Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.07.2006. In der FAZ erklärt der israelische Schriftsteller David Grossman, warum die Israelis ihr Vertrauen in die gemäßigten Kräfte der arabischen Welt verloren haben. In der SZ erzählt der kongolesische Regisseur und Tänzer Faustin Linyekula, warum es für ihn unmöglich ist, mit seinen Tänzern einen Kreis zu bilden. In der NZZ verrät der Verleger Egon Ammann sein Erfolgsgeheimnis: Er liest unverlangt eingesandte Manuskripte. Die Welt kann überhaupt nichts anfangen mit den wirtschaftskritischen Werken zweier "Haudegen der bürgerlichen Entzauberung", Martin Walsers Roman "Angstblüte" und Claude Chabrols Film "Geheime Staatsaffäre". In der Berliner Zeitung erklärt der Soziologe Shmuel Eisenstadt, warum Fundamentalismus und Traditionalismus scharfe Gegensätze sind. Im Spiegel fragt Henryk M. Broder, was eigentlich eine verhältnismäßige Reaktion der Israelis auf den Beschuss mit Katjuscha-Raketen gewesen wäre?

Welt, 17.07.2006

Elmar Krekeler kann überhaupt nichts anfangen mit den wirtschaftskritischen Werken zweier "Haudegen der bürgerlichen Entzauberung", Martin Walsers Roman "Angstblüte" und Claude Chabrols Film "Geheime Staatsaffäre". Ersterer spielt in der Welt der professionellen Geldmacher, letzterer behandelt die Elf-Aquitaine-Affäre, einen der größten französischen Wirtschaftsskandale. "Wie sehr sich Chabrol und Walser die Realität geradezu ängstlich vom Hals halten, zeigt sich schon in den Namen der Protagonisten. Chabrols Staatsanwältin, die mit blutroter Handtasche herumläuft und von ihren Feinden 'Piranha' genannt wird, heißt mit bürgerlichem Namen Jeanne Charmant-Killman. Walser schießt geradezu ein Feuerwerk absonderlicher Namen ab: Amei Varnbühler-Bülow-Wachter heißt da wer, Amadeus Stengl, Leonie von Beulwitzen, Erewein von Kahn und Walsers Christiansen-Ruge-Talkmasterinnen-Verschnitt trägt den Namen Gundi Powolny."

Weitere Artikel: Hajo Schumacher beschreibt die Loveparade als Messe für Körperbemalung. Für Berthold Seewald haben die Entscheidungen der Unesco, was in die Liste des Welterbes der Menschheit aufgenommen wird, immer mehr Zufallscharakter. Sven Felix Kellerhoff besucht zusammen mit der Historikerin Anne Kaminsky das neue DDR-Museum in Berlin. Gabriela Walde zeichnet die Entwicklung von Martha Grahams Modern Dance Company nach, die jetzt auf Tournee nach Deutschland kommt.

Auf den Forumsseiten verkündet der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff: Europa ist beliebter als man denkt. Niemand wolle zurück zum europäischen "Normalzustand", den Kurt Tucholsky 1932 so beschrieb: "Am Rhein, da wächst ein süffiger Wein - der darf aber nicht nach England hinein. Buy British! In Wien gibt es herrliche Torten und Kuchen, die haben in Schweden nichts zu suchen - Köp svenska varor! In Italien verfaulen die Apfelsinen - laßt die deutsche Landwirtschaft verdienen! Deutsche, kauft deutsche Zitronen! Dort liegt Europa - wie sieht es aus? Wie ein bunt gestrichenes Irrenhaus! Zollhaus, Grenzpfahl und Einfuhrschein: wir lassen nicht das geringste herein. Wir nicht. Wir haben ein Ideal: Wir hungern. Aber streng national." (Das ganze Gedicht kann man hier lesen.)

FAZ, 17.07.2006

Der israelische Schriftsteller David Grossman erklärt, warum die Israelis ihr Vertrauen in die gemäßigten Kräfte der arabischen Welt verloren haben: "Der jetzige Gewaltausbruch zeigt eine ausgesprochen problematische Ähnlichkeit in den Haltungen der libanesischen Regierung und der palästinensischen Autonomiebehörde gegenüber Israel. Beide haben gewissermaßen zwei Köpfe, die sich widersprüchlich verhalten: Der eine agiert 'staatlich', dass heißt auf politischen Wegen und vergleichsweise gemäßigt, der andere erklärt sich für frei, völlig nach Belieben zu handeln: Er setzt Terror gegen Zivilisten ein, bedient sich rassistischer Rhetorik und fordert offen die Vernichtung Israels. Dieses Doppelspiel ist einer der Gründe, die ein dauerhaftes Abkommen zwischen Israel und diesen Nachbarn so sehr erschweren." Grossman erinnert auch daran, dass Israel angegriffen wurde, bevor es den Libanon bombardierte: "Es gibt keine Rechtfertigung für den Angriff, den die Hizbullah letzte Woche - von libanesischem Gebiet - auf Dutzende friedlicher israelischer Ortschaften unternahm. Kein Staat der Welt kann seine Bürger schweigend preisgeben, wenn das Nachbarland - ohne jede Provokation - einen solchen Überfall ausführt."

Noch heute teilt der Aufstand der Militärs vor siebzig Jahren, die zum Spanischen Bürgerkrieg und zu Francos Diktatur führte, Spanien in zwei Hälften, berichtet Paul Ingendaay. Er schreibt es der "merkwürdig fiktiven Aura" zu, "die das Nachdenken über den Bürgerkrieg bis heute bestimmt. Selten zuvor gab es Sieger, die so selbstherrlich die Geschichte ihres Triumphes schrieben. Selten zuvor gab es Verlierer, deren Mitschuld sich so im Nebel einer tröstenden Utopie verlor. Während die Sieger einen glanzlosen autoritären Staat errichteten, übernahmen die Verlierer die Herrschaft über die Träume. Fotografie, Kino und Literatur schufen das Bild eines heroischen Kampfes der Linken, doch kaum jemandem fiel auf, dass die Ikonenflut - von 'Wem die Stunde schlägt' bis zu Capas 'Gefallenem Milizionär' - Stellvertreterfunktion annahm: Sie ersetzte die historische Analyse."

Weitere Artikel: Franziska Bossy ist nach Grindelwald gereist und hat sich die bröckelnde Eiger-Ostwand von unten angeguckt: "Das Poltern des Eigers, als die Felsnase vom labilen Vorbau der Bergwand abbrach, hallte am Vorabend bis in den Ort hinab. 'Es ist schon sehr eindrücklich, wie der Berg implodiert', staunt Gemeinderatsmitglied Patrick Bleuer." Ingeborg Harms und Melanie Mühl berichten von der Modemesse "Bread & Butter" in Berlin. Jürgen Kesting zeigt sich nicht unamüsiert von den Versuchen englischer und italienischer Mediziner und Musikologen, den Geheimnissen der Kastraten auf die Spur zu kommen. Jordan Mejias hat amerikanische Zeitschriften gelesen, die über den Irakkrieg und einen möglichen Krieg gegen den Iran debattieren. Aro. schreibt zum Tod des Komponisten Gerhard Jussenhoven.

Auf der Medienseite beschreibt Jörg Becker, Leiter der Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung mbH in Solingen, das "phänomenale Wachstum" des chinesischen Internethandels. Gemeldet wird, dass die Süddeutsche Zeitung eine Sonntagsausgabe entwickelt, die im Frühjahr 2007 auf den Markt kommen soll. Auf der letzten Seite porträtiert Dietmar Dath die Sexerzieherin LaSara FireFox. Andreas Kilb streift auf den Spuren Gottfried Benns durch Berlin. Und Lorenz Jäger behauptet, der Ungarn-Aufstand 1956 habe antisemitische Züge getragen.

Besprochen werden Bücher, darunter Wolf Lepenies' Buch über das oft unselige Verhältnis von "Kultur und Politik" in Deutschland (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 17.07.2006

Dirk Knipphals spricht ganz locker mal über Wolken: "Geradezu universal dagegen scheint die Ablehnung von wolkigem Gerede zu sein, und fragwürdig ist, ob man mit so etwas in den Perlentaucher kommt." Niemals!

Birgit Rieger hat die Eröffnungsfeier von "Ideal City - Invisible Cities" in Zamosc besucht. Das Städtchen nahe der ukrainischen Grenze war im 16. Jahrhundert als ideale Stadt im Stil der italienischen Renaissance geplant worden, in diesem Sommer soll die internationale Kunstwelt dorthin gelockt werden. Nur einer der Künstler, der Pole Miroslaw Balka, hatte den Mut daran zu erinnern, dass Zamosc auch Ausgangspunkt für den "Generalplan Ost" der Nazis war. "Er entdeckte die formalen Prinzipien der idealen Stadt im Vernichtungslager Auschwitz wieder. Balka errichtet auf einem Rasenstück am Neuen Lublin Tor, einem ehemaligen Zugang zur Stadt, eine mit Mörtel bedeckte Holzskulptur, die an eine Barackenwand erinnert. Sobald sich ein Mensch der Wand nähert, erklingt ein deutscher Marsch."

Weiteres: Daniele dell'Agli meditiert am Beispiel von Johannes B. Kerners Koch-Show über Giorgio Agambens These, der Mensch sei nicht mehr zum Heiligen, sondern nur noch zur "Säkularisierung" heiliger Kräfte fähig. In der Sommerserie über Dinge des Alltags widmet sich Burkhard Brunn der Wand. Besprochen wird Wolfgang Ullrichs Buch "Bilder auf Weltreise".

Auf der Meinungsseite schreibt der Autor und Afrika-Experte John Prendergast nach einer zweiwöchigen Reise in die Region Darfur eindrücklich über den Stand der dortigen Massaker: "Es ist deshalb an der Zeit, ernsthaften Druck auszuüben."

Schließlich Tom.

Berliner Zeitung, 17.07.2006

Der israelische Soziologe Shmuel Eisenstadt erklärt im Interview, wie die Moderne mit religiösem Fundamentalismus zusammen geht: "Fundamentalistische Bewegungen sind modern und sogar anti-traditionell. Aus der Tradition formen sie eine moderne jakobinische Ideologie. In gewissem Sinne sind die Fundamentalisten den Kommunisten sehr ähnlich: wie sie die Gesellschaft organisieren und mobilisieren. Im traditionellen Saudi-Arabien dürfen Frauen nicht Auto fahren. Im moderneren Iran dagegen sind sie aktiv, sie werden politisch mobilisiert. Iran ist eine potenziell sehr lebendige Gesellschaft. Ob es der iranischen Führung gelingt, sie zu unterdrücken, werden wir sehen. Inschallah!"

Spiegel Online, 15.07.2006

So, so, die Reaktion der Israelis auf die Entführung seiner Soldaten, auf den Beschuss mit Hamas-Kassam-Raketen aus dem Gaza-Streifen und mit Hisbollah-Katjuschas aus dem Südlibanon, war also "unverhältnismäßig"? Mag sein, antwortet Henryk M. Broder, "dass eine solche Sicht der Dinge objektiv richtig ist, dann aber muss man die Frage stellen und beantworten: Was wäre die richtige, die angemessene Antwort gewesen, eine Antwort, welche die Situation entschärfen würde, statt sie weiter anzuheizen? Eine Beschwerde beim Sicherheitsrat der Uno? Eine Einladung an die Hamas und die Hisbollah zu einem Runden Tisch irgendwo auf halber Strecke zwischen Gaza und Metulla? Ein Appell an die kollektive Vernunft der freien Welt verbunden mit der Bitte, mäßigend auf die Hamas und die Hisbollah einzuwirken? Schon möglich, dass Israel alles falsch macht, aber so ist das eben im Leben, wenn man nur die Wahl zwischen falsch und verkehrt hat."

NZZ, 17.07.2006

Andreas Breitenstein und Roman Bucheli unterhalten sich mit den Verlegern Egon Ammann und Marie-Luise Flammersfeld, deren Zürcher Ammann-Verlag 25-jähriges Jubliäum feiert. Egon Ammann verrät ein überraschendes Erfolgsgeheimnis: "Viele unserer Erfolge - wie Peltzer, Becker, Julia Franck - waren Einsendungen. Es gab keine Empfehlungen, keine Bekanntschaften, nichts, die Manuskripte kamen per Post. Ich schaue auch heute noch die Post sehr genau an, freilich ist die Menge fast nicht mehr zu bewältigen. Was nach einer ersten Sichtung bleibt, prüfen wir eingehender. Das ist ein unglaublicher Aufwand mit geringem Ertrag. Auf hundert Manuskripte kommt vielleicht ein halbes Buch."

Weitere Artikel: Felix Philipp Ingold stellt einen "Zeitschriftensaal" im russischen Internet vor, der es russischsprechenden Lesern ermöglicht, die Artikel vieler russischer Zeitschriften frei im Netz zu lesen. "as" stellt ein Dossier über Ruanda der Zeitschrift Wespennest vor. Andreas Koehler liest eine soziologische Studie der Duke University und der University of Arizona, die nachweist, dass Amerikaner heute ein Drittel weniger Freunde haben als noch vor zwanzig Jahren.

Besprochen werden ein Konzert der exhumierten Band The Who in Locarno und die Ausstellung "Leuchtende Bauten" im Kunstmuseum Stuttgart.

SZ, 17.07.2006

Werner Koch interviewt den kongolesischen Regisseur und Tänzer Faustin Linyekula (mehr hier) über die Lage in seinem Land. Er äußert sich nicht sehr optimistisch: "Die Europäer sehen den Kongo immer noch als Heimat der Rumba, vitaler, fröhlicher Rhythmen, als sei das das Herz des afrikanischen Tanzes. In Wirklichkeit ist im Kongo gar nichts fröhlich, und deshalb kann ich die alten afrikanischen Tänze auch gar nicht mehr brauchen. Wenn Sie die Afrikaner in ihrem Dorf tanzen sehen, dann formen sie einen Kreis - einen großen, allumfassenden Kreis, der die Gemeinschaft symbolisiert, in der alle aufgehoben sind: als Teil einer Familie und jener großen Kosmologie, zu der auch unsere Ahnen gehören, die im Tanz wieder zu uns finden. Die Realität sieht ganz anders aus. Wenn mich die Kongolesen heute, wie in Afrika üblich, als 'mein Bruder' anreden, dann sage ich: 'Ich bin nicht euer Bruder.' Denn sonst hätte es nicht viereinhalb Millionen Tote in fünf Jahren gegeben. So behandelt man seine Brüder nicht. Der harmonische Kreis ist zerbrochen, jeder versucht, den anderen zu fressen. Ich kann nicht so tanzen, als gäbe es den Kreis noch."

Weitere Artikel: Birgit Schönau fragt im Aufmacher, warum die Deutschen den Italienern den WM-Titel nicht so recht gönnen mochten (vielleicht weil sie ihn selber gewinnen wollten, und zwar gegen Frankreich?) In einer Meldung wird ein Streit in den USA über die Frage nachgezeichnet, ob antike persische Tontafeln, die sich zur Zeit in den USA befinden, eigentlich aber dem Iran gehören, versteigert werden sollen, um amerikanische Attentatsopfer der Hamas zu entschädigen. Jonathan Fischer befasst sich mit der ziemlich komplizierten Frage, wer wen in den USA als "Nigger" bezeichnen darf, ohne als Rassist zu gelten (eigentlich nur schwarze oder weiße Hiphopper innerhalb ihrer Szene), und stellt eine Initiative gegen das "N-Wort" vor. Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler unterhalten sich mit Barry Levinson über die Schwierigkeit, in Hollywood heute einigermaßen gehaltvolle Filme zu realisieren - Levinson bekommt beim Münchner Filmfest einen Preis für sein Lebenswerk. Göttler zeigt sich in einem zweiten Artikel zum Festival etwas enttäuscht über die asiatischen Filme. Christian Jostmann versucht die immer stärkere Fixiertheit von Medien und Öffentlichkeit auf Gedenktage zu erklären. Oliver Herwig analysiert neueste Entwicklungen auf dem Kinderwagenmarkt ("Sie heißen Roadster, und so sehen sie auch aus: Kraftpakete auf drei Rädern, die durch den Park pflügen, als wären sie auf der Autobahn") Auf der Medienseite stellt Claudia Tischky die ARD-Generalsekretärin Verena Wiedemann vor und versucht zu erklären, was es mit deren Job auf sich hat.

Besprochen werden eine große Pierre-Huyghe-Retrospektive in der Tate Modern und einige Bücher (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).