Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2006. Daniel Barenboim rät Israel in der Zeit, nicht alles auf die Karte Amerika zu setzen. Ayaan Hirsi Ali rät Europa im Tagesspiegel, die muslimischen Frauen nicht links liegen zu lassen. In der SZ vermisst Najem Wali in den arabischen Medien eine Beschäftigung mit den fundamentalistischen Wahhabiten. Die FR ist mit den westlichen Erklärungsansätzen nach dem 11. September noch nicht zufrieden. Für die Welt riecht Patrick Süskinds Zurückgezogenheit nach Selbstvermarktung.

Zeit, 07.09.2006

Matthias Geis und Bernd Ulrich arrangieren ein Gespräch zwischen Daniel Barenboim und Joschka Fischer über die Möglichkeiten Israels nach dem Libanon-Krieg. Barenboim warnt Israel, "nur die amerikanische Karte zu spielen. Ich glaube nicht, dass das eine dauerhaft sichere Karte für Israel ist. Ich sehe die Hegemonie der USA nicht auf alle Ewigkeit. Man muss sich anschauen, wie sich die Welt entwickelt, Iran, China, Indien... Wenn wir die Beziehungen zu den Europäern nicht verstärken, dann muss man fragen: Wer wird Israel in 40 oder 50 Jahren helfen, wenn die Erinnerung an das, was im 20. Jahrhundert geschehen ist -der Holocaust und anderes -, verblasst ist. Soweit ich weiß, gibt es weder in Peking noch in Neu-Delhi eine starke jüdische Lobby. Wer wird für Israel da sein?"

Katja Nicodemus hat in Venedig die geheime Avantgarde des Weltkinos enttarnt. Tsai Ming-Liang, Apichatpong Weerasethakul und Mahamat Saleh Haroun eint ihre "bestechende Klarheit. Ihre schweigsamen Helden, die viele Ausdrucksformen, aber nur wenige Worte haben. Ihre Stille, die so vieles hörbar macht, vom unablässig brummenden Straßenlärm in Kuala Lumpur bis zum Insektensummen des thailändischen Urwalds. Ihre Bereitschaft, jeder Figur einen zweiten und dritten Blick zu gönnen. Und schließlich die langen lyrischen Bögen ihrer Einstellungen, die weiter gehen als die herkömmliche Syntax des Kinos."

Weiteres: Der amerikanische Schriftsteller Jerome Charyn hält Kevin Smiths Installation im Eingang der American-Express-Zentrale seiner eigenen literarischen Bewältigung des 11. September für überlegen. Hanno Rauterberg denkt anlässlich des 11. September über das universale Bild nach. Rauterberg schimpft auch über das Kaiser-Wilhelm-Museum in Krefeld, dass mit Monets "Parlamentsgebäude in London" seine Sanierung finanzieren will. Wolfgang Thierse bekundet im Gespräch mit Evelyn Finger seine Abneigung gegenüber der Dresdner Waldschlösschenbrücke. Peter Kümmel erwartet nicht viel von der an diesem Wochenende angedachten Versammlung von 112 Denkern auf dem Berliner Bebelplatz. 40 Jahre nach dem Start von "Raumschiff Enterprise" plaudert Eva Schweitzer ein wenig mit "Spock"-Darsteller Leonard Nimoy. In der Kunstmarktkolumne begrüßt Claudia Herstatt die Pariser Biennale des Antiquaires zurück im Grand Palais.

Im Dossier kommt Kerstin Kohlenberg zu dem Schluss, dass die Online-Enzyklopädie Wikipedia eine Bereicherung, aber noch kein sicherer Informant ist. Dass sie auch unsolidarisch ist, erfährt man weiterhin nur bei uns.

Besprochen werden John Lasseters Animationsfilm "Cars", den Thomas Assheuer als Ausdruck einer Sehnsucht nach vorglobalisierten Zeiten deutet, der Auftakt der Ruhrtriennale mit Philipp Stölzls "Rubens und die nichteuklidischen Weiber" und Klaus Umbachs "Wahnfried", die Ausstellungen in Berlin und Magdeburg über das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, wo ein enttäuschter Achatz von Müller "Geschichte als Massage" erlebt hat.

Im Literaturteil sinniert Iris Radisch kurz über das Comeback der Religion in der Literatur. Benedikt Erenz huldigt "Deutschlands jüngstem Klassiker", dem vor 200 Jahren gestorbenen Karl Philipp Moritz. Karl-Markus Gauß trauert um Nagib Mahfus. Ulrich Greiner meldet sich von der Grass-Lesung in Berlin. Buchrezensionen gibt es unter anderem zu Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens "Abenteurlichem Simplicissimus" zum Anhören, Christoph Ransmayrs "eindrucksvollem" Epos "Der fliegende Berg" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 07.09.2006

Ohne explizit auf den Fall Seyran Ates einzugehen (mehr hier in Mariam Laus Artikel in der Welt vom Montag), plädiert Ayaan Hirsi Ali für eine rechtliche und politische Besserstellung von muslimischen Frauen in Europa. "Europas Politiker haben das Potenzial noch nicht erkannt, das in der Befreiung der muslimischen Frau steckt. Sie vergeuden damit die beste Gelegenheit, die Integration von Muslimen innerhalb einer Generation zum Erfolg zu führen. Moralisch gesehen sind die Regierungen dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen auszurotten. Fundamentalisten würde das erst klar machen, dass die Europäer ihre Verfassungen ernst nehmen. Heutzutage denken die meisten Unterdrücker einfach, dass die westliche Rhetorik über die Gleichheit von Frauen und Männern feige und verlogen ist, weil westliche Regierungen den Missbrauch von Millionen muslimischer Frauen dulden, wenn ihnen gesagt wird, das geschehe im Namen der Religion."

Welt, 07.09.2006

Hendrik Werner hält Patrick Süskind, dessen größter Erfolg "Parfüm" demnächst in die Kinos kommt, für einen geschickten Selbstvermarkter, der seine notorische Zurückgezogenheit mit der seiner Figuren mediengerecht koordiniert. "Nicht einmal Samuel Becketts späte Figuren hätten diese Spielart einer angewandten Ästhetik des Verschwindens ergreifender und publikumswirksamer formulieren können. In genau diesem passfertigen Pathos aber, dessen existenzielle Grundierung weitere Fragen ad personam nicht wirklich zulässt, blitzt die hohe Inszenierungskunst des 57-jährigen Süskind auf."

Heute regiert das Kino. Matthias Heine empfiehlt Valeska Grisebachs Dorfgeschichte "Sehnsucht" mit Nachdruck. "Ein bisschen schade ist nur, dass all die Beharrlichkeit, mit der bei 'Sehnsucht' voyeuristische Klischees vermieden wurden, zu böser letzt doch vergeblich war: Anschauen werden ihn sich doch nicht die normalen Leute vom Lande, sondern bloß die Großstadtkunstkinoklientel. Alles andere wäre ein Wunder. Aber eins, das dieser schöne herzzerreißende Film mehr als verdient."

Weiteres: In Venedig hat sich Peter Zander David Lynchs neues Werk "Inland Empire" angesehen. Vorgestellt werden auch der neue Film "Water" der in Indien wegen ihrer Schonungslosigkeit angefeindeten Regisseurin Deepa Mehta, John Lasseters Animationsfilm "Cars" ("Nicht so gut wie die Pixar-Filme vorher", meint Ronald Bluhm), Nicole Holofceners "Sex and the City"-Variante "Friends with money", Amos Gitais Trilogie-Abschluss "News from Home" sowie Georg Mischs origineller Dokumentarfilm "Calling Hedy Lamarr".

NZZ, 07.09.2006

Samuel Herzog stellt die kleine Kunstgemeinde in Kapstadt vor, die mit mangelnder öffentlicher Unterstützung zu kämpfen hat. Die alten Herren halten Polens Literaturbetrieb weiterhin in Atem, berichtet Marta Kijowska.

Besprechungen widmen sich Aufnahmen der Sopranistin Elisabeth Schwarzkopf, zwei CDs mit Werken des Schweizer Komponisten Peter Mieg, und Büchern, Bruno Steigers Roman "Falsche Filme" sowie Sabine Peters' Nahost-Erfahrungsbericht "Singsand" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 07.09.2006

"Fünf Jahre lang haben wir damit verbracht, unsere Erklärungsansätze zu diskutieren", schreibt Marcia Pally zum 5. Jahrestag der Anschläge vom 11. September. "Ich denke, dabei haben wir aus den Augen verloren, dass sie unzureichend sind. Unsere altgewohnten Weltanschauungen können das Problem nicht beseitigen. So wenig wie die Ansätze des muslimischen 'Widerstands', wie man ihn in der arabischen Welt nennt. Wenn die liberalen, imperialistischen USA sich aus der Region zurückzögen, wenn Israel zerstört würde, die ökonomischen und politischen Schwierigkeiten der arabischen Welt wären nicht plötzlich verschwunden. Fünf Jahre danach sitzen wir auf unseren beruhigenden, unzulänglichen Storys über uns und die Welt und kommen nicht weiter."

Weiteres: Sylvia Staude schreibt über das legendäre Festspielhaus im Dresdener Stadtteil Hellerau, das heute Abend nach langer Renovierung von William Forsythe wieder eröffnet wird. Sieglinde Geisel war auf der Übersetzerkonferenz in Berlin, die vom Deutschen Übersetzerfonds und dem Literarischen Colloquium Berlin konzipiert worden ist. Harry Nutt widmet die heutige Times-Mager-Kolumne dem 6. Internationalen Literaturfestival in Berlin.

Besprochen werden Valeska Grisebachs Film "Sehnsucht" (für Michael Kohler "ein Film von zuweilen bezaubernder Schlichtheit"), der neue Pixar-Film "Cars" (den Gunter Göckenjan "recht schwach" findet) und das Buch "Die Wunder des Nordens" von Olaus Magnus, das der letzte katholische Erzbischof von Uppsala 1539 im italienischen Exil geschrieben hat (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 07.09.2006

Zum 5. Jahrestag der Anschläge vom 11. September hat die SZ arabische Schriftstellerstimmen gesammelt. Najem Wali bemerkt zum Beispiel: "Heute wappnet sich der arabische Terrorismus mit der reaktionären Ideologie der Wahhabiten. Doch einen Hinweis darauf oder auf die Identität der Täter sucht man in den arabischen Medien vergebens. Als seien sie vom Himmel gefallen! Aber eigentlich ist das nicht erstaunlich: Zwei Drittel der arabischen Medien werden mit saudischem Geld finanziert. Und der Rest verliert sich in hohlen revolutionären Parolen."

Weiteres: Neuen chinesischen Geschichtsbüchern sind Mao, der Kommunismus und die Revolution nur noch Fußnoten wert, entnimmt Petra Steinberger einem Bericht der New York Times. Susan Vahabzadeh schickt einen Bericht vom Filmfest in Venedig. Jörg Magenau schreibt über den Auftrakt des 6. Internationalen Literaturfestivals in Berlin. Rainer Gansera hat mit Valeska Grisebach über ihren Film "Sehnsucht" gesprochen. Im Interview mit Eva-Elisabeth Fischer erklärt Udo Zimmermann, was er als neuer Intendant des wiedereröffneten Festspielhauses im Dresdner Hellerau plant. Wolfgang Schreiber informiert über den Streit um eine Don-Giovanni-Oper der Komponistin Olga Neuwirth (mit Elfriede Jelinek als Librettistin) für die Salzburger Festspiele, die die Festspiele nun gar nicht in Auftrag gegeben haben wollen.

Besprochen werden M. Night Shyamalans Film "Das Mädchen aus dem Wasser", John Lasseters neues Pixar-Werk "Cars", (dem Fritz Göttler das Prädikat "wunderbar" verleiht), das neue Album von Justin Timberlake "FutureSex/LoveSounds" (mit dem er für Dirk Peitz "musikalisch der einzig denkbare weiße Michael Jackson von heute" bleibt, was allerdings nicht unbedingt als Kompliment gemeint ist) und Bücher, darunter Felicitas Hoppes neuer Roman "Johanna" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Spiegel Online, 07.09.2006

Im Interview mit Ana Reiman beklagte bereits gestern die Berliner Frauenrechtlerin Seyran Ates, die aus Angst um ihre Sicherheit ihre Anwaltskanzlei aufgegeben hat, die mangelnde Solidarität, die ihr nach dem Überfall auf sie zuteil wurde. Und sie übt scharfe Kritik an den türkischen Verbänden: "Aus der Öffentlichkeit gab es damals sehr wenig. Für mich ist es beleidigend, wenn sich jetzt, nachdem ich meine Kanzlei geschlossen habe, die Türkische Gemeinde oder der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg zu meinem Fall äußern. Denn das sind diejenigen, die die Hetze gegen mich mitgeschürt haben, weil sie immer wieder behauptet haben, ich würde dramatisieren und übertreiben. Diese Leute haben immer nur mit dem Finger auf die deutsche Seite gezeigt - dorthin, von wo der Rassismus angeblich kommt. Die Verbände sind mitverantwortlich für die gewalttätige Stimmung gegen Frauenrechte."

TAZ, 07.09.2006

Anne Kraume meldet sich vom 6. Internationalen Literaturfestival in Berlin, für das Ulrich Schreiber in seiner Eröffnungsrede eine "Grundhaltung links von der Mitte" reklamierte. Cristina Nord weilt weiterhin beim Filmfest in Venedig, wo sie unter anderem David Lynchs neuen Film "Inland Empire" rätselhaft über die Leinwand flattern sah. Ekkehard Knörer empfiehlt die Filme von Eugene Green, von denen einige jetzt als DVD zu haben sind.

Besprochen werden Aysun Bademsoys Dokumentarfilm "Am Rand der Städte" über das Leben ehemaliger Gastarbeiter, die in die Türkei zurückgekehrt sind. Valeska Grisebachs Film "Sehnsucht" und John Lasseters neues Pixar-Werk "Cars" (Für Martin Zeyn definiert Pixar hier "wie üblich - einen neuen Standard: So genau waren Lichtreflexe auf Metall noch nie zu sehen.")

Und Tom.

FAZ, 07.09.2006

Als Aufmacher druckt die FAZ eine Rede von Robert Spaemann, in der der Philosoph vor dem Papst in Castelgandolfo die Evolution als notwendigen Part eines dualistischen Weltbilds erklärt: "Es gibt Entstehungsbedingungen für Leben, für Trieb, für Bewusstsein und für Selbstbewusstsein. Entstehungsbedingungen sind nicht hinreichende Ursachen. Sie erklären uns nicht, wer wir sind. Selbstsein ist Emanzipation von den Entstehungsbedingungen."

Michael Gassmann bilanziert höchst zufrieden das Schleswig-Holstein-Festival. Jürgen Kaube spießt in der Randspalte das neue Angebot eines Teledienstleisters auf, per SMS die Rätsel der Welt zu beantworten ("Macht Bier schöner?") Hannes Hintermeier sinniert über die Frage, warum der Gammelfleisch-Skandal ausgerechnet Bayern heimsucht, wo doch die Bayern nicht einmal das Wort "gammeln" kennen. Edo Reents war bei Günter Grass' Lesung seiner Erinnerungen in Frankfurt.

Auf der Kinoseite berichtet Andreas Rosenfelder vom Filmfestival Sarajewo, das "erwartungsgemäß" Andrea Stakas Film "Das Fräulein" den Hauptreis verlieh. Michael Althen hat sich in Venedig David Lynchs Film "Inland Empire" angesehen, der ihm vorkam, "als würde man einem Telefon beim Klingeln zuhören". Und Kulturstaatsminister Bernd Neumann spricht in einem kurzen Interview mit Franziska Bossy über Modelle direkter Filmförderung.

Auf der Medienseite schreibt Erna Lackner über den großen Fernsehauftritt der Natascha Kampusch. Tilmann Lahme und Thomas Purschke gehen den Exklusivverträgen der ARD mit Jan Ullrich nach.

Auf der letzten Seite porträtiert Michael Martens den serbischen Schriftsteller Dragan Velikic, der von Vuk Draskovic zum Botschafter in Österreich gemacht wurde. Patrick Bahner stellt den Winebot vor, den ersten Roboter, der Wein testen kann und von Wissenschaftlern der Mie-Universität bei Nagoya für Nec System Technologies entwickelt wurde. Und Andreas Rossmann schreibt im "Update" die Geschichte um Krefelds "Monet" fort.

Besprochen werden George Nalanchines Ballett "Don Quijote" beim Edinburgh Festival, Gianni Amelios Film "Die Hausschlüssel", Yasmina Khadras Roman "Die Attentäterin" und Gabriele Wohmanns Erzählungen "Scherben hätten Glück gebracht" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)