Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.08.2006. Die SZ rechnet mit dem Musikbetrieb ab, der kaum Neues bietet, und erledigt die Musikkritik, die nur mehr "geschmacksorientierte Interpretationskritik" sei, gleich mit. In der FAZ streiten Herwig Birg und Albrecht Müller über die Relevanz demografischer Prognosen. Die Welt staunt über die schieren Ausmaße des Cirque du soleil. Die FR findet: das Heilige Römische Reich ist auch in zwei Ausstellungen nicht wiederzubeleben. In der taz porträtiert Gabriele Goettle die Rechtsanwältin Katja Herrlich, die sich gegen den Rechtsextremismus engagiert.

TAZ, 28.08.2006

Gabriele Goettle besucht in diesem Monat die "Antifaschistin" und Rechtsanwältin Katja Herrlich, die sich in Frankfurt am Main mit den immer organisierteren Neonazis herumschlägt. "Da gab's dann ein so genanntes Nationales Pressearchiv, den Nationalen Beobachter, aus dem dann der Frankfurter Frontbeobachter wurde, den gab's übrigens bis Mitte 2005. Also, das waren bundesweit vernetzte Hetzpostillen, in denen im Rahmen der so genannten Anti-Antifa-Aktivitäten der Nazis die ausgespähten politischen Gegner - Leute wie wir und auch Politiker, Richter, Staatsanwälte, Polizisten, Journalisten - mit Namen, Adresse und Autokennzeichen veröffentlicht wurden, drunter dann die Aufforderung: 'Kameraden, lasst euch was einfallen.'"

In der zweiten taz fragt sich Christian Füller, ob die Universitäten zu wenig gegen potenziell terroristische Studenten unternehmen. Dass der Gedenkort für die während der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen sich auf Schwule beschränkt, erinnert die lesbische Schauspielerin Maren Kroymann an das Totschweigen der Lesbenszene im Nationalsozialismus. Jan Feddersen elaboriert die aktuellen politischen Hintergründe. Und Matt Hermann erfährt von dem Berliner Boer Oktay Urkal, warum er sich für die Respect Gaymes einsetzt.

Und Tom.

Welt, 28.08.2006

Der 1984 von ein paar kanadischen Hippies unter Guy Laliberte gegründete Cirque du Soleil ist mittlerweile das erfolgreichste Zirkusunternehmen der Welt, staunt Uwe Schmitt. "Seine fünf Shows in Las Vegas verkaufen täglich Eintrittskarten für eine Million Dollar; dazu kommen eine Leihgabe in Orlandos Disney World und die reisenden Ensembles. Der Zirkus, inzwischen ein Gigant mit 3000 Angestellten (darunter 900 Artisten) und dem Firmensitz in Montreal, erwartet für dieses Jahr acht Millionen zahlende Besucher. Nach Las Vegas reisen in jedem Jahr 40 Millionen Menschen, und kaum wegen der einarmigen Banditen und Roulette-Tische, die auch ihr Kasino in der Indianerreservation nebenan bietet. 'Sie kommen für ein Erlebnis', weiß Steve Wynn, der in seinem 2,4 Milliarden Dollar teuren neuen Hotel 'La Reve' beherbergt, eine enorme aquatische Produktion des 'Cirque'."

Weiteres: Eckhard Fuhr vergleicht die beiden Leitintellektuellen Günter Grass und Joachim Fest, dessen Erinnerungen "Ich nicht" demnächst erscheinen werden, und stellt fest, dass "bei Grass die Literatur aus dem Leben, bei Fest aber das Leben aus der Literatur entstand". Wieland Freund befragt T.C. Boyle über seinen neuen Roman "Talk Talk", in dem einer Frau ihre Identität gestohlen wird. Peter Zander sieht zwei sehr unterschiedliche Berlins, in "Aeon Flux" und "Sommer vorm Balkon".

Besprechungen widmen sich einer DVD-Kollektion mit Filmen nach den Vorlagen von Tennessee Williams, die Urfassung von Sergej Eisensteins Propagandastreifen "Generallinie" in der Arte-Stummfilm-Edition, und Johan Simons' "moderat melancholische" Eröffnung der Ruhrtriennale mit Calderon de la Barcas "Das Leben ein Traum" in Gladbeck.

FR, 28.08.2006

Johannes Wendland inspiziert das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in Magdeburg und Berlin, und ist trotz der Fülle nicht ganz zufrieden. "Eine 'Massive Attack' mit zusammen eintausendeinhundert Exponaten gegen die vermeintliche Geschichtsvergessenheit. Ob diese Ausstellung allerdings dazu geeignet ist, das breite Interesse an der Epoche der 33 Kaiser - deren Namen und Throndaten vor nicht langer Zeit zum Kern des bürgerlichen Bildungskanons zählten - aufs Neue zu wecken, darf bezweifelt werden. So eindrucksvoll die Exponate auch sein mögen, vor allem dem Ausstellungsteil in Magdeburg gelingt es nicht, das verstaubt Archivarische konventioneller Geschichtsausstellungen hinter sich zu lassen."

Weiteres: Gegen Ende gab es bei den bisher ganz ordentlichen Salzburger Festspielen doch noch einige "kalte Mozart-Duschen", moniert Hans-Klaus Jungheinrich, der besonders vor Doris Dörries "Finta Giardiniera" warnt. Besprochen werden Johan Simons' Version von Pedro Calderon de la Barcas "Das Leben ein Traum" in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel in Gladbeck sowie ein von Jan Assmann, Axel Michaels und Franz Maciejewski herausgegebener Sammelband "Der Abschied von den Toten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 28.08.2006

Frank Schirrmacher und Andreas Platthaus inszenieren einen Austausch von Meinungen zwischen dem Demografen Herwig Birg ("Die ausgefallene Generation"), der für Deutschland düstere Zeiten voraussagt, und dem sozialdemokratischen Bestsellerautor Albrecht Müller ("Die Reformlüge"), für den die Welt abgesehen von der Arbeitslosigkeit soweit in Ordnung ist. Am hübschesten ist folgender Dialog: Birg: "Herr Müller betreibt die von mir so genannte Gelegenheitsdemografie. Die verhält sich zur Fachdemografie wie Astrologie zur Astronomie. Die einen glauben, die anderen rechnen. Es lässt sich überprüfen, wessen Aussagen mit der Realität übereinstimmen." Müller: Mit Verlaub, ich möchte angesichts der Irrelevanz Ihres Faches nicht einmal Gelegenheitsdemograf sein."

Weitere Artikel: Patrick Bahners bespricht im Aufmacher die Berliner und Magdeburger Ausstellungen zur Geschichte des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Für die Leitglosse hat man einen Text Goethes über Schiiten, Sunniten und Armenier ausgegraben. Christian Geyer schreibt über die Dialektik von Vergeblich- und Notwendigkeit in der präventiven Terrorbekämpfung. Julia Spinola berichtet über einen Eklat beim Kunstfest Weimar, wo Hermann Schäfer, Organisator der hochgelobten Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" in Bonn, eine Gedenkrede für Buchenwald hielt in der er die Opfer des KZ mit keinem Wort erwähnte und ausschließlich über das Thema der Vertreibung sprach. Jordan Mejias sah Meryl Streep als Mutter Courage in einem New Yorker Theater. Andreas Rossmann berichtet über die Schenkung eines weiteren Folkwang-Museums durch die Krupp-Stiftung in Essen. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Komponisten Jacques Wildberger.

Auf der letzten Seite erzählt Marc Degens über ein Pfadfinderlager nach Entenhausener Vorbild, in das donaldistische Eltern ihre Kinder schicken können. Franziska Bossy berichtet von der Verleihung von Preisen an engagierte Programmkinos in Deutschland. Und Paul Ingendaay porträtiert die erste Frau von Fidel Castro Mirta Diaz-Balart.

Besprochen werden George Taboris Inszenierung von Brechts "Antigone des Sophokles" am Berliner Ensemble, Hans Werner Henzes Oper "Gogo no eiko" nach Mishima in Salzburg und einige Sachbücher, darunter Michael Borgoltes Summe "Christen, Juden, Muselmanen - Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 nach Christus" und ein Selbsterfahrungsbericht des Soziologen Helmut Dubiel über seine Parkinson-Erkrankung.

NZZ, 28.08.2006

Dorothea Dieckmann liest Günter Grass' Werke mit neuen Augen und glaubt zu erkennen, wie Grass durch "halbes Verschweigen, halbes Aussprechen ein Trauma um(ge)schrieben" hat. Wolfgang Schürer, Professor für Public Affairs an der Universität St. Gallen, plädiert in einem Beitrag für eine Stärkung der interkulturellen Kompetenz der Universitäten. Uwe Justus Wenzel widmet sich dem von der Internationalen Astronomischen Union besiegelten Schicksal Plutos, fürderhin nicht mehr als Planet um die Sonne zu kreisen, sondern nur noch als Zwergstern. Manfred Koch erinnert an Goethes 43. Geburtstag am 28. August 1792. Sieglind Geisel schreibt zum fünfzigsten Geburtstag der Bravo.

Besprochen werden die Ausstellung "Future City" in der Barbican Art Gallery London und Calderons Stück "Das Leben ein Traum" bei der Ruhrtriennale.

SZ, 28.08.2006

Reinhard J. Brembeck beklagt die Vernachlässigung der zeitgenössischen Musik. In der Saison 2004/05 waren gerade einmal 3,6 Prozent aller Aufführungen Ur- und Erstaufführungen. "Das ist erbärmlich wenig", konstatiert Brembeck: "Diese überragende Dominanz des Etablierten lässt die Klassik für Außenstehende nicht gerade als einen prickelnd vitalen Kunstmarkt erscheinen. Statt dessen konzentriert sich in der Klassik das Interesse fast ausschließlich auf die im Nuancenbereich angesiedelten Fragen der Interpretation. Weshalb schon seit langem keine Musikkritik mehr existiert, die diesen Namen tatsächlich verdienen würde. Musikkritik heute ist fast ausschließlich geschmacksorientierte Interpretationskritik, bei der die nachschreibende oder analysierende Werkbetrachtung allenfalls am Rande eine Rolle spielt, obwohl sie doch der zentrale Ausgangspunkt für eine angemessene Wertung einer Aufführung sein müsste."

Weitere Artikel: Im Streit um die Rückgabe von Kirchners "Straßenszene" wertet Stefan Koldehoff die Akten aus und kommt zu dem Schluss, dass die verfolgten Hess-Erben große Teile ihrer Kunstsammlung, darunter auch die "Straßenszene", unter dem Druck des Nationalsozialismus abgegeben und damit absolut zu Recht die Restitution eingefordert haben. Jens Bisky berichtet von dem Eklat beim Weimarer Kunstfest, den Hermann Schäfer, Leiter der Abteilung Kultur und Medien beim Bundeskulturbeauftragten, auslöste, als er in seiner Rede zum "Gedächtnis Buchenwald" über Flucht und Vertreibung sprach, nicht aber über Buchenwald.

Christine Dössel spricht mit der Autorin Yasmina Reza über ihr neues Stück "Im Schlitten Arthur Schopenhauers", über ihre Lieblingsphilosophen und die Rolle des Schriftstellers: "Ich wäre lieber tot als eine moralische Instanz!" Henning Klüver schickt Nachrichten aus der Kunst- und Kulturszene in Mailand. Miriam Stein trifft die "tolle" schwedische Rockband Mando Diao. Cornelius Wüllenkemper berichtet von einem Kongress zu "Nationalstaat, Nationalismus und Militär" in Potsdam.

Auf der Medienseite berichtet Gunnar Herrmann vom Zeitungskrieg in Dänemark, wo demnächst fünf Gratisblätter miteinander konkurrieren: "Papier von früh bis spät. Seit einigen Tagen finden Großstadt-Dänen in ihrem Briefkasten Dato, das Umsonstblatt des Hauses Berlingske (Orkla Media), und 24timer vom Konkurrenten JP-Politiken. Im Oktober kommt die Nyhedsavisen dazu. Auch der Metro-Verlag hat vergangenen Montag eine neue Zeitung auf den Markt gebracht. Der schwedische Konzern verteilt seit langem MetroXpress umsonst in Dänemarks Städten. Die neue Konkurrenz am Morgen kontert das weltgrößte Gratiszeitungshaus mit einer Nachmittagszeitung. Redaktionsschluss ist bei Metro nun zweimal am Tag: um Mitternacht und um zwölf Uhr mittags."

Besprochen werden Johann Simons Inszenierung von Calderans "Das Leben ein Traum", mit dem in Gladbeck die Ruhrtriennale eröffnet wurde, Aufführungen von Mozarts späten Symphonien und Henzes Mishima-Oper "Gogo No Eiko" in Salzburg und Bücher, darunter eine Goethe-Hörbuch-Box, zwei Bücher zur Fotografie von Bernd Stiegler und Johann Georg Kohls Reisebericht "Moskau 1841" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).