30.08.2006. Die taz kommt nach einer postkonfessionalen Lektüre von "Katz und Maus" zur Erkenntnis, dass Grass dort den V-Effekt als Sicherheitsmaßnahme eingesetzt habe. Der Eklat beim Weimarer Kunstfest, wo Hermann Schäfer eine Buchenwald-Gedenkrede ganz ohne Buchenwald hielt, macht weiter von sich reden. Im Tagesspiegel erklärt Hans Werner Henze, was er an seinem Leben ein bisschen schade findet. Die Welt berichtet über den Plan für ein rumänisches Holocaust-Mahnmal.
Spiegel Online, 30.08.2006
Nagib Mahfus ist tot.
Spiegel Online meldet, dass der
ägyptische Autor in gestern Kairo im Alter von 94 Jahren gestorben ist. Er war der erste arabischsprachige Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis erhielt.
TAZ, 30.08.2006
Markus Joch hat sich noch einmal Günter Grass' Novelle "
Katz und Maus"
vorgenommen und versucht, "aktuelle Auskünfte des Autors in Beziehung" zu diesem zweiten Teil der Danziger Triologie von 1961 zu setzen und zu zeigen, wie der Autor darin "die
wahnhafte Männlichkeitshuberei seiner jungen Jahre" fiktional verschlüsselt
habe. Dass Grass seinen Helden Joachim Mahlke darin "lächerlich zu machen suchte, seinen Helden also auch weltanschaulich von sich wegrückte, verweist auf das Erzeugungsprinzip der ganzen Erzählung. Der Autor versah seine Figur mit einer Reihe nicht-identischer Züge, verfremdete sie, um das fast Identische gefahrlos sagbar machen zu können - der
V-Effekt als Sicherheitsmaßnahme."
Weitere Artikel: Brigitte Werneburg
kommentiert die politische Empörung auf Grund der
Rückgabe des
Kirchner-Bildes "Berliner Straßenszene" an die Erbin der jüdischen Vorbesitzer, die nach dem Willen der Berliner CDU nun einen
Misstrauensantrag gegen Kultursenator Flierl münden soll und dabei nur Ausweis des völligen Fehlens einer "ernsthaften Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Hinterlassenschaft" in der Hauptstadt sei. Von der
Biennale in Venedig
berichtet Cristina Nord, dass deren Profil
durch Leiter Marco Müller allmählich immer klarer werde; Müller favorisiere nämlich eine Mischung, die "zwar gewagt, im Glücksfall jedoch nahezu vollkommen ist": "zum einen Spektakel- und
Mainstreamkino aus Asien und Hollywood, zum anderen aber nicht-narratives, ins Experimentelle weisendes
Autorenkino", die er im Wettebewerb gern "ungeschützt aufeinanderprallen" lasse. Auf der Meinungsseite spricht der in Yale lehrende Orientalist
Mokhtar Ghambou im
Interview über die Gründe für den
islamischen Fundamentalismus.
Christian Semler schließlich
bespricht die Doppelausstellung in
Berlin und
Magdeburg zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, in denen ihm "eine sozialhistorische Komponente" fehlt: "Alles
schön, aber alles bleibt
stumm".
Und
hier Tom.
FR, 30.08.2006
Christian Thomas
kommentiert die
Rede von
Hermann Schäfer, Ministerialdirektor beim Kulturstaatsminister Bernd Neumann, der in Weimar vor Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald nur ein Thema kannte: die
Vertriebenen. Das Debakel
zeige anschaulich, dass "die Repräsentanten dieser Vertriebenen-Innenpolitik nicht untätig (sind), wenn es um eine Akzentverschiebung
auf dem Großterrain bundesdeutscher Erinnerungspolitik geht. Gerade die Vertriebenenverbände haben ihre Erinnerungspolitik jahrzehntelang als '
Opferkonkurrenz' betrachtet und dabei eine so zähe wie 'eifersüchtige Aggressivität'
an den Tag gelegt, die Ursachen der nationalsozialistischen Verbrechen verharmlosend, relativierend, leugnend. Es ging um eine
Verdrängungspolitik, nicht nur mit Blick auf die historische Verantwortung, sondern auch mit Blick auf Erinnerungskonkurrenten."
Weitere Artikel: Daniel Kothenschulte
prophezeit für die heute beginnende
Biennale in Venedig "so viele Hollywoodstars wie lange nicht mehr" und hofft "auf ein
überraschend reiches Aufgebot für ein fortgeschrittenes Kinojahr, das noch ein paar schöne Filme gut gebrauchen könnte". Michael Kohler
stellt das ehrgeizige Projekt des Gelsenkirchners
Museum für Architektur und Ingenieurskunst (M:AI) in Nordrhein-Westfalen vor. Und in Times mager
berichtet Mark Obert über einen gewissen Dr. Mounir Herzallah aus Berlin, der in einem - mittlerweile im Netz weltweit verbreiteten - Leserbrief an den Tagesspiegel über sein
Leben mit der Hisbollah im Südlibanon berichtet hatte: alles nur ein
Fake.
Besprochen werden der dänische
Film "Adams Äpfel" von
Anders Thomas Jensens, eine "moralische Fabel" mit skurrilem Humor, und
Bücher, darunter der neue
Roman von
Marlene Streeruwitz "Entfernung" und
Peter Esterhazys mitunter "anarchische", aber "aufregende"
"Einführung in die schöne Literatur" (mehr dazu in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
NZZ, 30.08.2006
Im Kommentar zu
Hermann Schäfers Buchenwald-loser Buchenwald-Rede
erwähnt Joachim Güntner nebenbei, dass
Günter Grass nun vielleicht doch nicht in der SS-Division "Frundsberg", sondern in einer "Panzerjäger-Ausbildungs- und
Ersatzabteilung der SS" gewesen ist. Der Kaffee gegenüber schmeckt zwar wie Schaschlik, aber mit Mut zu radikalen Künstlern könnte die im April gestartete Hamburger
Theaterfabrik reüssieren,
meint Thomas David nach einem Werkstattbesuch. Das
Filmfestival von Venedig könnte sich diesmal lohnen,
denkt Marli Feldvoss bei einem Blick auf das von brisanten historischen Themen dominierte
Programm. Roman Hollenstein
rät den Stadtplanern von Locarno beim anvisierten
Festivalturm mit Kinos und Verwaltungsräumen zur Vorsicht, und drängt auf eine baldige Wiederbelebung des
Grand-Hotels.
Besprochen werden die sechs
Mozart-Klavierkonzerte mit
Andras Schiff auf dem Luzerner Festival, wobei KV 449 und KV 450 gar zum ersten Mal dort gespielt wurden, und Bücher, darunter Silvio A. Bedinis Darstellung des Roms der Hochrenaissance "
Der Elefant des Papstes", Martin Andrees Gedanken zur "Archäologie der Medienwirkung" sowie
Doris Lessings Roman "Die Geschichte von General Dann und Maras Tochter, von Griot und dem Schneehund" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
Tagesspiegel, 30.08.2006
Christine Lemke-Matwey hat den achtzigjährigen
Hans Werner Henze in Castell Gandolfo getroffen, dessen Oper "Gogo no eiko" morgen Abend in der Berliner Philharmonie gespielt wird. Das
Interview scheint nicht ganz einfach gewesen zu sein.
"Ich habe in meinem Leben furchtbare Sachen gemacht. Das kann man gar nicht erzählen."
"Schade."
"Ja, das ist ein bisschen schade."
Berliner Zeitung, 30.08.2006
Die CDU-Politikerin
Monika Grütters erklärt im
Interview, was sie als Berliner Kultursenatorin durchsetzen würde:
mehr Geld für die Universitäten und die
Kultur. Kommen soll es "zum Beispiel aus der Kulturwirtschaft, die in dieser Stadt überhaupt keinen Stellenwert hat. Kultur ist unbestritten der wichtigste Tourismus-Faktor, bleibt aber fast ohne Aufmerksamkeit. Was folgt denn daraus, dass Berlin kein Industrie-, sondern ein Dienstleistungsstandort ist?
London hat in den achtziger Jahren in den sogenannten Creative-Industries-Bereich investiert; dazu gehören natürlich nicht nur die Künste, sondern auch Werbung, Mode und Design. Heute kommt in London jeder dritte Job aus diesem Bereich.
Wien hat das nachgemacht, auch für Berlin wäre dies ein außergewöhnlicher Entwicklungsmotor."
Welt, 30.08.2006
Sven Felix Kellerhoff
berichtet, dass
Rumänien den Opfern des Holocaust ein Mahnmal errichten will. Unter dem Diktator
Ion Antonescu hatte Rumänien die Juden ganz ohne deutsche Regie verfolgt: "Antijüdische Gesetze waren unter seinem Regime auch bei anderen Verbündeten des Dritten Reichs üblich; so gab es in Italien und Ungarn auch vor der Besetzung durch deutsche Truppen 1943/44 massive Diskriminierungen von Juden. In keinem anderen Land aber radikalisierten einheimische Kräfte aus eigenem Antrieb die Judenverfolgung auch ohne die deutschen Einsatzkommandos so sehr wie in Rumänien."
Weitere Artikel: Peter Zander
gibt einen Ausblick auf die
Filmfestspiele von Venedig, die heute mit
Brian de Palmas Thriller "The Black Dahlia" eröffnet werden. Erst hätte
Tom Tykwers "Parfum" gezeigt werden sollen, aber Produzent Bernd Eichinger wollte den Film lieber gleich "dem Publikum schenken". Zwei Jahre nach dem Brand in der
Anna Amalia Bibliothek bilanziert Stiftungspräsident Hellmut Seemann im Interview die Schäden: 50.000 Bände wurden zu Asche, darunter die Musikalien und ein großer Bestand der Werke von
Wieland und
Jean-Paul. Uta Baier
will es der Stadt Hagen nicht als Erfolg durchgehen lassen, dass nach zehn Jahren Planung endlich der Grundstein für das
Emil-Schumacher-Museum gelegt wurde. Thomas Kielinger
geißelt Tony Blair dafür, den verpflichtenden
Fremdsprachenunterricht in den Schulen abgeschafft zu haben.
Sehr lustig und "
schwarz wie Opas Lunge"
findet Elmar Krekeler die Satire "Thank you for smoking", Sven Felix Kellerhoff
nennt den heute Abend laufenden ARD-Film über Humor im Dritten Reich dagegen "gut gemeint".
Dankwart Guratzsch
kommentiert auf den Forumsseiten den Streit um die Dresdner
Waldschlösschenbrücke mit Schinkel: "Das Nützliche und Nothdürftige, so gut es an sich ist, wird widrig, wenn es ohne Anstand und Würde auftritt, und zu diesen hilft ihm blos die Schönheit."
SZ, 30.08.2006
Vollkommen aus dem Häuschen ist Gottfried Knapp über die Wiedereinweihung des "Weltwunders"
Grünes Gewölbe in Dresden. Neben der "
niederschmetternden Fülle erstrangiger Meisterstücke des Kunsthandwerks", kommen nun "vor allem die Säle selber, die ja als hochrangiges bildnerisches Gesamtkunstwerk des Barocks zurückzugewinnen waren (...), erstmals in ihrem ganzen
elitären Individualismus zur Wirkung". Vor den Juwelenschätzen der Sächsischen Fürsten warnt er ausdrücklich: Sie "beschießen den Betrachter mit Tausenden von
brillanten farbigen Blitzen. Wer hier nicht in Deckung geht, der wird dem alten Mythos 'Grünes Gewölbe', den man schon tief versunken glaubte, endgültig verfallen."
Der in Berlin lebende Medienkünstler
Olaf Arndt, Mitglied der Künstlergruppe
BBM, setzt sich erneut mit Waffen auseinander, diesmal Modelle, die das amerikanische Militär gegen Aufständische einsetzt beziehungsweise einsetzen will. Es handelt sich dabei um so genannte "
nicht-tödliche"
Waffen mit freilich grauenvoller Wirkung, die "aus der Wunderkammer der Science-Fiction" zu kommen scheinen. So etwa Hitzekanonen wie den "Sheriff", die ein ehemaliger Team-Leader des Marine Corps den "heiligen Gral der crowd control" nennt und die "die
Lücke zwischen '
Warnschrei und Schuss' bei der Unterwerfung aufrührerischer Massen" schließen".
In einem ausführlichen
Interview spricht die Sopranistin
Christine Schäfer, die als "spannendste" deutsche Sängerin gilt und derzeit auf den
Salzburger Festspielen triumphiert, über Intimität, Kinder und Vermarktung ("Ich mag nicht in einer Woche drei Interviews geben, das
verunschönt mein Leben.") Susan Vahabzadeh
informiert über das Programm der diesjährigen
Biennale von Venedig. Christoph Kappes stellt das Projekt
"Dropping Knowledge" vor, das im Netz
drängende Fragen sammelt, eine Auswahl von 100 sollen am 9. September von 112 Wissenschaftlern und Künstlern beantwortet werden. Dorion Weickmann resümiert eine Berliner Veranstaltung mit dem Pariser Politologen
Alfred Grosser, der "die doppelte deutsche
Diktaturerfahrung" analysierte. Sonja Zekri informiert über den sensationellen Fund einer 1400 alten Einweihungsschrift in den Trümmern der Buddha-Statuen von
Bamian. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den kanadischen Tenor
Leopold Simoneau.
dpa meldet nach dem Eklat um die Weimarer Rede von Hermann Schäfer schließlich die "
nächste Panne" aus der Behörde des Kulturstaatsministers: Durch ein "technisches Versehen" sind demnach alle
KZ-Gedenkstätten in einem Schreiben aufgefordert worden, zum "Tag der Heimat" am 3. September die
deutsche Fahne zu hissen.
Besprochen werden der gelungene Einstand von
Lothar Zagrosek als neuer Chefdirigent des Berliner
Konzerthausorchesters und
Bücher, darunter die Neuübersetzung von
Jean Genets Spätwerk "Ein verliebter Gefangener" und eine Studie über "Die Möglichkeit des Guten.
Ethik im 21. Jahrhundert" von Wilhelm Vossenkuhl (siehe dazu unsere
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).
FAZ, 30.08.2006
Paul Ingendaay schreibt über die reichlich späte Exhumierung und Umbettung von
republikanischen Bürgerkriegsopfern in der spanischen
Provinz bei
Toledo: "'Es ging auch um Nachbarschaftsstreit', sagt Benito Sanchez über die ersten Kriegsmonate, 'kleine Abrechnungen unter Leuten, die sich gut kannten.' Bei solchen Sätzen löst sich der politische Charakter des Bürgerkriegs auf, und zurück bleibt die Geschichte von
Kain und Abel."
Weitere Artikel: Patrick Bahners
liefert im Aufmacher eine vertrackte Analyse des Eklats beim
Weimarer Kunstfest, bei dem es Festredner
Hermann Schäfer schaffte, eine
Buchenwald-Gedenkrede zu halten, ohne Buchenwald zu erwähnen. Andreas Kilb
mokiert sich in der Leitglosse über einen Aufruf des Deutschen Historischen Museums, das um Einreichung
interessanter Biografien nachsucht. Michael Althen
schickt seinen ersten Bericht vom brillant besetzten
Filmfestival Venedig und preist schon mal "die ungewöhnlichste
Leichenfundsequenz des Kinos" in
Brian de Palmas Verfilmung der "Black Dahlia" von James Ellroy. Christian Geyer
denkt über die persönliche Erklärung des österreichischen Teenagers
Natascha Kampusch nach, die acht Jahre in der Gewalt eines Kidnappers zubringen musste. Andreas Platthaus gratuliert dem Comicautor
Jacques Tardi auf einer schön bebilderten Seite zum Sechzigsten. Thomas Wagner schreibt zum Tod der Malerin
Susanne Paesler im Alter von nur 43 Jahren.
Auf der Medienseite eröffnet die
FAZ eine Reihe von Radio-Reminiszenzen mit einem Text von Radiopionier und Romancier
Michel Tournier: "Das Radio richtet sich an die Augen der Seele, das Fernsehen wendet sich an die Augen des Körpers. Im Fernsehen besitzen die Menschen nur das Gesicht, das die Natur ihnen gegeben hat." Gemeldet wird, dass die Deutsche Welle ihre Pionierarbeit in Afghanistan abgeschlossen hat und dass der Pulitzerpreisträger
Paul Sapotek vom sudanesischen Regime ins Gefängnis gesteckt wurde.
Auf der letzten Seite resümiert Jürg Altwegg französische Beiträge zum Fall
Grass. Und Thomas Thiel porträtiert den Punksänger
Bela B.Besprochen werden eine
Ausstellung über den Architekten
Gottfried Böhm in
Frankfurt, Konzerte beim
Kunstfest Weimar, eine Ausstellung über die Künstlergruppe
Spur in
München und ein Konzert der Band
Cursive in Köln.