Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.09.2006. In der taz kritisiert Klaus Modick die Häme, Machtimpulse und Verunglimpfungskritik der Feuilletons. In der SZ pocht Oliver Stone darauf, dass sein 9/11-Film "WTC" unpolitisch ist, was ihm Slavoj Zizek jedoch nicht durchgehen lassen will. Die FAZ berichtet über das Walten der chinesischen Internet-Polizei. Die Welt begutachtet die neo-putinistische Architektur in Moskau. Die Berliner Zeitung beschreibt, wie heikel historische Themen für türkische Autoren sind. Und die NZZ schwärmt von John Banvilles Roman "Die See".

TAZ, 05.09.2006

In einem Gespräch mit Frank Schäfer kritisiert Autor Klaus Modick die Literaturkritik: "Ich beobachte schon seit längerem, dass es zunehmend eine Form der Häme, eine Verunglimpfungskritik gibt, von der auch die großen Feuilletons nicht frei sind. Es geht dabei nicht mehr darum, zu zeigen, warum ein Buch missfallen hat oder warum es ein möglicherweise missglücktes Buch sei, das ist ja das gute Recht und meinetwegen auch die Pflicht der Kritik, sondern es kommt zu Verunglimpfungen kompletter Autorenexistenzen... Ich glaube, es steckt ein Machtimpuls dahinter. Man muss einräumen, auch wenn die Kritik an Einfluss auf den Markt verliert, innerbetrieblich ist sie so wichtig wie eh und je, indem sie eine Art Ranking erstellt, und dieses Ranking ist wiederum enorm wichtig für die Reputation der Autoren, und die ist wichtig, wenn es um Stipendien und Preise geht. Da hat die Kritik nach wie vor enorme Macht. Da werden Leute regelrecht exkommuniziert oder eben geadelt, je nachdem."

Harald Fricke stellt den chinesischen Künstler Cai Guo-Qiang vor, einen "größten Knaller der internationalen Kunstszene", dem das Deutsche Guggenheim Berlin eine Ausstellung widmet. Ein wenig vermisst Fricke die Tiefenschärfe in den Pyro-Spektakeln, für die Cai Guo-Qiangs gern mal eine Hausattrappe am Anhalter Bahnhof in die Luft jagt. "Das Ergebnis sieht bezaubernd aus und hat doch den Schockeffekt blindwütiger Zerstörung, der eine Ahnung von Krieg und Vertreibung gibt."

In der tazzwei schreibt Harald Welzer über die Generation Grass: "Die Generation der heute etwa Achtzigjährigen ist nationalsozialistisch geprägt worden und bildete zugleich den jüngsten Teil der Aufbaugeneration der demokratischen Nachkriegsgesellschaft. Diese doppelte Prägung hat tiefe Spuren hinterlassen. Bei aller intellektuellen Distanz zum Nationalsozialismus kennzeichnet sie eine gewisse Starrheit im Habitus, eine Neigung zur Unbedingtheit, zum Rechthaben, zum Eindeutigen. Vielleicht ist die Generation von Walter Jens, Joachim Fest, Martin Walser oder Günter Grass gerade dort am engsten an die Vergangenheit gebunden, wo sie sich am weitesten von ihr entfernt glaubt."

Weiteres: Robert Misik denkt über Nutzen und Nachteil von Metaphern und ihre Bedeutung für den Fortschritt des Wissens nach. Cristina Nord hat sich bei den Filmfestspielen von Venedig Barbara Alberts "Fallen" und Tsai Ming-Liangs "I Don't Want to Sleep Alone" angesehen. Jan-Hendrik Wulf bespricht zwei Dokumentarfilme über von der Stasi zerstörte Familien.

Und Tom.

FAZ, 05.09.2006

Mark Siemons berichtet, dass Chinas Medienpolitik zusehends restriktiver wird: "Dreißigtausend Internet-Polizisten suchen das Netz nach heiklen Stichworten ab; dazu können außer den einschlägig bekannten Tibet-, Taiwan- und Tiananmen-Themen auch Landenteignungen, Proteste, Arbeitslosigkeit und Umweltschäden gehören. Die entsprechenden Websites werden gesperrt. Laut der parteiamtlichen 'People's Daily' wurden allein 2004 nicht weniger als 338 Veröffentlichungen eingezogen, 202 Zeitungsbüros geschlossen und 73 Organisationen bestraft." Der von Siemons zitierte Publizist Li Datong sehe das allerdings eher als Zeichen der Schwäche: "Gerade weil die Pluralität und Professionalität der mittlerweile meist privatisierten Medien in China größer geworden sei als je zuvor, würden auch die staatlichen Überwachungsanstrengungen immer stärker."

Weitere Artikel: Alles andere als begeistert zeigt sich Dirk Schümer in Venedig von den Wettbewerbsfilmen "Fallen" von Barbara Albert und "The Fountain" von Darren Aronofsky. Andreas Platthaus feiert den kleinen, aber höchst erfolgreichen Film zu Walter Moers neuem Adolf-Comic, in dem der Führer lau badet, mit Gesang. Zum Ende der diesjährigen Festpiele fragt sich Julia Spinola, wie es unter dem neuen Intendanten Jürgen Flimm weitergehen wird. Edo Reents schreibt zum Tod des österreichischen Schriftstellers Gerhard Amanshauser - und gratuliert dem Songwriter Loudon Wainwright III zum 60. Geburtstag. Auf der DVD-Seite ist man ganz auf französische Heldendarsteller fixiert: Es werden Jean-Gabin-, Lino-Ventura-, Yves-Montand-, Alain-Delon- und Jean-Reno-Filme begutachtet.

Auf der letzten Seite weiß Jordan Mejias von einem kleinen Architekturwunder in Minneapolis zu berichten (ein erster Eindruck). Michael Jeismann informiert über Ärger mit dem Chefpersonal beim Frankfurter Fritz-Bauer-Institut. Aleksandra Ilinia porträtiert Nikolaj Mazhar, den Gründer der Privatuni von Smolensk.

Besprochen werden das Konzert des London Philharmonia Orchestra unter Ricardo Muti in der Alten Oper, die Ausstellung "Von Kandinsky bis Tatlin" im Bonner Kunstmuseum, die Ausstellung "Geliebtes Europa - Ostindische Welt" in Halle, ein Berliner Konzert der Kölner Band "Erdmöbel" und das neue Album "Superbi" von "The Beautiful South". Eine Rezension gibt es zu Yumiko Kurahashis Roman "Die Reise nach Amanon" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 05.09.2006

Restlos begeistert zeigt sich Thomas David von John Banvilles neuem, mit dem Booker Prize ausgezeichneten Roman "Die See": "'Die See' ist eines von John Banvilles schönsten Büchern, sein stilles, gänzlich unprätentiöses und von wenig äußerer Handlung beschwertes Meisterwerk, in dem es dem Autor aufs Überzeugendste gelingt, die motivischen Strömungen früherer Bücher in den unaufhaltsamen, letztlich nur von den wechselnden Gezeiten der Erinnerung bewegten Fluss seiner Erzählung aufzunehmen. Banville verdichtet die Atmosphäre des Romans dabei mitunter so stark, dass er 'die Membran des bloßen Bewusstseins' zu durchstoßen scheint und Mordens grandiosen Monolog in einen anderen Zustand überführt."

Weitere Artikel: Nick Liebmann berichtet vom 32. Jazzfestival Willisau. Nachrufe gibt es auf den Jazzmusiker Dewy Redman und den Autor Gerhard Amanshauser.

Besprochen werden die Uraufführung von Heinz Spoerlis 'moZART'-Ballett im Opernhaus Zürich und ein Konzert des Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst beim Lucerne Festival. Rezensionen gibt es außerdem zu Wolfgang Hermans Prosaband "Herr Faustini verreist" und zu Martin Mosebachs Essays "Schöne Literatur" (mehr in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 05.09.2006

Die neue Architektur in Russland orientiert sich an der vorsowjetischen Vergangenheit, fällt Philipp Meuser auf. Historische Korrektheit ist aber nicht angesagt, wie man beim Moskauer Edelwohnblock "Patriarch" sehen kann. "Mit seiner ausgesprochenen Vielfalt an Farben und Formen zeigt das für die neue Elite errichtete Haus einen beispiellosen Stilmix. Die neobarocke Fassade türmt sich nach oben hin zu einem verschachtelten Etwas, das seinesgleichen sucht. Lediglich ein Zitat gibt dem Haus einen anspruchsvollen Abschluss: Über der letzten Etage ragt eine verkleinerte Kopie des nie realisierten Tatlin-Turms von 1919 in den Moskauer Himmel. Dass die Inkunabel aus den frühen Jahren des Konstruktivismus eigentlich mehrere hundert Meter hoch werden sollte, scheint weder die Architekten noch die Bewohner zu stören. Auch nicht, dass die ornamentreiche Fassade und die utopische Stahlkonstruktion völlig gegensätzlichen architektonischen Auffassungen entspringen."

Uwe Schmitt trifft den amerikanischen Schriftsteller Frank McCourt, dessen dritter Roman "Tag und Nacht und auch im Sommer" nun auch auf Deutsch zu haben ist. "Wie sich das anfühlt, drei Bestseller in zehn Jahren? 'Ich fühle gar nichts. Wenn ich 35 wäre, würde ich durchdrehen, den Frauen überall nachjagen, besonders in Deutschland, und Bier trinken und Ärger kriegen: Binnen eines Jahres wäre ich tot. Das Dylan-Thomas-Ding, das Übliche.'"

Weiteres: Peter Zander berichtet kurz von kritischen Konditionsschwächen und dem sechsten Tag auf dem Filmfestival in Venedig. Der Reißer "Snakes on a Plane" wurde nach Maßgaben von Bloggern umgestaltet, weiß Hanns-Georg Rodek. Aus gegebenem Anlass widmet sich Eckhard Fuhr Konservierungstechniken von Essbarem. Petra Stuiber sammelt Kritik und Lob zur neuen Tageszeitung Österreich. Mit zwei neuen Gratiszeitungen konkurrieren Rupert Murdoch und Lord Rothermere um Londons Pendler, meldet Thomas Kielinger. Gemeldet wird, dass die Opernsängerin und Wagner- wie Strauss-Spezialistin Astrid Varnay gestorben ist.

Und Harald Peters hält Justin Timberlakes Werk "FutureSex / LoveSounds" aufgrund seiner Beschränktheit für "das beste R&B-Album seit langer Zeit".

Berliner Zeitung, 05.09.2006

Ömer Erzeren versucht aus den türkischen Bestsellerlisten auf den Zustand im Land zu schließen. Historisches ist nach wie vor heikel, vor allem für die Autoren. "Nach Orhan Pamuk und Elif Shafak wurde nun die Istanbuler Journalistin Ipek Calislar angeklagt. Wegen "Straftaten gegen Atatürk", so ein Gesetz von 1951, fordern die Staatsanwälte viereinhalb Jahre Gefängnis für die Autorin von 'Latife Hanim' (Frau Latife), einer Biografie über die Ehefrau des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk. Im Oktober ist Prozessbeginn. Grund der Anklage ist die Wiedergabe eines Vorfalls aus den Gründerjahren der Republik. Bei einem Putschversuch organisiert Frau Latife Kemals Flucht im Tschador, während sie in Männerkleidern Mustafa Kemal simuliert und die Putschisten täuscht."

Tagesspiegel, 05.09.2006

Der Senatsbaudirektor Hans Stimmann hält im Gespräch mit Hermann Rudolph eine Rekonstruktion des Berliner Schlosses für eine notwendige Konsequenz der jüngeren Architekturgeschichte. "Ohne die Niederlagen der modernen Architektur in fast allen deutschen Innenstädten und ohne die Erkenntnis, wie begrenzt unsere Fähigkeiten sind, etwas Erinnerungsfähiges zu bauen, wäre diese Entwicklung nicht zu verstehen." Die Rekonstruktion werde als Gravitationszentrum von Berlins Mitte gebraucht. "Jeder, der sich für die Geschichte der Berliner Innenstadt interessiert, begreift schnell, dass das Schloss so wichtig ist, weil es der Ausgangspunkt der barocken Stadt war. Erst von da aus versteht man das Alte Museum und den Lustgarten." Sehr barock ist Berlin nun ja nicht mehr.

FR, 05.09.2006

Ed Ruscha ist nicht unbedingt als Fotograf bekannt. Ulf Erdmann Ziegler kann den in Köln zu sehenden Bildern trotzdem etwas abgewinnen. "Am leichtesten verständlich ist die Sequenz 'Twentysix Gasoline Stations', weil sie uns an Venturis schrille Architekturpädagogik erinnert, von Las Vegas zu lernen. Eine Strecke aus L.A. heraus in die Wüste, drei Tage östlich ins Hinterland, die Straße flankiert von indistinkten Hütten, die durch skurrile Schilder die Aufmerksamkeit des Reisenden suchen: Die 'Knox Less'-Tankstelle in Oklahoma City, 1962, ist ein Dschungel aus Wimpeln, Buchstaben und Zahlen, gekrönt durch ein aeronautisches Symbol, vertikal gekreuzt von Strommasten, die Zapfsäulen wartend wie zwergenhafte Aliens."

Weiteres: Günter Seufert berichtet vom andauernden Abriss des Roma-Viertels Sulukule in Istanbul. In Times mager kommt Harry Nutt zu dem Schluss, dass Gammelfleisch und Fernsehköche zwei Seiten einer Medaille sind.

Besprochen werden die Designausstellung "Entry 2006" in der Zeche Zollverein Essen, und Gedrucktes, darunter Zadie Smiths Roman "Von der Schönheit" und Patrice Bollons Biografie von E.M. Cioran (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 05.09.2006

Im Interview mit Patrick Roth spricht Regisseur Oliver Stone über seinen 9/11-Film "WTC", der gerade in Venedig gezeigt wurde und demnächst auch hier ins Kino kommt. "In diesem Film geht's nicht um Ideologien. Ich wollte dem Tag selbst seine pseudomythische Aura nehmen. Das war auch meine Methode bei 'Platoon' gewesen. Da ging es nur um die Leute im Dschungel, die einander bekriegten und gleichzeitig gegen 'den Feind' zu kämpfen hatten. 'Platoon' war nicht der politsche Film, den man eher mit 'Apocalypse Now' oder mit 'Deer Hunter' intendiert hatte. Tut mir leid, wenn ich Sie da enttäuschen muss: Nicht alles ist politisch...Ich meine: Was ist Geschichte? Wer baut sie zusammen? Mein Standpunkt ist: Wir müssen den Augenzeugen vertrauen. Die einzigen Zeugen, die es für mich gibt. Als ich 'Platoon' drehte, habe ich Augenzeugen vertraut. Leuten, die in diesem Krieg gedient hatten wie ich. Vertrauen Sie den Leuten, die damals auf Dealy Plaza standen, bei der Ermordung Kennedys. Glauben Sie ihnen! Statt auf die Schwätzer im Fernsehen zu hören."

Dagegen schreibt Philosoph Slavoj Zizek über "WTC", den er für genauso politisch hält wie Paul Greengrass' "United 93": "Die ideologisch-politische Botschaft der Filme liegt gerade darin, dass sie sich jeder politischen Botschaft enthalten. Und diese Enthaltung wird durch ein vorbehaltloses Vertrauen in die eigene Regierung getragen - "Wenn der Feind angreift, muss nur jeder seine Pflicht erfüllen..."

Weiteres: Am heute beginnenden Internationalen Literaturfestival in Berlin vermisst Thomas Steinfeld ein gewisses Maß an programmatischer Gestaltung. "Und wieder einmal wird es keine Antwort auf die Frage geben, warum das alles stattfindet." Ira Mazzoni rühmt Kazuyo Sejimas und Ryue Nishizawas erhabene, kühle, distanzierte Zollverein School of Management and Design in Essen. Auf den Filmfestspielen in Venedig hat sich Susan Vahabzadeh Filme von Alfonso Cuaran und Barbara Albert angesehen. In der Zwischenzeit-Kolumne präsentiert Hermann Unterstöger einige Blüten der Agenturprosa. jsl. meldet, dass die hochdotierten Balzan-Preise in diesem Jahr unter anderem an Quentin Skinner und Ludwig Finscher gehen. Jens Malte schreibt zum Tod der Sopranistin Astrid Varnay.

Besprochen werden die Persien-Ausstellung "Pracht und Prunk der Großkönige" im Historischen Museum Speyer und Bücher, darunter Jonathan Littells Roman "Les Bienveillantes" und Martin Warnkes Monografie "Diego Velazquez" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).