Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.09.2006. Die NZZ prangert den anhaltenden Mao-Kult an sowie China-Touristen, die sich noch immer mit Massenmörder-Devotionalien eindecken. Außerdem wünscht sie sich eine Professionalisierung der Blogo-Sphäre. Die Welt berichtet, dass Michel Houellebecq seine Biografie ein wenig frisiert hat. Die FAZ erkundet die dialektische Zurechnungsfähigkeit von Nationaldichtern. Und in der SZ erklärt Herfried Münkler: das Schreiben am Computer macht geschwätzig.

NZZ, 15.09.2006

Die NZZ Online meldet, dass die italiensiche Journalistin Oriana Fallaci gestorben ist. Fallaci wurde durch spektakuläre Kriegsreportagen und Interviews bekannt. In den vergangenen Jahren schrieb Fallaci vor allem über den radikalen Islam, den Terrorismus und die ihrer Meinung nach zu weiche Reaktion des Westens.

In einem eindringlichen Plädoyer aus China mahnt Urs Schoettli eine offene und schonungslose Aufarbeitung der verheerenden Kulturrevolution an, die dort vor 40 Jahren begann und in ihrer zerstörerischen Bedeutung immer noch nicht kritisch genug wahrgenommen wird: "Man fragt sich beim Gang durch Pekings 'Verbotene Stadt', wie viele der alten Männer in einer Reisegruppe aus der tiefen Provinz sich vor vierzig Jahren wohl an der Zerstörung von wertvollen Kulturgütern beteiligt hatten." Schoettli ärgert an dem geschichtsvergessenen Mao-Kult aber vor allem, dass dieser nicht nur ein Problem Chinas ist: "Abstoßend ist es, wenn man heute, auch nach der schonungslosen Enthüllung Maos als der Welt größter Massenmörder, in Peking westliche Touristen weiterhin ein Souvenir mit Mao-Bild oder eine Kleinausgabe des roten Büchleins kaufen sieht und die kichernden Käufer dies offensichtlich noch ganz originell finden. Man stelle sich vor, dasselbe würde in Berlin mit Hitler-Memorabilien geschehen."

Besprochen werden Konzerte des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden unter Michael Gielen und des Gewandhausorchesters Leipzig mit Riccardo Chailly beim Luzern-Festival, eine Schau zur Vorarlberger Bauschule in Bregenz, die Ausstellung des Guggenheim-Schatzes im Kunstmuseum Bonn sowie eine recht enttäuschende Inszenierung von Lukas Bärfuss' "Vier Bilder der Liebe" am Genfer Theater Le Poche.

Auf der Medienseite, die sich heute schwerpunktmäßig dem Thema Weblog widmet, bringt Heribert Seifert den analogen Leser auf den aktuellen Stand der Blogo-Sphäre, die zwischen zensurfreier Pressekritik und "unkontrollierter medialer Brandstiftung" sämtliche Formen ungefilterter Mitteilsamkeit kennt und resümiert: "Publizistisch ernst zu nehmen werden auf die Dauer nur solche Blogs sein, die sich nicht als Freistil-Antipoden des Journalismus verstehen, sondern selber Formen des professionellen journalistischen Handelns übernehmen. Nicht die weitere Deprofessionalisierung des Journalismus durch bloggende Amateure kann das Ziel sein, sondern die Ausbildung einer spezifischen Netz- Professionalität."

Ergänzend führt Rainer Stadler anlässlich einiger Fälle "verdeckter publizistischer Aktivitäten" die Schattenseiten der offenen Internetforen vor Augen: Ein Redakteur der New Republic wurde gerade entlassen, berichtet Stadler, der sich unter Pseudonym in seinem eigenen Blog als besonders intelligenten Mann lobte und gleichzeitig seine Kritiker abkanzelte.

Welt, 15.09.2006

Von neuer Aufregung im französischen Literaturbetrieb berichtet Brigitte Preissler. In seiner Biografie des Schriftstellers Michel Houellebecq wirft Denis Demonpion, Journalist der Wochenzeitschrift Le Point, dem Autor vor, seine Biografie ein wenig aufgepeppt zu haben: "Der Biograf enthüllt etwa, dass Houellebecqs Mutter, Janine Ceccaldi, keineswegs tot ist, wie ihr Sohn behauptete. Vielmehr erklärte sie Demonpion an ihrem Wohnort La Reunion, dass sie seit einem Streit zu Beginn der 90er Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm habe. Auch einige Daten seines offiziellen Lebenslaufs frisierte Houellebecq: So soll er nicht 1958 geboren sein, wie es in jedem Klappentext steht, sondern bereits 1956. Und bei seiner Geburt hieß er nicht Michel Houellebecq, sondern Michel Thomas; den interessanter klingenden Namen übernahm er von seiner Großmutter. Unbekannt war bislang auch, dass er zwei Jahre lang am Institut Louis Lumiere Film studierte."

Indiens Literatur zeigt vor allem eine nervöse Mittelschicht. Zurecht, glaubt Ulrich Baron nach Lektüre der einschlägigen Indien-Bücher, die auf der Buchmesse in Frankfurt präsentiert werden: "Indiens ökonomischer Gipfelsturm beschränkt sich noch weitgehend auf Metropolregionen wie Mumbai, Neu Delhi, Bangalore, Kalkutta, während im bevölkerungsreichen, bitter armen Binnenland mehr als die Hälfte der Menschen die Berichte über die schöne neue Welt mangels Schriftkenntnissen gar nicht lesen kann."

Weitere Artikel: Volker Tarnow berichtet von einer Tagung von Musikarchäologen in Berlin, die sich antiken Instrumente widmen, etwa der mesopotamischen Langhalslaute, die grundsätzlich von unbekleideten, krummbeinigen Männern gespielt wurde. Kai Luehrs-Kaiser war auf dem "Jerusalem Chamber Music Festival", das die Pianistin Elena Bashkirova auch vor bizarrer Kriegskulisse unverdrossen organisiert. Berthold Seewald empfiehlt Angela Merkel die instruktive Studie "Kriegsherren der Weltgeschichte". Reinhard Wengierek meldet den Brand im Bochumer Schauspielhaus. Besprochen wird Kool Savas' neues Album "Optik Takeover".

FAZ, 15.09.2006

Ein Nationaldichter, so Edo Reents' Ratschlag an Günter Grass, muss den Zweifel in sich zulassen, so wie es Thomas Mann gemacht hat. "Vermutlich hat Grass die Tatsache aus den Augen verloren, dass es noch keine Preisgabe der Zurechnungsfähigkeit bedeutet, wenn man die Möglichkeit offenlässt, dass auch das Gegenteil von dem wahr sein könnte, was man gerade sagt. Anders als Thomas Mann, anders auch als Brecht kokettierte er nie damit, dass man auf ihn nicht bauen könne. Seine Feindbilder hat er sich bis auf den heutigen Tag bewahrt, und er erntet Kopfschütteln dafür. Nun zeigt sich, dass Zweifel und Ambivalenz festerer Boden sind als der, auf dem er steht. Die Frage nach der Kontinuität einer geistigen Existenz, an die der Hinweis auf Widersprüchliches rührt, lässt sich im Grunde nicht beantworten; man ist zuletzt auf das Geheimnis der Persönlichkeit verwiesen."

Weiteres: Heinrich Wefing begutachtet die finanzbedrängte Berliner Kulturpolitik, die nach der Wahl vielleicht ohne Kultursenator Thomas Flierl und die Opernstiftung auskommen muss. Mark Siemons glaubt, die Zentralisierung der Kontrolle von ausländischen Nachrichtenagenturen in China hat vor allem finanzpolitische und weniger zensurtechnische Gründe. Jürg Altwegg kann sich wie der französische Historiker Yves Chiron durchaus vorstellen, dass der Begründer der ökumenischen Taize-Gemeinschaft Frere Roger ein heimlicher Katholik gewesen ist. Franziska Bossy resümiert eine Züricher Historikertagung über "Naturkatastrophen und vormoderne Gesellschaften". Joseph Hanimann hat bei der Wiedereröffnung des restaurierten Salle Pleyel in Paris die Zwischenregister so klar gehört wie noch nie zuvor.

Auf der letzten Seite spricht Hannes Hintermeier mit der Münchner Stadtbaurätin Christiane Thalgott über absurd teure "Opernwohnungen" im Zentrum und die ewige Mehrheit der "Zugroasten". Jürgen Kaube berichtet von den Führungsnöten der Internatsschule Salem. Wolfgang Günter Lerch porträtiert Beatrix Caner vom Literaturca-Verlag, der sich auf türkische Autoren spezialisiert hat.

Besprochen werden Christoph Schlingensiefs Installation "Kaprow City" an der Berliner Volksbühne ("Wirrwarr, Andeutungen und reiner Dilettantismus", schimpft Irene Bazinger), die Oper-Musical-Mischung "Gaddafi: A Living Myth" an der English National Opera in London ("Gemessen an 'Gaddafi' ist Webers 'Evita' ein hochgeistiges Meisterwerk", warnt Gina Thomas), eine Ausstellung über das bayerische Handwerk im Deutschen Museum in München, und Bücher, darunter ein Buch zu vorgeburtlichen Bindungsstörungen sowie Iain Levinsons Bericht über seine Erfahrungen als Humankapital "Abserviert" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 15.09.2006

Eva Behrendt hat sich die neue Zeitschrift Polar angesehen, die Politik und Kultur verbinden möchte. Ganz glücklich ist Behrendt nicht: "Vieles spricht dafür, dass hier ein Netzwerk aus (oft notgedrungen) freischaffenden Kulturarbeitern und in die Provinz verbannten Wissenschaftlern für ihresgleichen schreibt. Schon die geschmackvolle Tristesse des menschenleeren Berliner Clubs auf dem Cover signalisiert: Leute, uns fehlt etwas - 'Politisierung'."

Weiteres: Katrin Bettina Müller freut sich über die Wiedereröffnung des Festspielhauses von Dresden Hellerau durch die Forsythe Company. Niklaus Hablützel bringt uns auf den neuesten Stand im Hickhack um die Berliner Opernstiftung. Christian Broecking preist Ornette Colemans "weises, bezauberndes" Album "Sound Grammar". In der tazzwei gratuliert Jan Feddersen den Autonomen, die vor 25 Jahren mit der Besetzung der Hamburger Hafenstraße St. Pauli zu seiner antikleinbürgerlichen und multikulturellen Eindeutigkeit verhalfen. Auf den Tagesthemenseiten spricht Feddersen auch mit dem damaligen Bürgermeister Klaus von Dohnanyi.

Und Tom.

FR, 15.09.2006

Mit Respekt, aber nicht ohne Kritik entlässt Robert Kaltenbrunner den langjährigen Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann in den Ruhestand. "Stellen seine stadträumlichen Vorgaben womöglich die einzig gangbare Alternative zum Laissez faire dar, so kommen seine Vorstellungen zur Architektur, auch zur Landschaftsarchitektur, doch arg restriktiv und retrospektiv daher."

Weiteres: Jan Freitag erfährt von Claus Theo Gärtner, der seit 25 Jahren als Detektiv Josef Matula den "Fall für Zwei" bestreitet, dass jeder Deutsche einen Chef braucht. Harry Nutt verabschiedet den aufgekauften Verlag Zweitausendeins und begrüßt die neue Kulturzeitschrift Polar. Und Petra Kohse versucht sich wacker in Christoph Schlingensiefs Installation "Kaprow City" an der Berliner Schaubühne hineinzufühlen: "Es ist sicher als kathartische Unternehmung gedacht. Aber ohne Angebot zum Erkenntnisgewinn. Wellness für das Hirn."

SZ, 15.09.2006

Der Berliner Historiker und Kriegstheoretiker Herfried Münkler ist längst eine "etablierte Marke", wie Jens-Christian Rabe berichtet, der den Politikprofessor "bei der Arbeit" besucht hat: "Schreibt so jemand im Stehen, um rechtzeitig zu bemerken, wann es langweilig werden könnte (dann nämlich, wenn er selbst merkt, wie anstrengend es ist, zu stehen)? Nein, überhaupt nicht. In seinem karg funktionalen Uni-Büro und zu Hause sitzt Herfried Münkler. Ein Stehpult gibt es zwar in dem Haus, das er in Heiligensee Stadtrand bewohnt, aber es ist soweit heruntergeschraubt, dass er im Sitzen leicht seine Füße darauf legen kann. Der Computer bleibt aus. Geschrieben wird mit der Hand. Nicht zuletzt, sagt er, weil er am Computer zur Geschwätzigkeit neige. 'Wenn ich einen Text selber in die Maschine geschrieben habe, denke ich zu oft: Oh, das ist traurig, für diesen Satz habe ich zehn Minuten gebraucht und jetzt muss er weg."

Weitere Artikel: Stefan Koldehoff nimmt Berlins Kultursenator Thomas Flierl in Schutz vor den Kritikern der Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene", und erkennt in der Debatte eine bedenkliche Schlussstrichstimmung. Nach der Präsentation seines neuen Albums "The Captain and the Kid" muss Elton John sich nun Alexander Mendens Urteil der "wohlverdienten Anmaßung" gefallen lassen, und Martin Mosebach stellt im fünften Teil seines Tagebuchs aus Neu Delhi architektonische Beobachtungen an. Lothar Müller erinnert an den vor 250 Jahren geborenen Intellektuellen Karl Philipp Moritz.

Besprochen werden zwei Ausstellungen zu Leonardo da Vinci in der Alten Pinakothek in München und im Londoner Victoria and Albert Museum, Christoph Schlingensiefs Assoziationsmaschine "Kaprow City" an der Berliner Volksbühne, die offenbar höchst "eigenwillige" Wagnerproduktion "Tannhäuser am Deutschen Hof/Kabul" von Martin Hossbach und Christian von Borries am Originalschauplatz, der Wartburg, sowie die Uraufführung der Racheoper "Wut" von Andrea Lorenzo Scartazzini in Erfurt. Und Bücher, darunter Pierre Bourdieus erst jetzt auf Deutsch erschienene "Die Liebe zur Kunst" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).