Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.07.2006. Der Fall Maxim Biller empört Literaturwelt und Feuilletons: Nachdem sein Roman "Esra" nach Klage von Billers Lebensgefährtin ratzekahl verboten wurde, soll der Autor nun auch noch 100.000 Euro Entschädigung zahlen. Außerdem: In der SZ erklärt Moshe Zimmermann die Struktur des Nahostkonflikts. Im Spiegel Online schreiben Charles Chahwan und Matthias Küntzel zur selben Frage. Die NZZ hat die kongeniale Antwort auf den kapitalistischen Geist der Studiengebühren gefunden: die Professorenhitliste meinprof.de. Die taz beteuert: Kathrin Passig meint es ernst. Und Arno Breker ist tot.

NZZ, 24.07.2006

Joachim Güntner erhielt spätabends einen Anruf von einem Juraprofessor, der ihn begeistert auf die Website www.meinprof.de aufmerksam machte. Dort bewerten Studenten bundesweit deutsche Hochschullehrer und ihre Lehrveranstaltungen. Natürlich gibt es rechtliche Schwierigkeiten. Dafür steht u.a. der Beauftragte für Datenschutz in Berlin, Alexander Dix. "Zahlreiche Beschwerden seitens professoraler Spielverderber haben ihn zum Eingreifen gezwungen. Wer als Dozent in den Flop-Listen auftaucht, befürchtet Schwierigkeiten bei der Einwerbung von Drittmitteln und bangt um seine Aufstiegschancen." Güntner sieht das ganz anders: "Als Reaktion auf den kapitalistischen Geist der Studiengebühren ist dies zweifellos die kongeniale Antwort."

Barbara Villiger Heilig war bei der Benefizgala, mit der Robert Wilsons Künstlerhaus Watermill Center auf Long Island eröffnet wurde. "Stars wie Isabella Rossellini, Lou Reed (beide kommen mit Hund), Donna Karan oder Richard Meier" kamen und die üblichen Reichen und Superreichen sowieso. "Einmal angekommen beim Gebäude, müssen sie sich allerdings auf ein komisches Intermezzo einlassen: Der Boden des nach oben geöffneten Turms - Licht und Regen sollen eindringen - ist mit knie- und kopfgroßen Kieselsteinen ausgelegt (in Anbetracht des Gewichts von zwei Tonnen und dem darunter liegenden Geschoss sollen die Behörden die Stirn gerunzelt haben), welche das Gehen, insbesondere auf zierlichen hohen Manolo-Blahnik-Absätzen, verunmöglichen. Man - und vor allem frau - wird zum Barfussgang gezwungen. Anders gesagt: Der Bau nötigt seine Besucher zu einer Demutsgeste."

In einem nebenstehenden Artikel (leider nicht online) erläutert Wilson, was es mit dem Center auf sich hat und worin die größte Gefahr liegt: "Ich muss vorsichtig sein, damit meine Persönlichkeit nicht erdrückend wird."

Weiteres: Marc Zitzmann meldet, dass Muriel Mayette die Nachfolge von Marcel Bozonnet als Leiterin der Comedie-Francaise antritt. Hans-Albrecht Koch schreibt zum 100. Todestag des Dichters Ferdinand von Saar. Besprochen werden die Ausstellung "Swiss Pop" im Kunstmuseum Thun und Younghi Pagh-Paans Oper "Mondschatten" in Stuttgart.

Welt, 24.07.2006

Johnny Erling war dabei als in Peking Chinas erstes Ökologie-Aktionsstück aufgeführt wurde, "Yuanmingyuan" von Zhang Guangtian. Neben Schauspielern stehen 100 Umweltaktivisten auf der Bühne. "Sie haben sich über den Saal verteilt, singen und debattieren mit. Aus Sprühflaschen nebeln sie plötzlich die Zuschauer mit Wasserdunst ein. 'Seid froh, dass wir keinen Sand über Euch schütten.' Im April wehten gigantische Sandstürme innerhalb von 24 Stunden 330 000 Tonnen über die Hauptstadt. 30 Kilo Sand rieselten pro Kopf eines Pekingers, genug, um das Oriental-Theater unter sich zu begraben. Aber das bleibt den Zuschauern erspart. Am Ende des Stücks flattern Hunderte Flugblätter durch den Saal mit Warnungen vor der drohenden Umweltkatastrophe. 'Die Gefahr ist schon bei Euch.'"

Thomas Hahn berichtet von Protesten gegen Frankreichs Kulturminister Renaud Donnedieu de Vabres bei der Feier zum 60. Geburstag des Festivals von Avignon. Wütende Künstler ließen "aus fünfzig Metern Höhe von den Zinnen des Papstpalastes Salatblätter auf das ministerielle Haupt rieseln. Das schwoll hochrot an, als ihnen der Minister, wie alle Jahre wieder, erklären wollte, dass er ihre von Arbeitgebern und Sozialkasse geknackte Arbeitslosenversicherung doch gerettet habe und dass er bald zu ihren Gunsten durchgreifen werde. Die Künstler freilich glauben ihm längst nicht mehr und warfen mit Tomaten. Am Abend stürmten sie auf die Bühne des Papstpalastes und beschimpften den hohen Herrn 'Lügner'. Und wussten einen beachtlichen Teil des Publikums auf ihrer Seite."

Weitere Artikel: Christian Thielemann spricht im Interview über seinen Bayreuther Ring. Hendrik Werner meldet Gerüchte über eine Wiederbelebung James Bonds "durch einen 'sehr bekannten und angesehenen Schriftsteller'". Peter Zander resümiert die deutschen Beiträge auf dem Filmfest München: "Da ist sie wieder, die deutsche Schwermut, könnte man meinen. Die Entdeckung dieses Filmfests indes ist, dass zwar die Protagonisten an ihr leiden, nicht aber die Filmemacher. Denn sie erzählen das mit ungeahnt galligem Humor".

Besprochen werden die Uraufführung von Younghi Pagh-Paans Oper "Mondschatten" beim World New Music Festival in Stuttgart, die DVD Paolo Conte live und das neue Album von Mia ("Die Band hat etwas Wichtiges über die deutsche Popmusik erfahren: Innerlichkeit ist nicht politisch, und Gefühle sind noch keine Haltung", meint Michael Pilz und zitiert einige Zeilen: "Uhuhu damit du fühlst / Ahaha damit du fühlst / Uhuhu wie ich / Ahaha".

TAZ, 24.07.2006

Die Frage, ob Kathrin Passigs Erzählung "Sie befinden sich hier" nur gut ist oder auch ernst gemeint, treibt den Betrieb weiter um. Heute verteidigt Dirk Knipphals die taz-Autorin: "Soll man statt von einer Unterwanderung lieber von einer narzisstischen Kränkung des Literaturbetriebs sprechen? Das wiederum würde unbedingt den Ernst unterschätzen, mit dem sich Kathrin Passig ans Schreiben ihrer Erzählung gesetzt hat. Im Gespräch lässt sie zwar Wendungen fallen, die einem aus dem Mund einer Schriftstellerin doch zunächst etwas flapsig erscheinen könnten. Sie sagt: 'Ich bin ordentlich mit dem Metaphernstreuer über den Text gegangen.' Und: 'Es lag mir daran, ein schönes Gewirr aus Querverbindungen herzustellen.' Aber im Verlauf des Gesprächs wird klar, dass sie mit dieser kalten und unsentimentalen Redeweise sehr genau die Probleme von Literaturproduktion benennt."

Weitere Artikel: Brigitte Werneburg besucht die Breker-Ausstellung in Schwerin ("Nach all der medialen Soll-man?-Darf-man?-Muss-man?-Erregung ist in Schwerin eine eher naive als apologetische Haltung zum Ausstellungsgegenstand zu beobachten"). Gerrit Bartels berichtet über den Aufruf der Schriftsteller für Maxim Biller. Besprochen werden das Stones-Konzert in Berlin und Istvan Eörsis erster Roman "Im geschlossenen Raum", der jetzt auf Deutsch vorliegt. Auf der Medienseite schreibt Boris R. Rosenkranz über Zeitungssterben in NRW.

Und Tom.

SZ, 24.07.2006

Der Historiker Moshe Zimmermann versucht, die Struktur des Nahostkonflikts zu erklären, wo der Staat Israel gegen nichtstaatliche Formationen wie Hamas und Hisbollah kämpfen muss. "Europäer und Vereinte Nationen fragen nach der Verhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion. Kann man aber objektiv über das richtige Maß entscheiden? Europa schaut kopfschüttelnd auf den Krieg in unserer Region und wundert sich nicht nur über die Härte der Vergeltung, sondern auch über das Altmodische des israelischen Nationalismus. Europa hat ja angeblich Nationalismus und Staat überwunden und eine trans-souveräne Europäische Union geschaffen. Aber Israelis fragen sich, ob dies tatsächlich der Fall ist. Woher kommen die neuen Parolen aus Polen? Weshalb besteht Deutschland bei der Einbürgerung auf die Beherrschung der deutschen, nicht einer europäischen Sprache?"

Weitere Artikel: Tobias Kniebe stellt Chris Andersons großen Wired-Essay "The Long Tail" über die Funktionsweisen der Internetökonomie vor, der vor zwei Jahren großes Aufsehen erregte und dem ein Blog und jetzt ein Buch folgten. Andreas Bernard fragt, warum sich die Werbung für die kalorienlose Coke Zero allein an junge Männer richtet. Ivo Ritzer stellt uns den Rocksänger und Regisseur Rob Zombie vor, der einen Südstaatenkult um "White Trash, Charles Manson und texanische Kettensägenmassaker" betreibt und damit laut Ritzer irgendwie zu einem Gegenspieler von George Bush wird. Jörg Häntzschel begutachtet Renzo Pianos Anbau zur New Yorker Morgan Library. Jordan Mejias bringt in einigen Meldungen aus New York auch Details über den für Dezember erwarteten neuen Roman von Thomas Pynchon: "Laut einer Inhaltsangabe, die mit Pynchons Namen gezeichnet ist, hat er ein Zeitporträt der Jahre zwischen der Weltausstellung in Chicago 1893 und dem Ende des Ersten Weltkrieges verfasst. Der Roman wird in Colorado, Mexiko, New York, London, Wien und Göttingen spielen." Steffen Kraft stellt das Kunstprojekt "Crash Test Dummy" des Slowenen Marko Peljhan vor, das Überwachungstechniken des Staates aufgreift. Falk Lenke resümiert die Münchner Tagung "Wörterbuch des Krieges", in der Künstler und andere Experten über neue Kriege meditierten.

Auf der Literaturseite wird ein Essay von Martin Mosebach über Mozarts "Figaro" aus dem Salzburger Programmheft abgedruckt. Außerdem dokumentiert die SZ den Aufruf zahlreicher Schriftsteller für Maxim Biller, der nach dem Verbot seines Romans "Esra" nun auch noch 100.000 Euro Schadensersatz bezahlen soll.

Besprochen werden Mozarts "Don Giovanni" am Theater an der Wien, ein Film über den Stummfilmpianisten Willy Sommerfeld, Louis-Malle-Filme auf DVD, Younghi Pagh-Paans erste Oper "Mondschatten" in Stuttgart und Stephane Brizes Film "Man muss mich nicht lieben".

Spiegel Online, 24.07.2006

Zwei Essays zum jüngsten Nahostkonflikt präsentiert Spiegel Online.

Der libanesische Autor Charles Chahwan schreibt einen Text unter dem sarkastischen Titel "Rent a Warzone" und kritisiert unter anderem den Iran: "Der Gipfel des iranischen Projektes im Libanon, so glaube ich, ist ihre einzige vorhandene Atombombe, mit deren Abwurf sie uns beehren wollen. Sie werden die 'Teufel' Amerika und Israel bis zum letzten Libanesen bekämpfen."

Der Publizist Matthias Küntzel schreibt eine sehr scharfe Verteidigung der israelischen Strategie: "Israel darf im Krieg gegen die Hizbollah nicht zum Einlenken gezwungen werden, sondern muss ihn gewinnen. So wie die Hizbollah ihren Krieg stellvertretend für den Iran führt, so bekämpft Israel den genozidalen Islamismus stellvertretend für die westliche Welt."

FR, 24.07.2006

Eine Rehabilitierung Arno Brekers ist die Ausstellung im Schleswig-Holstein-Haus in Schwerin nicht, meint Harry Nutt. Gefallen hat sie ihm trotzdem nicht. "Die Schweriner Ausstellung stellt weniger 'zur Diskussion', wie es im Titel heißt, sie quatscht vielmehr arglos mit. Es werden Indizien gesammelt, die den Nachweis erbringen sollen, dass Breker nicht von Beginn an von nationalsozialistischer Ideologie befallen war und es nach seinem Sündenfall nicht dauerhaft blieb... Der Nationalsozialismus erscheint im Kontext der Ausstellung als schlimme Infektionskrankheit, die beim Genie Breker wieder verklungen ist, ohne dass die Öffentlichkeit die Genesung wahrgenommen hätte."

Weiteres: Joachim Lange versorgt uns mit den neuesten on-dits aus Bayreuth. Sebastian Moll schildert die begeisterte Aufnahme von Norman Fosters Hearst-Turm in New York. In Times Mager stellt Ina Hartwig Erich Kästners Kriegstagebuch vor. Auf der Medienseite beschreibt Götz Nordbruch den Austausch zwischen israelischen und libanesischen Bloggern. Besprochen wird Younghi Pagh-Paans Oper "Mondschatten" in Stuttgart.

FAZ, 24.07.2006

Die FAZ engagiert sich für Maxim Biller, dessen Roman "Esra" wegen allzu großer Lebensnähe nach Klage von Billers ehemaliger Lebensgefährtin verboten wurde. Nun soll Biller auch noch 100.000 Euro Schadenersatz zahlen. Dagegen veröffentlichte die Sonntags-FAZ gestern einen Aufruf prominenter Schriftsteller. Und heute schreibt Daniel Kehlmann: "An dem Fall 'Esra' wird sich zeigen, ob man auf das Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts später einmal mit Amüsement, Spott und Hohn zurückschauen wird als auf ein Land, in dem ein Autor vernichtet werden konnte, weil seine Romane jemandem weh taten. Nicht bloß Maxim Biller steht vor einem Gerichtshof, auch die Richter selbst tun es, und zwar vor jenem der Literaturgeschichte." Auch Hubert Spiegel kommentiert den Fall.

Weitere Artikel: Henning Ritter wirft einen Blick auf die erstaunlich banalen Nazi-Plastiken Arno Brekers, die gerade in Schwerin ausgestellt werden: "Im wesentlichen ist Brekers Werk jener Jahre eine beispiellose Ausschlachtung des verfügbaren Bestands an klassischen Posen und Gesten. Reliefs aus den vierziger Jahren ... sind brutal vereinfachte, sozusagen entkernte Zitate und ins eindeutig Gewaltsame gewendete Varianten antiker Reliefs." Karol Sauerland resümiert neue polnische Diskussionen über Antisemitismus in der Nachkriegszeit und Pogrome des Jahres 1946 und verweist auch auf ein neues Buch von Jan T. Gross, der vor vier Jahren die Debatte um das Massaker von Jedwabne entfacht hatte: "Fear - Anti-Semitism in Poland after Auschwitz" (mehr hier, das Buch ist heute auch in der New York Times besprochen, hier gibt es auch einen Auszug). Tilman Spreckelsen freut sich über den Fund eines mittelalterlichen Fragments zur Artus-Sage in Erfurt.

Auf der Medienseite kolportiert Michael Hanfeld vom Spiegel aufgebrachte Gerüchte, dass einige der Eigentümerfamilien des Süddeutschen Verlags ihre Anteile verkaufen wollen. Und Melanie Mühl stellt die Internet-Fernsehshow "Ehrensenf" vor.

Auf der letzten Seite wirft Britta Richter einen Blick hinter die Kulissen der Salzburger Festspiele, wo in diesem Jahr eine Menge Mozart angesagt ist: "Gerade werden die Programme zu dem Monumentalprojekt 'M22' geliefert. Was wie eine geheimbündlerische Chiffre klingt, bezeichnet das Projekt, Mozarts Bühnengesamtwerk in sechs Wochen an sieben Spielstätten mit 150 Gesangssolisten für 242.000 Besucher und einem zusätzlichen Etat von 7,6 Millionen Euro auf die noch wackeligen Beine zu hieven. Für den, der sich tatsächlich alle zweiundzwanzig Opern, Singspiele und szenischen Fragmente anschauen möchte, ist der 2500 Seiten starke Schuber mit zweiundzwanzig Programm-Bänden gedacht, handlich verpackt, zum Vorzugspreis von neunundneunzig Euro."

Niklas Bender berichtet über einen immer häufigeren, und auch unter Intellektuellen anzutreffenden Rassismus von Schwarzen gegen Weiße in Frankreich und auf den französischen Antillen. Und Gerhard Stadelmaier zeichnet ein Profil des 80-jährigen Dramatikers Tankred Dorst, der in Bayreuth den neuen "Ring" inszeniert.

Besprochen werden die Oper "Antigona" von Josef Myslivecek als deutsche Erstaufführung in Rheinsberg und Sachbücher.