Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.08.2006. Die SZ betrachtet schon die Ausstellung "Erzwungene Wege" des Zentrums gegen Vertreibungen und findet eigentlich nichts Rechtes daran auszusetzen. Auch die FAZ hat sich die Ausstellung angesehen. In der NZZ begutachtet der Historiker Christoph Jahr dagegen noch einmal die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums und kommt zu einem vernichtenden Ergebnis. Die taz singt eine Hymne auf das Online-Magazin openDemocracy.

NZZ, 08.08.2006

Zwei Monate nach der Eröffnung nimmt der Historiker Christoph Jahr noch einmal die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums in Augenschein und kommt zu einem vernichtenden Urteil. "Methodische Naivität" ist noch der geringste der Vorwürfe. Auch an den Texttafeln hat Jahr eine Menge auszusetzen: "Die Kampfbegriffe der völkischen Rechten und der Nationalsozialisten wie 'jüdische Weltdiktatur', 'Lebensraum' oder 'Arier' werden lediglich kursiv gesetzt und dadurch hervorgehoben, bleiben aber im Übrigen unkommentiert. Walther Rathenau, so liest man beispielsweise, sei 'auch wegen seiner jüdischen Abstammung zu einem Symbol der verhassten Judenrepublik geworden'. An diesem Satz stimmt nichts, denn die erste deutsche Demokratie war keine 'Judenrepublik', sondern wurde von ihren rechtsextremen Feinden als solche diffamiert. Der 1922 ermordete Reichsaußenminister war nicht 'jüdischer Abstammung' - eine fragwürdig ungenaue Bezeichnung -, sondern Jude von Geburt und lebenslanger, wenn auch schließlich nicht mehr praktizierter Religionszugehörigkeit."

Weitere Artikel: Peter Hagmann bilanziert das Projekt der Aufführung aller Opern Mozarts bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Besprochen werden eine Rotterdamer Ausstellungtrilogie über die chinesische Architekturszene, der neue Roman von Exilautor Ibrahim al-Koni und Eric Hazans Buch "Die Erfindung von Paris", in dem er den Leser mit auf einen Spaziergang durch das Paris des 19. Jahrhunderts nimmt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 08.08.2006

Heinrich Wefing hat die noch nicht fertige Ausstellung "Erzwungene Wege. Flucht und Vertreibung in Europa im 20. Jahrhundert" vor ihrer Eröffnung am Donnerstag besucht und schildert den Druck, der auf den Ausstellungmachern lastet: "Scheitert die Ausstellung, daran lässt Frau Steinbach, die Initiatorin, im Gespräch wenig Zweifel, dann dürften sich auch die ehrgeizigen Pläne für ein Berliner 'Zentrum gegen Vertreibungen' erledigt haben. Gerät die Ausstellung zum Erfolg, wird es schwer sein, sie bei dem 'sichtbaren Zeichen gegen Vertreibungen" zu übergehen, das im Koalitionsvertrag verabredet wurde."

Weitere Artikel: Florian Borchmeyer, Co-Regisseur des Films "Havanna - Die neue Kunst, Ruinen zu bauen", berichtet von den Dreharbeiten in der ruinierten Hauptstadt Kubas. In der Glosse beklagt rmg., dass nun vier weitere Klimt-Gemälde zu Markte getragen werden. Kurz gemeldet wird, dass die israelischen Schriftsteller Amos Oz (mehr), David Grossman (mehr) und Abraham B. Jehoschua (mehr) in einem offenen Brief ein Ende der Angriffe auf den Libanon fordern. Gerd Roellecke antwortet auf die Klage des Romanisten Jürgen Trabant, er werde seines Alters wegen in der Forschungsförderung benachteiligt, mit recht unsentimentalen - aber natürlich nicht persönlich gemeinten - Hinweisen auf Sterblichkeit und Altersstarrsinn. Alexandra Kemmerer hat einen Kongress über globale Gerechtigkeit in Berlin besucht. Bert Rebhandl schreibt den Nachruf auf den Schweizer Filmemacher Daniel Schmid. Jürg Altwegg informiert über einen kleinen Kunstskandal: Im Centre Pompidou gingen zwei Kunstwerke zu Bruch, aber das Museum informierte weder Künstler noch Öffentlichkeit.

Auf der Medienseite erzählt der Journalist Paul Cochrane, wie Journalisten im Libanon arbeiten. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Rossmann den Kunsthistoriker Roland Krischel, der einen Code in Stefan Lochners Gemälde "Die Muttergottes in der Rosenlaube" entdeckt und enträtselt hat. Christian Schwägerl berichtet über das Leben eines Ehepaares, in dem die Frau seit Jahren ihren demenzkranken Mann pflegt. Die neuesten Entwicklungen im Fall der Eremitage-Kunstdiebstähle deuten, informiert Kerstin Holm, auf die Verwandtschaft der verstorbenen Chefkuratorin.

Auf der DVD-Seite werden Kurzfilme von Godard/Mieville, ein Konzertfilm der "Gorillaz" und eine Box mit Roberto-Rosselini-Klassikern vorgestellt. Besprochen werden weiter eine Berner Ausstellung mit Werken von Meret Oppenheim (Website), eine Bremer Ausstellung mit Miniaturplastiken, die neueste Platte des Akustikgitarrenduos "Rodrigo y Gabriela", ein Konzert von Laura Veirs in Köln und Zbigniew Menzels Roman "Alle Sprachen dieser Welt" (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 08.08.2006

Auf der Medienseite gratuliert Lewis Gropp dem Onlinemagazin openDemocracy, das seit fünf Jahren vor allem mit akademischen Autoren den klassischen Medien in Sachen Hintergrundberichterstattung unter die Arme greift. "Mittlerweile entspricht der Publikationsrhythmus ungefähr dem einer Wochenzeitung. Neben politischen Analysten kommen auch Menschenrechtsaktivisten, Literaten und bildende Künstler zu Wort - oder zu Bild, wie jüngst die marokkanisch-französische Fotografin Yto Barrada mit ihrem dramatischen Bildzyklus zu den nordafrikanischen Mittelmeerflüchtlingen. Unter kritischen Intellektuellen genießt das Magazin einen ausgezeichneten Ruf, und so war man auch in der Lage, Autoren wie Ian McEwan, Salman Rushdie oder auch den renommierten Nahostexperten Fred Halliday von der London School of Economics zu gewinnen."

In der Reihe "Kritik der Kritik" beschreibt die Theaterkritikerin Katrin Bettina Müller im Feuilleton die Rückzugsgefechte ihrer Profession, auch innerhalb der Zeitung und Brigitte Werneburg besucht die Ausstellung "Signs & Surfaces" über Tattoos und Körperschmuck seit den 60er Jahren im Berliner Künstlerhaus Bethanien.

Und hier noch TOM.

Welt, 08.08.2006

Die australische Autorin und Juristin Anna Funder, die mit dem Buch "Stasiland" auch in Deutschland bekannt wurde, erklärt im Interview, warum sie sich besonders für die Auswirkungen der Diktatur im Alltag interessiert hat: "Ich finde, das ist ein wichtiges Thema. An der Beschreibung von Diktatur im Alltag lässt sich erkennen, wie schnell Dinge, die eine Demokratie stärken - Meinungs- und Pressefreiheit - abhanden kommen. Das System in der DDR hat nicht nur über Haft funktioniert, sondern viel über Angst und Überwachung. Es waren Repressalien möglich, ohne dafür Gefängnisse zu benutzen. Das war raffiniert und fein psychologisch. Man muss das System denjenigen, die das nicht erlebt haben, verständlich machen."

Weitere Artikel: Josef Engels stellt die Körperskulpturen von 850 nackten Freiwilligen vor, die der New Yorker Künstler Spencer Tunick in Düsseldorf arrangiert und fotografiert hat (mehr hier und hier). Ausgestellt werden die Bilder ab 30. September im Düsseldorfer Museum Kunst Palast. Eckart von Hirschhausen erklärt im Interview, wie man als Arzt zum Kabarett kommt: "Ich hatte schon immer das Gefühl, dass die Medizin kein Wissensproblem, sondern ein Umsetzungsproblem hat. Wir wissen alle, was uns gut täte, wir tun's nur viel zu selten. Und mit Humor ist der innere Schweinehund am besten zu dressieren." Ulrich Weinzierl porträtiert in seinem Salzburger Tagebuch den österreichischen Kabarettisten Josef Hader, der sein erstes Theaterstück "Husten" las.

Matthias Heine weist uns auf eine Sprachkarte des Landschaftsverbandes Rheinland hin, die schöne rheinische Wörter wie das "i-Dötzchen" aufführt. Peter Claus berichtet vom Filmfestival in Locarno. Peter Dittmar meldet, dass das Museum Ludwig nicht mit Wolfgang Tillmans Foto von einem unterm Rock nackten Schotten für die Ausstellung "Das achte Feld" werben darf. In der Ausstellung selbst darf es gezeigt werden. "Welterbe heißt Weltverantwortung", mahnt Dankwart Guratzsch die Dresdner Lokalpolitiker, die übermorgen zum zweiten Mal darüber entscheiden, ob die Bauaufträge für die umstrittene Waldschlösschenbrücke nicht auch gegen den Einspruch der Unesco vergeben werden können.

Besprochen werden eine Cezanne-Ausstellung im Musee Granet in Aix-en-Provence, die Ausstellung "RollenLeben" mit Malerei, Grafik und Zeichnungen von Armin Mueller-Stahl im Schloss Elisabethenburg Meiningen, "ansehnliche Operetten-Raritäten" von Suppe und Dostal in Baden und Bad Ischl und Stefan Maelcks Buch "Pop essen Mauer auf".

FR, 08.08.2006

Dass in Tankred Dorsts Inszenierung des Bayreuther Rings manches weniger ausgereift war, ist auch Christian Thielemanns Schuld, meint der Dramaturg Norbert Abels im Gespräch mit Stefan Schickhaus. "Wenn wir in Frankfurt einen Ring auf die Bühne bringen, haben wir zwischen 36 und 40 Wochen Probenzeit, während wir in Bayreuth jetzt nur rund 12 Wochen hatten. Und ein nicht kleiner Anteil dieser Zeit ist für die Musik draufgegangen. Man kann jedenfalls nicht sagen, dass es ein gutes Verhältnis gab zwischen Herrn Thielemann und Herrn Dorst. Als Dramaturg habe ich mit Dirigenten wie Solti, von Dohnanyi, Nagano oder auch den von mir hoch verehrten Gielen zusammengearbeitet, die sich alle sehr für alles Szenische interessiert haben, die einen offenen Blick dafür hatten und ein Team bilden wollten. Ein Interesse Herrn Thielemanns an dem, was auf der Bühne passiert, konnte ich hier nicht erkennen."

Christian Horn berichtet von japanischen Lagern für deutsche Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg (ein Rundgang durch das größte), wo die Soldaten dank eines verständnisvollen Samurai-Kommandanten zahlreiche Konzerte und Theateraufführungen organisieren konnten. "Doch die Szenenfotos zeigen, dass die Dramen von Gryphius, Goethe, Schiller und Ibsen mit großem Ernst inszeniert wurden. Ein Mann als Minna von Barnhelm oder als Gretchen - die deutschen onnagata waren bald ebenso selbstverständlich wie die gleichnamigen von Männern gespielten Frauenrollen im japanischen Kabuki-Theater. Die Lagerleitung hatte gegen die Aufführungen wenig einzuwenden. Lediglich das Klatschen wurde verboten. Über die Ursachen lässt sich spekulieren. Vielleicht wurde es als blasphemisch empfunden, da auch die Götter vor buddhistischen Tempeln von Tempelbesuchern, bis heute, durch lautes Klatschen begrüßt werden."

Weiteres: Christian Thomas besichtigt die an eine alte Eisenbahnbrücke erinnernde Monumentalskultpur von Claus Bury in Bitterfeld, die man praktischerweise auch als Aussichtsplattform benutzen kann. Harry Nutt staunt in Times mager über den Zustrom an neuen Wildtieren aus den südlicheren Regionen. Daniel Kothenschulte schreibt zum Tod des Schweizer Filmregisseurs Daniel Schmid." Besprochen wird eine Ausstellung mit Zeichnungen von Olaf Metzel in der Staatsgalerie Stuttgart.

Berliner Zeitung, 08.08.2006

Birgit Walter fragt sich, wie der notorisch optimistische Kulturunternehmer Falk Walter den Admiralspalast bis zur Premiere von Klaus Maria Brandauers "Dreigroschenoper" am Freitag fertigstellen will. "Am Montag lagen die Böden voller Pappe, Kabel und Bauschutt, den Fenstern fehlten Scheiben, den Wänden Lampen, den Toiletten Waschbecken und Wände. Von Türklinken reden wir gar nicht. Die neue Treppe ist nicht fertig, eine Außenwand hat Löcher bis nach draußen, dem Innenraum wurde nicht mal ein neuer Anstrich spendiert. 'Es gibt noch ganz ganz ganz viel Arbeit', sagt Falk Walter und schwärmt von raffinierten Fluchtwegen und künftigen Bällen in seinem Haus. Dann kamen in schönster Ausführlichkeit all die Produzenten zu Wort, die ihre Theaterstücke und Shows im kommenden Herbst hier zeigen wollen. Nur Brandauer und seine Stars fehlen."

SZ, 08.08.2006

Constanze von Bullion hat sich für die Seite 3 schon die Vertriebenen-Ausstellung "Erzwungene Wege" (mehr hier) angesehehen, die von der umstrittenen CDU-Politikerin und Vertriebenen-Funktionärin Erika Steinbach organisiert wurde und einen Vorgeschmack auf das "Zentrum gegen Vertreibungen" geben soll. So recht etwas auszusetzen fand sie trotz intensiver Recherche nicht: "Die miefige Folklore jedenfalls wollen die Aussteller vermeiden und statt heiler Lebenswelten und Silberlöffel-Idylle eher Chaos, Transport und Zerrissenheit einfangen." Die Vertreibung der Deutschen wird dabei in den Kontext gestellt: "Ein winziger Kinderschuh aus abgelatschtem Leder erzählt da vom Genozid an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Auf einem Foto brennt die Stadt Smyrna, aus der 1922 die christlichen Griechen vertrieben wurden. Finnische Karelier lernt man hier kennen, deportierte Balten, Polen, Italiener, Moslems aus Jugoslawien, Juden aus Wien und Deutsche natürlich aus dem Osten." Wie der Zufall es will, bringt heute auch die Berliner Zeitung eine atmosphärische Reportage aus Grosny.

Weitere Artikel: Auf der Kulturseite bespricht Willibald Sauerländer die Rembrandt-Ausstellungen in Berlin. Sonja Zekri besucht Künstler und Kulturinstitutionen in dem von Putin aufgeriebenen Tschetschenien ("Die Gewalt hat sich nach innen gewendet, wie ein Geschwür.") Alexander Kissler verfolgte ein von Roman Herzog geleitetes Symposion über Wohl und Wehe der Weltreligionen, das die neu gegründete Ernst-Freiberger-Stiftung in Amerang, Bayern, ausrichtete. "Rtr" stellt ein Dossier über Kriegsverbrechen der US-Armee in Vietnam vor, das aus bisher unbekannten, jetzt freigegebenen Quellen gespeist ist (mehr in der Los Angeles Times). Joachim Kaiser bemerkt in der Kolumne "Zwischenzeit", dass Gottfried Benn keineswegs erst 1933 Affinitäten zum Faschismus zeigte. Jens Bisky verfolgte eine stark besetzte Tagung der "International Society for Justice Research" in Berlin. Stefan Koldehoff geht Zweifeln an der Echtheit von van Goghs "Porträt eines bärtigen Mannes" in der National Gallery of Victoria im australischen Melbourne nach.

Besprochen werden ein Soloalbum des Soulsängers und -Produzenten Pharrell Williams ("das ist zum Teil kompletter Bullshit, bestenfalls Austauschbares aus der großen Hip-Hop-Wort-Stanze, was Williams da rappt oder singt", schreibt ein sehr enttäuschter Dirk Peitz), eine Chagall-Ausstellung im Museum Frieder Burda in Baden-Baden und Bücher, darunter Ludwig Fels' Roman "Reise zum Mittelpunkt des Herzens".