Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2006. Abdelwahab Meddeb warnt in der taz vor dem diffusen Islamismus. In der FR markiert György Dalos die Unterschiede zwischen den ungarischen Unruhen 1956 und 2006. Frank Schirrmacher macht in der FAZ den Männerüberschuss in Mecklenburg-Vorpommern für den Erfolg der NPD verantwortlich. Der Schriftsteller Shashi Tharoor erklärt in der SZ, warum das Englische viel indischer ist als jeder indische Dialekt. Die NZZ staunt über Khushwant Singhs interreligiöse Problemlösung bei Orgasmusschwierigkeiten.

FR, 20.09.2006

Im Aufmacher schreibt der Schriftsteller György Dalos, dass die Ungarn zwar Grund zur Unzufriedenheit haben. Die derzeitigen Ausschreitungen in Budapest findet er aber nicht angemessen. Der von vielen Beobachtern gezogene Vergleich mit dem Volksaufstand vor 50 Jahren zeige tatsächlich "verblüffende Parallelitäten". "Gravierender sind jedoch bei aller Ähnlichkeit die Unterschiede. Die Massen gingen im Oktober 1956 gegen eine Diktatur auf die Straße, da sie über keine wirksamen Mittel verfügten, ihren Forderungen Ausdruck zu verleihen. Heute dagegen sollte es möglich sein, selbst die heikelsten Fragen des Landes im demokratischen Rahmen zu lösen. Damit die Gesellschaft aus eigener Erfahrung Lüge von der Wahrheit zu trennen vermag, braucht sie vor allem ihren inneren Frieden."

Niels Werber beschäftigt sich ausführlich mit dem Beitrag von Karl Heinz Bohrer im "prominent besetzten" Sonderheft des Merkur "Ein neues Deutschland? Zur Physiognomie der Berliner Republik". Im Vergleich mit Bohrers Merkur-Essay "Die Ästhetik des Staates" von 1984 stellt Werber fest: "18 Jahre später lautet die Diagnose erneut auf 'defiziente Ästhetik'. Nichts gebe es im 'neuen' Berlin, was sich an der 'großen bürgerlichen Vorkriegstradition' oder der großen 'nationalpolitischen Repräsentationsarchitektur' Preußens messen ließe. Ungeachtet ihrer großartigen Überreste seien 'Vulgarität und Kleinbürgertum' charakteristisch für Hauptstadt und Republik."

Weitere Artikel: Harry Nutt gratuliert dem Ethnopsychoanalytiker Paul Parin zum 90. Geburtstag. Und in Times mager räsoniert Elke Buhr über die Macht von Internetdownloads und den "Kulturwechsel vom Superstarprinzip zum lokalen Mini-Heroen".

Besprochen werden eine Inszenierung von Andrea Lorenzo Scartazzinis Auftrags-Oper "Wut" am Theater Erfurt und Bücher, darunter Yassin Musharbashs Buch "Die neue al-Qaida. Innenansichten eines lernenden Terrornetzwerks" und Bahman Nirumands Buch "Iran. Die drohende Katastrophe" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.09.2006

"Das Wort 'Biopolitik' bekommt eine neue Bedeutung." Aus der Königsdisziplin der Demografie leitet sich für Frank Schirrmacher nicht nur die Zukunft Deutschlands, sondern auch der Erfolg der NPD im Mecklenburg-Vorpommern ab. "So hat sich eine Lage ergeben, die nicht auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkt bleiben wird: dass in unzähligen Dörfern junge arbeitslose Männer mit zurückgebliebenen alten Menschen zusammenleben, nicht nur ohne Aussicht auf Arbeit, sondern auch ohne Aussicht auf eine Partnerin. Seit Klaus Theweleit die 'Männerphantasien' der Freikorpsmänner der Weimarer Republik analysiert hat, wissen wir, wie sehr die Attraktivität männerbündischer Lebensformen durch die Abwesenheit von Partnerinnen - oder auch nur der Möglichkeit, eine zu finden - steigt."

Weiteres: Wulf Segebrecht gratuliert dem Lyriker Paulus Böhmer zum Siebzigsten. Alexandra Kemmerer resümiert eine römische Tagung über Frauen in der katholischen Kirche des vergangenen Jahrhunderts. Jürgen Richter skizziert die gegensätzlichen Positionen im Streit um die Umwandlung der ehemaligen Saarbrücker Bergwerksdirektion in ein Einkaufszentrum. Christian Geyer erinnert sich in der Leitglosse an seinen Schopenhauer-lesenden Klassenkameraden.

Auf der letzten Seite besucht Klaus Ungerer das Kriminalgericht Moabit in Berlin. Jürg Altwegg weist auf die Sorgen der unterfinanzierten französischen Denkmalpfleger hin. Andreas Kilb würdigt Imre Kertesz' Autobiografie "Dossier K." als "Solitär" und ihn selbst als "moralische Instanz".

Im Medienteil weist der Medienwissenschaftler Horst Müller anlässlich der geplanten PC-Gebühr darauf hin, dass im Internet laut einer öffentlich-rechtlichen Studie kaum Radio gehört wird.

Besprochen werden die Europa-Premiere von Toby Goughs Show "Bollywood" in Zürich (Sabine Löhr berichtet von "ekstatischen Hüftwackelversuchen, die allein von den engen Theatersitzen züchtig begrenzt werden"), die Uraufführung von Peter Turrinis Stück "Mein Nestroy" im Theater in der Josefstadt in Wien (laut Martin Lhotzky ein "kleines Juwel"), Helmut Köppings Bühnenvariante von Hans Weingartners Film "Die fetten Jahre sind vorbei" in Mainz, Arnold Schönbergs "Gurrelieder", mit denen Michael Gielen und das SWR-Sinfonieorchester durch die Lande touren, die Francis-Bacon-Ausstellung innerhalb der Quadriennale 06 in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Lauren Cantets Film "In den Süden" mit Charlotte Rampling, und Bücher, Sigrid Weigels "Genea-Logik" zum Verhältnis zwischen Natur- und Kulturwissenschaften und Giacomo Leopardis "Fortsetzung des Froschmäusekriegs" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 20.09.2006

"Paradies und andere Erzählungen" heißt ein Band mit fünf Kurzgeschichten des indischen Schriftstellers Khushwant Singh. Martin Zähringer amüsiert sich über den Spott, den der "Altmeister der angloindischen Literatur" über den Hindu-Fanatismus gießt: "In der Satire vom schon weiter fortgeschrittenen jungen Hindupaar ('Gesucht: Ein Sohn') räumt der erklärte Gandhi-Partisan Singh in seiner respektlosen Art vollends mit dem religiösen Separatismus auf. Da sich über Monate und Jahre keine Schwangerschaft einstellt, nimmt die säkulare Protagonistin dieser Kurzgeschichte ihre Zuflucht zum wundertätigen Grab eines muslimischen Heiligen, und Wunder tut dieses Grab tatsächlich - das Wunder ihres ersten Orgasmus. Wie der aber zustande kommt - und ebenso der gesuchte Sohn -, das ist schon eine bemerkenswerte interreligiöse Problemlösung."

Weiteres: Thomas Veser hat die Krimtataren besucht, die sich nach der Vertreibung durch Stalin langsam wieder in ihrer alten Heimat ansiedeln. Besprochen werden eine Ausstellung zu Girolamo Romanino im Castello del Buonconsiglio zu Trient, Rian Johnsons Highschool-Film-noir "Brick" und Bücher, darunter Dieter Thomäs philosophisches Buch über Richard Wagner und Sergei Eisensteins "Totalität und Mitleid" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 20.09.2006

In einem Interview spricht der aus Tunis stammende französische Lyriker und Essayist Abdelwahab Meddeb ("Die Krankheit des Islam") über seine Kritik am militanten und am offiziellen Islam: "Die eigentliche Gefahr ist nicht der militante und gewalttätige Islamismus, er ist nur Sache einer Minderheit. Viel gefährlicher ist der diffuse Islamismus, der sich in der gesamten Gesellschaft ausbreitet und diese durchdringt. Das ist mir sehr deutlich geworden bei meinem Besuch in Kairo Ende der Neunzigerjahre, kurz nach den Attentaten von Luxor 1997. Diese hatten mich in keinster Weise überrascht. Sie waren nur ein radikaler Ausdruck dessen, was die Mehrheit der Gesellschaft dachte. Alle Journalisten, Intellektuellen und Theologen, die ich traf, meinten, das könnten keine Ägypter, sondern nur ausländische Feinde gewesen sein. Wieder diese Flucht vor der Verantwortung! Ich habe mich damals mit allen gestritten: Ihr seid verrückt! Diese Leute haben doch nur eure eigene antiwestliche und xenophobe Rhetorik in die Tat umgesetzt. Auch die Repräsentanten des traditionellen und des offiziellen Islam haben zu diesem Klima beigetragen."

Tobias Rapp weiß, dass nach Jahren der Krise auf der heute in Berlin beginnenden Popkomm die Stimmung weit besser sein wird: Web 2.0 soll alles wieder richten. Rapp glaubt nicht so recht daran: "Die Musikindustrie hat sich immer noch nicht mit dem Gedanken angefreundet, dass sie nur noch auf Spendenbasis funktioniert. Jeder, der eine CD kauft oder im Internet Geld für einen Download ausgibt, tut das, weil er bezahlen will, nicht weil er die Musik anders nicht bekommen könnte. Allen Angstkampagnen zum Trotz: Die Tauschbörsen gibt es noch immer."

Gemeldet wird die Fortsetzung der Anderen Bibliothek: Als Herausgeber fungieren künftig die Großpublizisten Michael Naumann und Klaus Harpprecht. Besprochen wird der halbdokumentarische Film "The Road to Guantanamo" von Michael Winterbottom und Mat Whitecross.

Außerdem: Die Papst-Äußerungen zum Islam sind auch weiterhin Thema. Auf der Meinungsseite analysiert Hilal Sezgin noch einmal genauer den Kontext und die inhaltlichen Implikationen der Papst-Worte und erklärt, warum sie diese "für auf so bezeichnende Art islamophob" hält, "dass sie mit einer Entschuldigung kaum ungeschehen zu machen wären". In tazzwei findet Jan Feddersen dagegen, der westlichen Welt würden mit Hnweis auf die "zarte Haut der religiösen Empfindung" "unnötige Entschuldigungen" abgepresst. "Entschuldigungen zu äußern heißt: das Recht auf Meinungsäußerung von religiösem Missions- und Kränkungseifer einschränken zu lassen." Georg Blume und Johann Vollmer erzählen, wie sich in China lebt, wenn man reich, mächtig und kommunistisch ist.

Schließlich Tom.

Welt, 20.09.2006

"Gründet Bands!", ruft Michael Pilz. Denn für die Musikindustrie mögen die Zeiten schlecht sein, nicht aber für Musiker. Denn heute hängt die Verbreitung nicht mehr an den einst so gefürchteten, für Artist und Repertoire zuständigen A&R-Manager, sondern an Myspace und Youtube oder anspruchsvollen Netzstationen wie Pandora oder Last.FM. "Oder die zahlreichen Musikblogs, die nicht nur von geltungssüchtigen Spinnern unterhalten werden. Sondern wie Motel de Moka oder Moistworks von vertrauenswürdigen Musikverrückten. Wie der A&R sieht sich der Kritiker der industriegegebenen Autorität beraubt. Vor allem aber präsentieren sich die besseren Blogs als klingende Preziosensammlungen. Die dort bereitgestellten MP3s wären trotz strenger Selbstauflagen und Appelle selbstverständlich von der jeweiligen Plattenfirma einklagbar. Die Firmen werden einen Teufel tun. Denn gegenüber Meinungsführern übt man sich in Nachsicht."

Weiteres: Einen "zutiefst wahrhaftigen" Film nennt Eckhard Fuhr Michael Winterbottoms Semi-Dokumentation "The Road to Guantanamo". Denn auch wenn der Film durch und durch parteiisch sei, sind es doch "Drehbuch und Regie dieses Krieges", die sich die Wirklichkeit zurechtbögen. Silke Schnettler unterhält sich mit dem Kinderbuchillustrator Wolf Erlbruch, dem morgen der internationale Hans-Christian-Andersen-Preis verliehen wird. Zu lesen ist ein Vorabdruck aus dem Buch "Die Blaue Reise und andere Geschichten aus meiner deutsch-türkischen Familie" der Welt-Redakteurin Iris Alanyali. Gemeldet wird, dass der Eichborn Verlag ab Oktober 2007 die "Andere Bibliothek" mit Michael Naumann und Klaus Harpprecht als Herausgeber fortsetzen wird. Und Marko Martin gratuliert dem Psychoanalytiker Paul Parin zum Neunzigsten.

SZ, 20.09.2006

In einem schönen, sehr persönlichen Text, den die SZ im Rahmen des Indien-Schwerpunkts der Frankfurter Buchmesse bringt, erklärt der in London geborene Schriftsteller und Kandidat für die Nachfolge von Kofi Annan Shashi Tharoor, warum er auf Englisch schreibt, obwohl er dies immer wieder rechtfertigen muss. Er schreibe "für Inder wie mich. Inder, die schon als Kinder auf Englisch Freundschaft schlossen, sich auf Englisch stritten und - etwas später natürlich - auf Englisch umwarben." Diese Inder "teilen eine urbane Erziehung und eine internationale Sicht auf die indische Realität. Ich glaube, dass dieser Blick nicht weniger authentisch 'indisch' ist, als die Weltanschauungen von Schriftstellern, die in anderen indischen Sprachen veröffentlichen. Warum soll der Bauer vom Dorf oder der Kleinstadt-Lehrer mit seiner Stirnmarkierung indischer sein als der schlagfertige Student oder der Salonlöwe aus Bombay? Indien ist ein riesiges und äußerst komplexes Land. Es gibt sehr viele, sehr verschiedene Indien. Ich schreibe über ein Indien der vielen Wahrheiten und vielen Realitäten, ein Indien, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Auf Englisch lässt sich diese Vielfältigkeit besser ausdrücken als in jeder anderen indischen Sprache, weil es seine Wurzeln nicht in einer bestimmten Region des Landes hat."

Weitere Artikel: Christine Schlötzer stellt eine neue Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über kopftuchtragende Türkinnen in Deutschland vor (einzusehen hier), die mit einigen Klischees aufräumt; so etwa wünschten sich 90 Prozent der Frauen eine demokratisch gewählte Regierung, nur 10 Prozent "träumten vom Gottesstaat". In einem Interview erklärt Michael Naumann, was sich mit der Übernahme der Herausgabe der Anderen Bibliothek durch ihn und Klaus Harpprecht von Hans Magnus Enzensberger ändern wird ("Wir haben einen anderen literarischen Geschmack als Enzensberger.") Dirk Peitz stimmt auf die heute beginnende Popkomm ein. Christoph Haas resümiert eine Tagung zu Edgar G. Ulmer, dem "Meister der amerikanischen B-Movies". Ebenfalls in einem Interview spricht der libanesische Medienkünstler Walid Raad über seine Arbeiten, die ab 22. September unter dem Titel "The Atlas-Group 1997-2004" im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigt werden.

Auf der Schallplattenseite stellt Harry Lachner das neue Album von David Thomas, "Why I Hate Women", vor, informiert wird über die Wiederveröffentlichung von 300 Salsa-Alben aus New York, das DJ-Terzett International Pony gibt im Interview Auskunft über ihr zweites Album "Wie sind vier", und in der Kolumne "Das dreckige Dutzend" geht es um Neues von Justin Timberlake, Robbie Williams und Missy Elliot.

Besprochen werden Michael Winterbottoms Film "The Road to Guantanamo", eine Inszenierung der "Dreigroschenoper" in Luzern, Eliam Kraiems Stück "Sechzehn Verletzte" in den Hamburger Kammerspielen und eine Studie mit dem Titel "Venus öffnen. Nacktheit, Traum und Grausamkeit" von Georges Didi-Huberman (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).