Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2006. In der FAZ erzählt Thomas Hürlimann, wie er erst über die Klostermauer springen musste, um die Schweizer und deutsche Literatur mit seinen Werken bereichern zu können. In der taz entlarvt der Psychoanalytiker Martin Altmeyer das irrationale Kalkül des Terrorismus. In der SZ entwirft Navid Kermani die Vision einer interessengeleiteten Politik des Westens gegenüber Israel. Die NZZ singt eine Hymne auf die cinemas d'art et d'essai in Paris.

TAZ, 07.08.2006

Der Psychoanalytiker Martin Altmeyer schreibt auf der Meinungsseite, dass der Krieg der Hisbollah und Hamas gegen Israel nicht als Widerstand zu verstehen sei, denn die Logik des Terrors folgt keinen rationalen Mustern: "Wie gehen Hisbollah und Hamas mit ihrer neuen, demokratisch legitimierten Verantwortung um? Statt die historische Chance zu ergreifen und in ihren Ländern den zivilen Aufbau zu betreiben, verharren sie in den Traditionen der Kriegsgesellschaft, um in der Pose von Widerstandsgruppen Israel weiter das Existenzrecht zu bestreiten." Und Altmeyer zitiert seinen Kollegen Jonathan Lear zur psychologischen Disposition des Terrorismus: "Während es wohl der Wahrheit entspräche, dass der Terrorist mordet, um für etwas Rache zu nehmen, wäre womöglich ebenfalls wahr, dass er an seiner Kränkung festhalte, um mit dem Morden weitermachen zu können."

Auf der Kulturseite schreibt der libanesische Schriftsteller und Journalist Selim Nassib eine sehr instruktive Geschichte des Libanon, "wo alle Konflikte im Kleinen ausgetragen werden, anstatt sich zu ihrer wahren Größe auszuwachsen". Christian Semler untersucht in einem Artikel zu Brechts 50. Todestag die Beziehungen des Dichters zu chinesischen Klassikern und zu Mao Tse-Tung. Michael Kasiske besucht die vom japanischen Architekturbüro Sanaa entworfene "Zollverein School of Management and Design" (mehr). Besprochen wird Evelyn Grills "grotesker" Roman "Der Sammler".

Schließlich Tom.

Welt, 07.08.2006

Hendrik Werner erinnert an die schmerzhaften Ursprünge der Dauerwelle, die Karl Nessler, der sich später Charles Nestle nennen sollte, vor hundert Jahren erfand. Uwe Schmitt berichtet von einem Revival der schwarzen "big fat momma" im amerikanischen Film. Lothar Schmidt-Mühlisch erzählt, wie Beethovens Geige zurück nach Bonn kam. Petra Stuiber berichtet über den Streit um die neue Tageszeitung Österreich der Fellner-Brüder. Hanns-Georg Rodek schreibt zum Tod des Schweizer Regisseurs Daniel Schmid. Dankwart Guratzsch schreibt zum 900. Todestag von Kaiser Heinrich IV.. Ulrich Weinzierl führt sein Salzburger Tagebuch fort. Manuel Brug sah mit wenig Freude frühe Mozart-Opern bei den Salzburger Festspielen.

NZZ, 07.08.2006

Noch kann Paris 375 Kinosäle vorweisen, was vor allem auf die Programmkinos, die cinemas d'art et d'essai zurückzuführen ist, berichtet Marc Zitzmann. Gegen die billigen Ketten wehren sich die Alteingesessenen durch Originalität. "Die Palme der Animation gebührt Jean-Jacques Schpoliansky. In seinem Kino (dem Balzac) werden die Zuschauer mit kleinen Konzerten von Absolventen des Pariser Konservatoriums und mit hausgemachten Kuchen verwöhnt. Der Betreiber hat keinerlei Scheu, seinem Stammpublikum - der Club des amis du 'Balzac' zählt über 1100 zahlende Mitglieder - mit kommunikativer Jovialität zuzurufen, es solle nicht vergessen, dass es im besten Kino von ganz Paris sitze. Wohlfeiles Eigenlob? Ein Programm wie das der 'Nacht der Allesfresser' unlängst findet man in keinem Multiplex: Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens konnte man Spiel- und Dokumentarfilme sowie TV-Sendungen rund ums Essen sehen - und aus dem neu interpretierten 'Korb der Platzanweiserin' kulinarische Köstlichkeiten naschen, die Köche wie Jean-Francois Piege kreiert hatten, der Zwei-Sterne-Chef des Hotel Crillon."

Paul Jandl porträtiert den österreichischen Schriftsteller Anselm Glück bei einem gemeinsamen Ausflug durch Wien als "freundlichen Dichter. Die Sonne scheint durch seinen hellen Brillenrahmen, und das Haar büschelt sich auf seinem Kopf."

Weitere Artikel: Für Susanne Heine liegt die Beantwortung der Frage "Was ist eine gute Religion?" in der Fähigkeit, den Menschen in Frage zu stellen. Recht zufrieden scheint Derek Weber mit dem wieder auferstandenen Macerata Festival zu sein, das jetzt als Sferisterio Opera Festival von Pier Luigi Pizzi geleitet wird. Christoph Egger schreibt den Nachruf auf den Film- und Opernregisseur Daniel Schmid.

Besprochen wird die Ausstellung "Avantgarde - Diffamierung - Welterbe?" im Meisterhaus Schlemmer in Dessau über die bedrohte Architektur der Moderne in Deutschland und Russland.

FAZ, 07.08.2006

Der Schweizer Autor Thomas Hürlimann, dessen neuer Roman "Vierzig Rosen" demnächst erscheint, erzählt, wie er Schriftsteller wurde. Das ging nicht ganz auf einmal, der Durchbruch jedoch war mit einem Ausbruch aus der Klosterschule verbunden: "Mit sechzehn schrieb ich mein erstes Stück. Dann schlüpfte ich aus der Kutte, schlang mir einen gelben Schal um den Hals, kletterte über die Klostermauer, fuhr per Anhalter nach Zürich, betrat die Direktion des Schauspielhauses und erklärte einer sprachlosen Sekretärin, hier sei die Dichtung, auf die das Haus seit Jahren warte. Ich bat sie, mir so bald als möglich mitzuteilen, wann die Uraufführung stattfinde, und es kommt mir heute wie ein kleines Wunder vor, daß ich nach einigen Wochen von Dietbert Reich, einem mit eingesandten Stücken überschütteten Dramaturgen, zum Gespräch geladen wurde."

Weitere Artikel: Jordan Mejias berichtet von ersten, gemischten Reaktionen auf Oliver Stones Film "World Trade Center" - und findet es selbst eher schade, dass Stone diesmal keinen Oliver-Stone-Film gedreht hat. Im Interview spricht der einstige polnische Staatspräsident Wojciech Jaruzelski "über das Gefühl, die Lehre und das Recht des Krieges". Die Hochschulprofessorin Ursula Link-Heer beklagt sich über so ziemlich alles, was derzeit an deutschen Hochschulen schiefläuft - ein naturgemäß recht langer Artikel. In der Glosse mokiert sich aro. darüber, dass dem Konzern Procter & Gamble die Marke 4711 zu provinziell ist. Christian Meier erinnert anlässlich seines 100. Geburtstags an den Althistoriker Hans Schaefer. Joseph Croitoru referiert die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "Osteuropa", die sich dem Thema Frauen- und Kinderhandel widmet. Einen weiteren "lexikalischen Grenzgang" unternimmt Joseph Hanimann - er widmet sich diesmal der "toten Zeit".

Auf der letzten Seite informiert Dirk Schümer über die jüngsten Aktivitäten des linken italienischen Literaturnobelpreisträgers Dario Fo. Matthias Hannemann war auf einer Kernkraftwerkbaustelle in Finnland. Von der Berliner Aida-Premiere berichtet Britta Richter.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg, dass der Direktor von France Culture, David Kessler, die überaus populäre medienkritische Sendung "Le Premier Pouvoir" von Elisabeth Levy eingestellt hat: "Es sei nicht die Art des Hauses, ein Magazin nach seinem Publikumserfolg zu beurteilen, begründet David Kessler seine merkwürdige Entscheidung." (Hier ein Blog zum Thema)

Besprochen werden eine Ausstellung mit Georg Baselitz' Remixen eigener Werke in der Münchner Pinakothek der Moderne, Axel Bosses Zweitalbum "Guten Morgen Spinner", Jochen Schlömers Salzburger "Mozartverschnitt" mit dem Titel "Irrfahrten" und Bücher, darunter die von Karlheinz Weißmann überarbeitete Version von Armin Mohlers Handbuch "Die Konservative Revolution 1918-1932" und Jean-Claude Kaufmanns Buch "Kochende Leidenschaft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FR, 07.08.2006

Hans-Klaus Jungheinrich resümiert schon mal die Salzburger Festspiele. Viel Mittelmaß, aber ein paar herausragende Inszenierungen gab es auch. Ein Höhepunkt war für ihn die Mannheimer Version der "Mailänder Huldigungsoper 'Ascanio in Alba' (KV 111), die im vollen Ornat der Rezitative und im Faltenwurf gemessener Tempi nachgerade viereinhalb Stunden dauern könnte. Im Salzburger Landestheater ging das in weniger als der Hälfte der Zeit vonstatten - dank pfiffiger Rezitativ-Amputationen (sie waren in knappe, witzige Schauspielerdialoge verwandelt), aber auch dank der flinken und harschen Vortragsart des Dirigenten Adam Fischer. Die geschwinden Streicherfiguren des Mannheimer Nationaltheaterorchesters kamen wie Feuerschlangen daher."

Weitere Artikel: Michael Lüders trauert um das weltoffene Beirut und glaubt, dass die Hisbollah und der fundamentalistische Islam im Libanon durch die Angriffe nur gestärkt wird. Judith von Sternburg bestimmt in Times mager den heutigen Tag als Mitte und Zentrum des Sommerlochs. Auf der Medienseite informiert Norbert Mappes-Niedek über die neue österreichische Tageszeitung Österreich, die Wolfgang und Helmuth Fellner am 1. September lancieren wollen.

Besprochen werden die Ars-Viva-Ausstellung mit Arbeiten der Stipendiaten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI in den Berliner Kunst-Werken sowie Ludwig Fels' Roman "Reise zum Mittelpunkt des Herzens" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 07.08.2006

Noch unterstützt der Westen Israel, weil er wegen des Holocaust ein schlechtes Gewissen hat, schreibt Navid Kermani. Aber was passiert, wenn der "Zorn, den Israel mit seiner Politik der Faust schürt", nun auch den Westen erreicht? "Man wird Kosten und Nutzen berechnen: Israel hat kein Öl und kostet eine Menge Geld. So, wie es jetzt verfasst ist, schafft es instabile Verhältnisse im Nahen Osten und dem Terrorismus eine eigene Legitimation. Es gefährdet so die Sicherheit des Westens. Und so weiter. Eine reine Interessenpolitik, wie sie gegenüber anderen Staaten die Regel ist, würde das Verhältnis des Westens zu Israel grundlegend verändern. Die defizitäre Nutzenrechnung lässt sich nur aufwiegen durch die Humanität, die der Westen dem Staat Israel erweisen muss. Aber das setzt voraus, dass Israel sein humanes Antlitz bewahrt."

Weitere Artikel: Christoph Kappes meldet, dass die drei israelischen Schriftsteller David Grossman, Amos Oz und Abraham B. Yehoshua in einem Aufruf an ihre Regierung Waffenruhe fordern, da "alle erreichbaren Ziele dieser Operation erreicht" wurden. Karl Bruckmaier schreibt zum Tod Arthur Lees, des Sängers der Band Love. Alexander Hösch staunt über die Wiederkehr des Barock in der jüngsten Architektur, und zwar besonders in München ("selbst Jacques Herzog und Pierre de Meuron, die mit strengen Calvinisten-Boxen bekannt wurden, machen inzwischen fast jede Fassade zwischen München, China und Manhattan zum Komplett-Ornament"). Tobias Moorstedt unterhält sich mit dem Soziologen Uwe Schimank über Doping und die gesellschaftliche Heuchelei gegenüber diesem Thema. Auf der Medienseite stellt "jja" die kostenlose Tageszeitung Business News vor, die der Holtzbrinck Verlag ab heute in Firmenzentralen verteilt.

Besprochen werden Alexander Nanaus Dokumentation "Peter Zadek inszeniert Peer Gynt", eine Ausstellung mit Fotografien von Martin Munkacsi in Berlin, zwei Filme von Tony Gatlif auf DVD, Theater- und Musikereignisse der Bregenzer Festspiele und Bücher, darunter Essays von Joachim Sartorius und ein Fidel-Castro-Porträt von Ursula Voss.