Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.09.2006. Das Echo auf das Filmfestival von Venedig ist geteilt: Die taz hat so viele tolle Filme wie seit langem nicht gesehen. Die FAZ fragt sich, wer eigentlich keinen Löwen bekommen hat. Die SZ hat Hinweise, dass der Anfang vom Ende der Welt vielleicht schon im letzten Herbst eingeläutet wurde. In der Welt meldet Niall Ferguson aus dem Jahr 2031, dass dank der Nanotechnolgie der Krieg gegen den Terror gewonnen wurde. Die FR inspiziert die widerstandsfähigen Knautschzonen der neuen Hochhausgeneration. Und die NZZ inspiziert Googles digitale Bibliothek.

TAZ, 11.09.2006

Auf der Meinungsseite beklagt der amerikanische Soziologe Norman Birnbaum die schwachen intellektuellen Reaktionen auf den 11. September in den USA: "Der Schock hat nicht zu mehr Nachdenklichkeit unter Intellektuellen geführt oder dazu, dass an den Universitäten neues Wissen gesucht würde. Stattdessen vertieften sich bereits zuvor existierende Spaltungen und die politischen Konflikte, die nun in den Sphären der Wissenschaft und Kultur ausgetragen werden, erinnern an die Religionskriege im Europa vor der Aufklärung. Die moralische Erregung wächst, je mehr sich die intellektuelle Substanz verringert."

Nicht ganz so stark wie seine früheren Arbeiten findet Cristina Nord Jia Zhang-kes mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film "Sanxia Haoren" ("Still Life"), sie wird aber dennoch glücklich vom Lido zurückkehren: "Es gab so viele sehenswerte, anregende, herausfordernde Filme wie seit langem nicht mehr... Die Infrastruktur am Lido liegt darnieder? Es gibt keinen nennenswerten Filmmarkt? Marco Müller hat angekündigt, seinen Job nur noch im nächsten Jahr machen zu wollen? Rom etabliert ein Konkurrenzfestival? Wen schert all das angesichts der Güte des Programms?"

Die Besprechungen: Katja Behrens preist die große Düsseldorfer Schau des "ungehobelten, mürrischen, jähzornigen und schwulen" Caravaggio. Matthias Reichelt war in der Reiner-Leist-Ausstellung des Berliner Museums für Fotografie.

Und Tom.

Welt, 11.09.2006

Gerhard Midding besichtigt die Reaktion des Kinos auf den 11. September. "Traditionell arbeitet Hollywood die Erschütterungen des nationalen Selbstverständnisses zuerst gleichnishaft auf. Die Fiktion folgt dabei dem zweifachen Reflex, einerseits die Ordnung zu restituieren und andererseits das Bild eines bedrohlich Fremden zu konturieren. Der Verlust des nuklearen Monopols, die Attentate der 60er Jahre und der Vietnamkrieg schlugen sich zunächst im Genrekino nieder. Der 11. September färbt das US-Kino vor allem als eine atmosphärische Grundierung ein." Der amerikanische Schriftsteller Jay McInerney erzählt im Interview, wie er den 11. September erlebt hat. Empfohlen wird zum Thema der ZDF-Fernsehfilm "Auf ewig und einen Tag".

In einem Rückblick aus dem Jahr 2031 vertraut der Historiker Niall Ferguson im Politikteil schließlich auf die Technik, um den Krieg gegen den Terror irgendwann zu gewinnen. "Die Einführung von Brennstoffzellen durch die US-Automobilindustrie beendete, in Verbindung mit einer neuen Generation extrem sicherer Kernkraftwerke, Amerikas jahrzehntelange Abhängigkeit vom Öl. Der Einsatz von Nanotechnologie beim Heimatschutz erlaubte eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung mutmaßlicher Islamisten mittels winziger Drohnen und unsichtbarer Implantate. Und so endete der Große Krieg für die Demokratie nicht mit dem großen katastrophalen Knall, den so viele beschworen hatten, sondern mit dem kaum wahrnehmbaren Summen einer technologischen Revolution."

Weiteres: Peter Zander hält den Goldenen Löwen für Jia Zhang-kes nachträglich nominierten Spielfilm "Still Life" rund um den Dreischluchten-Staudamm für eine "eminent politische" wie mutige Entscheidung. Peter Dittmar weist darauf hin, dass Krefeld nicht das erste deutsche Museum ist, das Kunstwerke zur Aufbesserung der Finanzen verkauft.

Besprochen werden Klaus Maria Brandauers "ganz naive und ganz niedliche" Inszenierung von Richard Wagners "Lohengrin" in Köln und ein Soloalbum des Radiohead-Sängers Thom Yorke.

SZ, 11.09.2006

Nicht die Welt und nicht die USA haben sich mit dem 11. September geändert, beruhigt uns Andrian Kreye, sondern nur die Weltbilder. Ein neues apokalyptisches Denken hat den einst unerschütterlichen amerikanischen Optimismus abgelöst. "Die Offenbarung des Johannes vermengt sich mit religiösem Weltuntergangspop, Naturkatastrophen, rasant steigenden Benzinpreisen, Al Gores Warnungen vor dem Öko-Gau und den paranoiden Schreckensszenarien liberaler und konservativer Lager zu einem Cocktail der Angst... Noch radikaler als die ökologischen Untergangspropheten sind die Anhänger der so genannten 'Peak Oil'-Bewegung (etwa hier). Sie gehen davon aus, dass die Weltwirtschaft am Rohstoffmangel zerbrechen wird. Und dieses Ende wird nicht erst eingeleitet, wenn die Ressourcen zur Neige gehen, sondern auf dem Höhepunkt der weltweiten Produktion. Wann es so weit ist, wird kontrovers diskutiert. Vorsichtige Schätzungen gehen vom Jahr 2025 aus. Anhänger der 'Peak Oil'-Bewegung jedoch befürchten, dass dieser Zeitpunkt schon im vergangenen Herbst erreicht war."

"Ein Festival mit 22 supertollen Wettbewerbsfilmen gibt es nicht. Eines mit einem halben Dutzend würdiger Preisträger ist eher eine Seltenheit - und eine solche Rarität ist Venedig in diesem Jahr gewesen", bilanziert Susan Vahabzadeh die Filmfestspiele in Venedig. Sehr realitätsnah seien die Filme in diesem Jahr gewesen, aber weitaus "sinnlicher und cinephiler" als in Cannes. Völlig verdient findet sie auch den Goldenen Löwen für Jia Zhang-kes Film "Still Life" über den Bau des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse in China. "Sein chinesischer Kollege Lou Ye wurde gerade mit einem fünfjährigen Arbeitsverbot belegt wegen des Films, den er im Mai in Cannes im Wettbewerb gezeigt hat, 'Summer Palace'. Dort kommen, allerdings unkommentiert und nur am Rande, die Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens 1989 vor."

Weiteres: Der Schriftsteller Martin Mosebach beginnt sein Tagebuch, das er in den nächsten vier Wochen aus Neu Delhi führen wird. Holger Liebs erinnert daran, dass der Hoover-Damm heute vor siebzig Jahren in Betrieb genommen wurde. Dirk Peitz war fünf Tage mit Pur auf Tournee. Wolfgang Schreiber berichtet von den Berliner Konzertereignissen des Wochenendes mit Simon Rattle, Isabelle Huppert und Wolfgang Rihm. Fritz Göttler empfiehlt Neues auf DVD.

Besprochen werden Peter Esterhazys bei der Ruhrtriennale "verläppertes" Stück "Rubens und das nichteuklidische Weib" ("essayistische Assoziationen statt dramatischer Entwicklung") und Bücher, darunter Hartmut von Hentigs Abhandlung "Bewährung", Burghart Wachingers Edition der "Lyrik des späten Mittelalters" und Pina Lewandowskys "Schnellkurs Grafik-Design" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 11.09.2006

In einem umfangreichen Artikel bemüht sich Joachim Güntner um die Darstellung des Stands der Dinge in Sachen digitaler Bibliothek: "Vor allem Fachverlage erhoffen sich von der Erfassung ihrer Bücher ein Mehr an Beachtung, und selbst die mehrseitige Beigabe von Online-Leseproben begrüßen sie als Marketing-Hilfe. Wer in den letzten Wochen die deutsche Website von Google frequentierte und dort die neue Büchersuchfunktion ausprobierte, fand daher die Frage nach dem, was zu lesen möglich sei, sehr differenziert beantwortet: 'Wenn das Buch nicht den urheberrechtlichen Beschränkungen unterliegt und öffentlich zugänglich ist, können Sie das komplette Buch lesen. Bei Bibliotheksbüchern, die urheberrechtlich geschützt sind, werden nur einige wenige Sätze angezeigt. In Büchern von Verlegern können Sie eine begrenzte Anzahl an Seiten lesen. Prinzipiell soll Google Book Search Ihnen dabei helfen, Bücher zu entdecken, und nicht, sie von Anfang bis Ende zu lesen.'"

Weitere Artikel: Eher verwirrend und insgesamt "vergleichsweise schwach" und "orientierungslos" fand Marli Feldvoss den Kinojahrgang in Venedig. Sieglinde Geisel hat beim Berliner Literaturfestival den norwegischen Literaten Jostein Gaarder getroffen, der in den Ruch des Antisemitismus geraten ist. Geisel nimmt ihn gegen seinen eigenen Text in Schutz: "Gaarders Aussagen über Israel mögen skandalös sein, im Gespräch jedoch erweckt er nicht den Eindruck eines verkappten Antisemiten." Der Schweizer Biochemiker Gottfried Schatz erzählt die Geschichte seiners Lebens als Geschichte der Mitochondrien.

Besprochen werden Einakter von Puccini und Wolf-Ferrari mit Nello Santi im Opernhaus Zürich und die Uraufführung von Andrea Lorenzo Scartazzinis Oper 'Wut' in Erfurt sowie ein Konzertabend des Zürcher Kammerorchesters mit Muhai Tang.

FR, 11.09.2006

Christian Thomas inspiziert die neue Generation der auf den 11. September hin geplanten widerstandsfähigeren Hochhäuser, die sich durch "in die Fassade integrierte Lufttaschen" auszeichnen, "nachgiebig genug, um den Gebäudekern vor Druckwellen zu schützen, wie sie etwa durch Explosionen von Autobomben ausgelöst werden. Man kann die 'sacrificial facade' als Opferfassade verstehen - oder, wie schon vor zwei Jahren die Zeitschrift arch + als 'Bauernopferfassade'. Seit der Neubebauung auf Ground Zero haben die dort beteiligten Architekturbüros intensiv über den Unterschied zwischen primären und sekundären Geschossdecken nachgedacht - denn den Experten standen die Bilder von dem entsetzlichen Fahrstuhleffekt der kollabierenden WTC-Türme vor Augen. Die Sekundärgeschosse muss man sich wie gewaltige Knautschzonen vorstellen, sozusagen als "sacrificial floors", die die Aufprallenergie vernichten. Innerhalb der Türme sollen dagegen die hart gemachten Primärgeschosse wie Sicherheitszellen fungieren."

Auch wenn Daniel Kothenschulte in Venedig mit der überfallartigen nachträglichen Platzierung von Jia Zhang-kes Siegerfilm nicht zufrieden ist: "Mit 'Sanxia Haoren / Still Life' hat dann aber trotzdem noch ein denkwürdiger Film den Goldenen Löwen gewonnen, und zugleich einer, der tatsächlich als Denkmal taugt. Der eine Welt im Augenblick ihres Untergangs festhält und zugleich eine Form findet, diesen Verlust zu verarbeiten. Es geht um die gigantische Landschafts- und Lebensraumvernichtung des Staudammbaus in China. Regisseur Jia Zhang-Ke ist ein Vertreter der 'Sechsten Generation' chinesischer Filmemacher, die eine im Land lange unbekannte Schule des Realismus begründet haben. Mit bescheidenen technischen Mitteln und einem besonderen Interesse am Leben in der Provinz erreicht er eine Unabhängigkeit, die selten ist im stark reglementierten Kulturbetrieb der Diktatur."

Weiteres: Martina Meister widmet eine Times mager den französischen Streitigkeiten um die korrekte Definition des Begriffs der Kolonisation. Besprochen wird Stephan Kimmigs "äußerst unklare" Bühnenversion von Choderlos de Laclos Roman "Die gefährlichen Liebschaften" in der Duisburger Gebläsehalle im Rahmen der Ruhrtriennale.

FAZ, 11.09.2006

Zum 11. September erinnern sich in einem Gespräch deutsche Auslandskorrespondenten - darunter Jan Fleischhauer vom Spiegel, Gerald Baars von der ARD und Jörg Häntzschel von der Süddeutschen Zeitung - an das New York, das sie kannten, und beschreiben die Veränderungen, die der Anschlag mit sich brachte. Baars stellt fest: "Warum hassen die uns? Das haben sich, anders als im Rest Amerikas, in New York viele Menschen gefragt nach dem ersten Schock. Die Anschläge haben auch etwas in meinem Leben verändert. Ich war früher in vielen Kriegsgebieten, ich war 1993 in Mogadischu. Da habe ich nur draufgeschaut, als Korrespondent. In New York war klar, dass wir, auch ich, das Ziel der Anschläge waren. Auf einmal war ich mitten drin. Vor dem 11. September war ich deutscher Korrespondent. Nach dem 11. September war ich ein deutscher New Yorker."

Weitere Artikel: Mit dem Hauptpreis für Jia Zhang-kes Film über die Staudammumsiedlungen in China "Still Life" ist Michael Athen zwar einverstanden, ansonsten aber quittiert er die Löwen-Entscheidungen von Venedig mit Sarkasmus: "Von 22 Filmen wurden am Ende neun mit dem ein oder anderen Preis bedacht, und wenn man jene abzieht, die nicht einmal eine völlig verirrte Jury in Betracht ziehen konnte, dann hat so ungefähr jeder einen Preis bekommen, der in Frage kam."

Jordan Mejias kommentiert die Veröffentlichung von nachgelassenen Notizen und Tagebuchauszügen Susan Sontags in der New York Times. Richard Kämmerlings hat sich die "Schulhof-CD" mit "antikapitalistischen Rechtsrockliedern" angehört, die die NPD im Wahlkampf verteilt. Gerhard Stadelmaier hat erwartungsgemäß bündigen Hohn übrig für Elfriede Jelinek, um deren Ulrike-Meinhof-Stück es in Hamburg Ärger gibt. Aus Peking berichtet Mark Siemons von der Buchmesse, die Russland zu Gast hat. In der Randspalte beschäftigt sich J.A. mit den Veränderungen, die die Schweiz seit dem 11. September erlebt hat.

Auf der letzten Seite porträtiert Mark Siemons den Regisseur Jia Zhang-ke, Gewinner des diesjährigen Goldenen Löwen. Jürg Altwegg berichtet von der literarischen Sensation der Saison in Frankreich, Jonathan Littells Roman "Les Bienviellantes" mit einem Ich-Erzähler, der SS-Offizier gewesen ist. Gina Thomas informiert über die Versteigerung von Hitler-Mobiliar.

Besprochen werden Konzerte beim Luzern Festival, darunter Alfred Brendels Interpretation von Mozarts d-Moll-Konzert, Stefan Kimmigs Inszenierung der "Gefährlichen Liebschaften" für die Ruhrtriennale und eine Ausstellung in Neuss mit Werken von Alex Katz. Rezensionen gibt es auch zu Charles de Roches Habilitationsschrift "Literaturgeschichte der Unschuld", zu Marie Petersons Alzheimer-Roman "Du denkst, du weißt alles" und auf der Sachbuchseite unter anderem zu Eva Hermans "Das Eva-Prinzip" und Jochen Hörischs Leidenserklärung "Die ungeliebte Universität" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).