch weiter voneinander entfremdet, berichtet Georges Waser. "Im Blick auf das Verhältnis zwischen islamischer und westlicher Welt sind die Muslime in Großbritannien am pessimistischsten: 62 Prozent sehen es als mehrheitlich schlecht an. In Deutschland und Frankreich liegen die Werte bei dieser Fragestellung nur um weniges tiefer, das ebenfalls vom Terror heimgesuchte Spanien dagegen überrascht: Nur 23 Prozent der dort lebenden Muslime teilen die negative Sicht ihrer Glaubensgenossen in anderen europäischen und zahlreichen muslimischen Ländern. Alarmierender ist jedoch die Tatsache, dass gemäß einer von der Londoner Times in Auftrag gegebenen Studie von den 1,6 Millionen britischer Muslime immerhin 13 Prozent den Attentätern des 7. Juli den Märtyrerstatus zugestehen und dass 7 Prozent Terroranschläge auf Zivilisten unter gewissen Umständen für gerechtfertigt ansehen."

Die mexikanische Schriftstellerin Angeles Mastretta fordert ihre Landsleute auf, die Teilhaberechte der Demokratie stärker in Anspruch zu nehmen. "Wir sollten es von innen, von unten betrachten, aus unserem Argwohn gegenüber dem Rechtsstaat heraus, aber auch aus unserem manchmal blinden Vertrauen darauf, dass wir die Besten sind - dass es nichts gibt, was sich mit Mexiko vergleichen ließe, in dessen Boden wir jedenfalls begraben zu werden wünschen, obwohl wir ihn seiner Bäume beraubt und ihn unfruchtbar gemacht haben und obwohl es keinen sozialen Frieden gibt, der uns behüten könnte in einem Einvernehmen, das nicht auf Unterwerfung und nicht auf Wortlosigkeit beruhte, auf keinem Wahn und auf keiner Willkür."

Weiteres: Der zehnmonatige Umbau hat dem Festspielhaus Bregenz eine schöne Platzfassade beschert, meint Roman Hollenstein. Ursula Perucchi meldet den Tod des frühen Videokünstlers Dieter Froese. Besprochen wird die "Rheingold"-Aufführung mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle beim Festival von Aix-en-Provence.

Auf der Medien- und Informatikseite beschreibt Stefanie Rigutto, wie Bravo neue Popstars für die Jugend kreiert. S. B. berichtet vom Ärger über Microsofts neue Echtheitsprüfung für Windows, die den Nutzern ohne ihr Wissen im Laufe eines Sicherheitsupdates untergejubelt wurde. snu. meldet, dass die wegen ihres Berichts über internationale Finanzschnüffeleien der CIA in die Kritik geratene New York Times auch von Konservativen verteidigt wird. Auf einer ganzen Seite betont SRG-Generaldirektor Armin Walpen, dass öffentlich-rechtliches Programm auch in der digitalen Zukunft eine Existenzberechtigung hat.

Die Filmseite: Seit in Sassi "The Passion of Christ" gedreht wurde, gibt es dort nicht nur Fettuccine alla Mel Gibson, sondern auch doppelt so viele Touristen im Jahr, erfährt Elsbeth Gut Bozzetti aus einem Buch über Kino und Tourismus in Italien. Vorgestellt werden Dreamworks' Animationsfilm "Over the Hedge", Pablo Bergers Kleinbürgerporträt "Torremolinos 73" und Alejandro Agrestis Liebesdrama "The Lake House".

TAZ, 07.07.2006

Anhand des schwulen Gangsta-Rappers Deadlee illustriert Tim Stuettgen, dass es im HipHop nicht nur unterdrückte, sondern mittlerweile auch offen zur Schau getragene Homosexualität gibt. Deadlee outet aber auch gerne die "homophoben" Kollegen des Mainstream. "Auf Method Man folgt Redman, dann Puff Daddy und natürlich die 50-Cents-Posse G-Unit, die er mit Zärtlichkeit Gay-Unit tauft. Seine Lieblingsgeschichte ist die, wie er vor zehn Jahren einem sexy Typen im Park einen geblasen hat, der genauso ausgesehen haben soll wie LL Cool J."

Auf der Meinungsseite erfährt Harald Fricke von Adrienne Goehler, wie sie sich die in ihrem Buch beschriebenen "Verflüssigungen" zwischen Staat, Kunst und Gesellschaft vorstellt. "Deutschland präsentiert sich zur WM als 'Land der Ideen'. Da frage ich mich, an wen man sich in diesem Land denn überhaupt wenden kann mit seinen Ideen? Im Grunde müsste es in jeder Behörde eine Tür geben, an der steht: Hier werden Ihre Ideen mit Ihnen zusammen weiterverfolgt."

Weiteres: Tobias Rapp hält die jüngste Kritik an der Kanzlerin für eine Neuauflage des Geschlechterkampfs. Angehört wurden das "schöne" Soloalbum "The Eraser" des Radiohead-Sängers Thom Yorke und die letzten Aufnahmen von Johnny Cash, die unter dem Titel "American V - A Hundred Highways" vertrieben werden.

Im Medienteil meldet Sven Hansen, dass der China-Korrespondent Georg Blume fünf Stunden lang von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde, als er Bauern interviewen wollte, die wegen des Drei-Schluchten-Staudamms umziehen mussten. Jörn Wiertz weist auf eine "frauen- und fremdenfeindliche" Anzeige der Fernsehzeitschrift Hörzu hin, die der Werberat nicht beanstandet hat.

Und Tom.

FAZ, 07.07.2006

Andreas Platthaus berichtet über die Trauerfeier für Robert Gernhardt in Frankfurt. Heinrich Wefing glossiert die Idee, im ehemaligen Amerika-Haus am Bahnhof Zoo ein "West-Berlin-Museum" einzurichten. Kerstin Holm verfolgte ein internationales Treffen religiöser Honoratioren in Moskau. Joachim Müller-Jung schildert Schwierigkeiten der Privatuniversität Witten-Herdecke, deren Medizinfakultät nicht die gebührende offizielle Anerkennung findet. Gemeldet wird, dass sich der Bund an der Sanierung der Staatsoper unter den Linden beteiligen wird. Eduard Beaucamp malt sich in seiner Kolumne "Kunststücke" eine Zukunft Europas als Museum und ästhetische Schule der übrigen Welt aus. Sebastian Domsch stellt in milde kritiserendem Duktus das wegen seiner Subventionen umstrittene Literaturportal vor. Karin Leydecker besucht das Fabrikschloss "Neuffer am Park", eine ehemalige Schuhfabrik, die inzwischen als Kulturzentrum dient und von den Architekten Landau und Kindelbacher umgebaut wurde.

Auf der Medienseite unterhält sich Roland Wiedemann mit dem einst so populären Sportmoderator Rudi Michel. Und Tilmann Lahme schildert den Fall des Radprofis Jörg Ludewig, der eine Kolumne für ZDF Online schrieb und sich möglicherweise mit Wissen des Senders gedopt haben soll (er selbst bestreitet den Vorwurf auf seiner Homepage).

Für die letzte Seite unterhält sich Melanie Mühl mit Heidi Gross, die in Hamburg eine Mannequin-Agentur betreibt. Hans-Martin Gauger klärt auf, dass den Franzosen selbst der Begriff der "Grande Nation", mit dem Deutsche gern den Asterix-Komplex der französischen Politik apostrophieren, gar nicht bekannt sei. Und Dieter Bartetzko berichtet über die angeblich jetzt aufgefundene Grabstätte des Sagenhelden Theseus in einer monumentalen Anlage in Troizin auf der Ostseite des Peloponnes.

Besprochen werden eine Choreografie von Bill T. Jones bei den Hamburger Balletttagen, eine Ausstellung mit Fotografien von Bernd und Hilla Becher in Köln, eine Ausstellung des Malers Gabriele Mucchi in Greifswald und Sachbücher, darunter ein Essay über "Avantgarde und Terrorismus" von Thomas Hecken.

FR, 07.07.2006

Aus Anlass von Gottfried Benns fünfzigstem Todestag unterhält sich Anja Juhre-Wright mit Natias Neutert, der über die Schwierigkeiten der Übersetzung Benns ins Englische spricht und erstaunliche Parallelen zwischen Benn und Shakespeare zieht: "Beide zaubern 'potenzielle Wörter' hervor, wie die Linguisten das nennen, Wörter also, die nach Wortbildungsregeln eigentlich jederzeit machbar gewesen wären, jedoch von niemandem bis dahin erfunden oder formuliert worden sind. Sind sie jedoch erst einmal erschaffen, steht ihnen nichts im Wege, erst integraler Bestandteil des jeweiligen Gedichts und später sogar des Lexikons zu werden. Benn hat sich in dieser Hinsicht die allergrößten Freiheiten geleistet, wenn er nominale Neologismen wie 'Seltsamsaft' bildete oder des Metrums wegen 'Mißvertraun' sagte."

Besprochen wird außerdem die Marbacher Benn-Ausstellung. In Times mager sinniert Harry Nutt über das Absingen von Nationalhymnen in Fußballstadien.

Welt, 07.07.2006

Im Forum betont Koichiro Matsuura, Generaldirektor der Unesco, die Bedeutung von Wissen. "Aber kann sich der Süden Wissensgesellschaften leisten? Sind sie nicht ein Luxus, für den Norden reserviert? Man könnte mit Abraham Lincoln antworten: Wenn ihr glaubt, Wissen sei teuer, probiert es mit Ignoranz!"

Im Kulturteil schreibt Wolf Lepenies zum fünfzigsten Todestag von Gottfried Benn. Daneben gibt es ein Gedicht von Benn: "Was schlimm ist". Roland Pawlitschko hat sich die umgebauten Festspielhäuser in Bregenz und Salzburg angeguckt: In Salzburg bietet Wilhelm Holzbauer nur eine "triviale Inszenierung der Insignien konservativer Repräsentations-Architektur", in Bregenz demonstrierten ihm die Architekten Dietrich/Untertrifaller hingegen "eindrucksvoll, wie sich ein unansehnliches Baukörperkonglomerat der späten siebziger Jahre in eine klar strukturierte und anmutige Architektur verwandeln kann." Kulturstaatsminister Bernd Neumann erklärt im Interview, warum er 60 Millionen Euro im Jahr an deutsche Filmproduzenten verteilen will: ""Mein Hauptziel besteht darin, die deutschen Produzenten international wettbewerbsfähig zu machen."

Leni Höllerer erzählt, dass schon die alten Ägypter gern Fußball spielten - allerdings mit Schlagstock. Thomas Brussig setzt melancholisch seine WM-Kolumne fort. Abgedruckt ist ein Gedicht von Erich Mühsam: "Abpfiff". Und im Forum denkt Thea Dorn über Fußball als Integrationsmittel nach.

Besprochen werden eine CD von Peaches, Wilfried Minks Inszenierung von Neil LaButes "Woyzeck"-Fassung in Zürich, die Ausstellung Tokyo-Berlin in der Neuen Nationalgalerie, Elliot Goldenthals Monster-Musiktheater "Grendel" an der Los Angeles Opera, Ibsens "Klein Eyolf" im Schauspielhaus Stuttgart und Leo Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" in Zürich.

SZ, 07.07.2006

Zum ersten Jahrestag der Bombenanschläge in der Londoner Innenstadt analysiert der Politologe Rowland Manthorpe die Reaktion britischer Medien und Politiker auf die Attentate und weist auf eine spezielle historische Verbindung hin: "Am nächsten Tag ging London zurück an die Arbeit. Die vorherrschende Botschaft lautete: 'Weitermachen'. Das war natürlich schlicht auch der Notwendigkeit geschuldet. Aber zugleich war es auch eine Wiederholung des 'Spirit of the Blitz'." Im damaligen Rückgriff auf Rhetorik und Mythos des deutschen Blitzkrieges sieht Manthorpe ein gelungenes Beispiel für die Manipulierbarkeit des historischen Gedächtnisses einer Nation: "Die britische Identität kann, wie die Identität eines Individuums, aus altem Material neu konstituiert werden. Die Nationen Großbritanniens können, wie eine Generation von Kindern aus zerstörten Elternhäusern, der Statistik trotzen und den Fehlern ihrer Eltern ihre narrative Macht nehmen." Hier die englische Version des Essays, der mit dem "Pimlott Prize for Political Writing" ausgezeichnet wurde.

Noch ein Jahrestag: Vor fünfzig Jahren starb Gottfried Benn, die SZ widmet dem Andenken des dichtenden Militärarztes ihre komplette Literaturseite. Burkhard Müller interpretiert Benns Gedicht "Jena". Gustav Seibt verbindet einen Besuch im Örtchen Gorzow Wielkopolski, dem Benn ein literarisches Denkmal gesetzt hat, mit einer Spitze gegen "heutige Benn-Liebhaber, die sich so gern seine Coolness zu eigen machen". Und der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge gibt im Interview Auskunft über sein Verhältnis zu dem Lyriker: "Benn wird kein schlechterer Dichter durch das, was er grotesk an Fehlern begeht - so lange er nicht Menschen mordet. Einen Schriftsteller, den ich ernst nehme, kann ich nicht nach seiner Biografie beurteilen. Eine ganz andere Person ist es, die im Dichter schreibt, und nicht bloß die Charaktermaske, die ihre Biografie ausfüllt und auch Echtheitsmerkmale haben kann. Authentizität beim Schreiben drückt sich anders aus."

Weitere Artikel: Merten Worthmann war in Galizien und hat die ewige Baustelle der "Cidade da Cultura" besucht - das gigantische Projekt einer Kulturstadt mit Bibliothek, Theater und verschiedenen Museen, das Peter Eisenmans Lebenswerk krönen soll. Im Interview erklärt die Dramatikerin Theresia Walser ihr neues Stück "Die Liste der letzten Dinge" zur Beziehungskomödie. Steffen Kraft macht sich Gedanken über den Boom von Hörmedien, und Wolfgang Luef erzählt von dem Heurigenmusiker Anton Karas, der heute vor 100 Jahren geboren wurde und dem die Zithermelodie für den Klassiker "Der dritte Mann" einfiel.

Besprochen werden das in Lugano von Martha Argerich initiierte "Progetto"-Festival sowie eine Ausstellung in der Kunsthalle Basel mit Werken der Konzeptkünstlerin Lee Lozano.