Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.09.2006. Alle Zeitungen bringen Nachrufe auf Joachim Fest. Allen voran die FAZ, in der Frank Schirrmacher seinen Vorgänger als Innenarchitekt der offenen Gesellschaft würdigt. Die SZ bewundert Fests Respekt vor der geistigen Freiheit anderer. Und die taz hält ihn für den einflussreichsten konservativen Intellektuellen der Republik. Der vor zehn Jahren ermordete Rapper Tupac Shakur ist laut Welt eher ein Machiavelli des Rassen- und Klassenkampfs. Die NZZ registriert mit Missfallen, dass sich Manhattan nur noch Reiche leisten können.

FAZ, 13.09.2006

Nahezu das gesamte Feuilleton ist dem ehemaligen FAZ-Herausgeber Joachim Fest gewidmet, der am Montag abend gestorben ist. Frank Schirrmacher beschreibt seinen Vorgänger als "Innenarchitekt der offenen Gesellschaft, er malte an ihre Kuppel die geistigen und ästhetischen Möglichkeiten, die sie erreichen könnte, wenn sie nur wollen würde. Seine Essays über Richard Wagner oder Horst Janssen, über Winston Churchill, Thomas und Heinrich Mann, über Stauffenberg und den 20. Juli - sie sind die Mosaike auf dieser Kuppel, die Ahnungen, wie man die Welt und ihre Schönheit denken und wie man also auch in ihr leben kann."

In kleinen Vignetten würdigt die intellektuelle Prominenz den Historiker. Martin Walser bewundert Fests Unabhängigkeit. "Dass er vielen unbequem wurde und sich von keinem Meinungsgestöber blenden ließ, zeichnet ihn aus." Außerdem erinnert sich Gerhard Stadelmaier an den "großen Liebhaber großer Musik" und "großen Verächter modernen Theaters". Patrick Bahners zieht Parallelen zu Jacob Burckhardt. Henning Ritter betont die journalistischen Verdienste für die Geisteswissenschaften. Eduard Beaucamp schildert seine Erfahrungen als Kunstkritiker unter Fest. Abgedruckt wird zudem ein Vortrag von 1977 zur Entfremdung der Geschichtsschreibung von der Öffentlichkeit.

Weiteres: Julia Spinola berichtet von der Verleihung des Theodor-W-Adorno-Presies an den Philosophen Albrecht Wellmer. Auf der letzten Seite meldet sich Hannes Hintermeier aus dem papstgesegneten Marktl am Inn. Dirk Schümer kolportiert, dass der älteste Enkel Mussolinis nun dessen Exhumierung beantragt hat. Meike Laaf porträtiert den Popstar Beyonce Knowles.

Besprochen wird die deutsche Erstaufführung von Jonathan Harveys (mehr) "Madonna of Winter and Spring" in Kombination mit Strawinskys Oratorium "Persephone" durch Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker in Berlin.

NZZ, 13.09.2006

"Es sind längst nicht mehr nur die Künstler und Schriftsteller, die Manhattan den Rücken kehren. Eine dramatische demografische Umwälzung hat Manhattan in den letzten fünf Jahren zu einer Insel der Reichen gemacht", schreibt Andrea Köhler über den Wandel der Stadt, in dessen Zuge vor allem die untere Mittelschicht die Stadt verlassen musste. "Gemäß der neuesten demografischen Umfrage haben heute 57 Prozent der Bewohner Manhattans eine Universitätsausbildung; die Mehrheit ist selbstredend weiß. Um ihren Lebensstandard zu halten, müsste eine Familie, die andernorts mit 60 000 Dollar im Jahr auskommt, weit mehr als das Doppelte ausgeben, genau 137,9 Prozent über dem Landesdurchschnitt. 100 000 Dollar gingen dabei allein für das Wohnen drauf. Während Stadtteile wie das West Village zu Yuppie-Enklaven mutieren und ehrwürdige Institutionen wie das Plaza-Hotel zu Luxusappartements umgebaut werden, gleicht das soziale Gefälle sich zunehmend der Dritten Welt an. Es sieht so aus, als verlagerte sich das Herz von New York in die Peripherie."

Weiteres: Alexandra Stäheli rümpft über Tom Tykwers "Parfüm"-Verfilmung die Nase: "Tykwers 'Parfum' riecht nach Kulisse und Gigantomanie." Sabine Haupt registriert neue Bewegung in der Genfer Theaterlandschaft. Für obszön hält Jürgen Ritte Jonathan Littells französischen Bestseller "Les Bienveillantes" über einen - fiktiven- NS-Unmenschen.

Joachim Güntner würdigt Joachim Fest als eine der markantesten Stimmen der antitotalitären Publizistik: "Fests Stern strahlt blank wie nie. Der Zeitgeist hat eine anti-utopistische Pause eingelegt und hofiert die Skeptiker." Zum Tode Fests schreibt auch Martin Meyer.

TAZ, 13.09.2006

Als "einflussreichsten konservativen Intellektuellen" der Republik, der zugleich "wie kein Zweiter deutsche Bürgerlichkeit nach 1945 verkörpert" habe, würdigt Alexander Cammann in einem Nachruf auf den Tagesthemenseiten den verstorbenen Publizisten und Mitherausgeber der FAZ, Joachim Fest. "Fest hatte immensen Anteil an der Politisierung und gleichzeitigen Aufwertung des Feuilletons in Deutschland. Zwei Jahrzehnte prägte er via FAZ maßgeblich die geistigen Debatten hierzulande. Der 'Historikerstreit' 1986 über die Vergleichbarkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus ist das bekannteste Beispiel. Er entzündete sich an Ernst Noltes Aufsatz in Fests Feuilleton, den daraufhin Jürgen Habermas in der Zeit attackierte. Heute kann man auch in der liberalen Hamburger Wochenzeitung lesen, dass 'eine Prise Nolte nicht schaden' könne (Götz Aly)."

Auf der Meinungsseite erzählt Ilija Trowanow von seinen Reisen durch Kalifornien und versucht sich an einer Definition des "Anti-Amerikanismus" unter US-Bürgern. In tazzwei ist ein als Streitgespräch angelegtes Interview mit dem Pädagogen und langjährigen Direktor des Internats Salem, Bernhard Bueb, über sein Buch "Lob der Disziplin" zu lesen.

Auf den Kulturseiten bummelt Thomas Wulffen über die erste Singapur Biennale, die sich unter dem Titel "Belief" mit dem Verhältnis zur Religion auseinandersetzt und mit ihren 19 Ausstellungsstationen angetan ist, den Besucher zu überfordern. Eine "Einstiegsausstellung für Nicht-Kenner" nennt Peter Ortmann die Kunstpreisausstellung "Mental Exercices", mit der Bruce Nauman, Pionier der Videokunst und erster Kunstpreisträger der Stadt Düsseldorf, im Rahmen der Quadriennale 2006 derzeit geehrt wird. Gerrit Bartels kommentiert die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2006, auf der sich finden: Ingo Schulze, Ilija Trojanow, Thomas Hettche (Leseprobe) , Katharina Hacker und Sasa Stanisisc (Leseprobe), wobei Letzterer Bartels Favorit ist. Besprochen wird außerdem Tom Tykwers Verfilmung von "Das Parfum".

Und hier Tom.

Welt, 13.09.2006

Michael Pilz erinnert an den Rapper Tupac Shakur, der vor zehn Jahren ermordet wurde. "Dem Reduzieren auf gewaltverherrlichende, frauenfeindliche und großmäulige Sprechgesänge steht eine schwer fassbare Verehrung gegenüber. Eine religiös anmutende Erlösungssehnsucht, die sich häufig auf besprühten Mauern widerspiegelt. Tupac finanzierte Sorgentelefone. So verbarg sich hinter der Maxime 'Thug Life', Gangsterdasein, das bewegte Akronym 'The Hate U Gave Little Infants Fucks Everybody'. Wer bei kleinen Kindern Hass sät, schade der Gesellschaft. Tupac machte rappend das System verantwortlich, wenn Kinder Drogen nahmen, stahlen, mordeten und schwanger wurden. Manchmal trat er auf unter dem Namen Makaveli. Als Machiavelli des Rassen- und Klassenkampfs, vertrauenswürdiger Moralapostel und seit 1996 auch als Märtyrer."

Weiteres: Der Schöpfer des Films "Cars", John Lasseter, erklärt im Interview mit Hanns-Georg Rodek den Erfolg der Pixar-Studios: "Wir sind - anders als alle Hollywood-Konzerne - ein Studio der Regisseure. Jeder Film kommt seinem Regisseur aus dem Herzen." Christian Aust unterhält sich mit der Schauspielerin Karoline Herfurth über ihre Rolle in "Das Parfum", die Liebe und Gerüche: "Mir gefällt alles, was frisch riecht, Zitrusnoten und solche Sachen." Uta Baier berichtet, dass jetzt auch chinesische Kunst auf dem Markt boomt.

Den Nachruf auf den verstorbenen FAZ-Herausgeber Joachim Fest verfasst Konrad Adam.

FR, 13.09.2006

"Erinnerung" sei seine Aufgabe gewesen zitiert Harry Nutt im Nachruf auf Joachim Fest den ersten Satz von Fests dieser Tage erscheinenden Autobiografie "Ich nicht". Ironie sei für den politischen Publizisten Fest "keineswegs bloß ein funktionales Ventil des Temperaments. Im Stilbewusstsein des Schriftstellers und Journalisten war sie vielmehr Bestandteil eines bürgerlichen Habitus, in dem äußere Erscheinung und innere Überzeugung stets einen homogenen Ausdruck fanden."

Zu lesen ist ein Interview mit Regisseur Tom Tykwer über seine Arbeit an der Verfilmung von Süskinds Roman "Das Parfum". Ebenfalls im Interview äußert sich der Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, Michael Schindhelm, zu den harschen Angriffen von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit. Christian Schlüter porträtiert den Philosophen Albrecht Wellmer und berichtet über die Verleihung des Adorno-Preises in Frankfurt an den Wissenschaftler. Und in Times mager informiert Elke Buhr darüber, dass in neuen chinesischen Geschichtsbüchern für die Schule die Kulturrevolution fast vollständig ignoriert wird.

Besprochen werden Bücher, darunter Erzählungen des uruguayischen Schriftstellers Felisberto Hernandez und der Roman "Lutetias Geheimnisse" von Pierre Assouline (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 13.09.2006

Die SZ verabschiedet umfangreich und ausführlich den Historiker und Publizisten Joachim Fest. Über Fest als Chef des FAZ-Feuilletons schreibt Gustav Seibt: "Dabei war er in seiner tadellosen Bürgerlichkeit ein wahrer Liberaler, völlig unspießig, geistreich, unterhaltsam, unterhaltungsbedürftig und mit einer unstillbaren Lust an der Auseinandersetzung. Sein Respekt vor geistiger Freiheit und seine Freude an fremden Begabungen waren unbedingt. Das Ruhelose, oft Einpeitscherische und Sensationslüsterne heutiger Chefredakteursrollen blieb ihm völlig fremd... Und darum war es so gut, bei ihm zu arbeiten."

Und in einer Würdigung seines Freundes schwärmt Joachim Kaiser von Fests "Kunst des Zitierens", in der sich "nicht nur Belesenheit", sondern "Liebe" verborgen habe.

In einem ausführlichen Interview spricht der Maler Neo Rauch über seine neuesten Bilder und bekennt, dass das Schöne am Älterwerden darin bestehe, "dass einem irgendwann nichts mehr peinlich ist": "Ich glaube, um in der Kunst überhaupt zu etwas Nennenswertem vorzudringen, muss man das Gefühl der Peinlichkeit so schnell wie möglich eliminieren - auf dem Gebiet der Kunst, wohlgemerkt. Da gibt es Großmeister, die uns heldenhafte Leistungen vorexerzieren... Das Gegenteil davon ist die Spitzschnütigkeit dieser Vorsichtsgemaßregelten, die da glauben, sie müssten irgendeinen Tempelbezirk verteidigen, den der konkreten Kunst etwa, oder der cluborientierten Popabstraktion."

Weitere Artikel: Renate Klett berichtet über ein Festival im polnischen Lodz, das den Dialog der einst identitätsstiftenden jüdischen, polnischen, russischen und deutschen Kulturen thematisiert. Joachim Königsdorf weiß von einem ungewöhnlichen Projekt des Berliner Rundfunkchors: Dessen Leiter hat 40 chorerfahrene Führungskräfte aus ganz Deutschland und allen Branchen zu einer viertägigen Chorprobe versammelt. Zu lesen ist der dritte Teil des indischen Tagebuchs des Schriftstellers Martin Mosebach, der derzeit im Rahmen des Projekts "Akshar" (Buchstabe) in Neu Delhi ist. Susan Vahabzadeh schreibt zum Tod des Drehbuchautors und Regisseurs Gerard Brach.

Besprochen werden Tom Tykwers Verfilmung von "Das Parfum", ergänzt um ein Interview mit dem Regisseur, und Bücher, darunter "Das Eva-Prinzip" von der ehemaligen Tagesschausprecherin Eva Herman und der Debütroman "City: Der unwahrscheinlichste aller Orte" von Michal Hvorecky (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)