Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2006. Die Regensburger Papstrede ist unerschöpflich! In der Berliner Zeitung erklärt der Religionswissenschaftler Rolf Schieder, dass die Kritik am Protestantismus viel radikaler war als die Kritik am Islam. In der Welt ruft Anne Applebaum die westlichen Institutionen der Rechten, der Linken, der Mitte auf, die Redefreiheit des Papstes zu verteidigen. Das Böse wurde beim Deutschen Historikertag mit dem Namen Herr K. belegt, berichtet die taz. Die FR wagt sich in eine Sinnsucherfanganlage. In der NZZ beschreibt Bahman Nirumand die "freiwillige" Selbstkritik des iranischen Philosophen Ramin Jahanbegloo. Die SZ stellt das Projekt Berlin Townhouses vor.

Welt, 23.09.2006

Die gerade in Berlin weilende amerikanische Autorin und Publizistin Anne Applebaum kommt nochmal auf die Papstrede zurück und meint, dass westliche Politiker und Intellektuelle aufhören sollten, sich zu entschuldigen: "Stattdessen sollten sie einen Weg finden, wie sie sich gegen die empörende Überreaktion eines Teils - leider des lauteren Teils - der muslimischen Welt vereinen können. Damit meine ich nicht, dass wir uns alle bemühen sollten, diese spezielle Predigt zu verteidigen oder zu analysieren... Aber ganz gewiss können wir uns doch vereinen, um die Rede- und Pressefreiheit zu unterstützen. Und wir können uns auch vereinen, wenn wir gewalttätige, unprovozierte und völlig unakzeptable Angriffe auf Kirchen, Botschaften und ältere Nonnen verurteilen - und zwar laut! Mit 'wir' meine ich hier das Weiße Haus, den Vatikan, die Grünen in Deutschland, das französische Außenministerium, die Nato, Greenpeace, Le Monde die FAZ, den Daily Telegraph und Fox News - westliche Institutionen der Rechten, der Linken, der Mitte und von allem, was dazwischen liegt."

In der Literarischen Welt empfiehlt Mariam Lau Ayaan Hirsi Alis neues Buch "Mein Leben, meine Freiheit": "Jeder Integrationspolitiker sollte ihr Buch lesen. Wie somalische Flüchtlinge die Sozialhilfe vom niederländischen Staat nahmen, den sie verachteten; wie Feministinnen sich duckten, wenn es zum Konflikt zwischen Frauen- und Einwandererrechten kam; wie Politiker unter dem Vorwand des 'Pragmatismus' vermeiden wollten, eine Debatte über Werte zu führen, statt Einwanderung endlos als sozio-ökonomisches Problem zu sehen - das kann man hier leicht studieren."

Außerdem bespricht Richard Wagner Imre Kertesz' neues Buch "Dossier K.", und Hannes Stein erzählt die spannende Geschichte des Romans "In der Mitte der Nacht" von Michael Cox.

Im Feuilleton unterhält sich Frank Wegner mit Neo Rauch, der in Leipzig neue Gemälde zeigt: "Ich bin nicht auf die hämische Kritik irgendwelcher Berlin-Mitte-Schnösel angewiesen. Ich weiß selbst, wo?s bei mir klemmt. Ich muss mir eigentlich von niemandem sagen lassen, wo die Schwachpunkte liegen. Das weiß ich selbst zuallererst. Ich bin selbst mein schärfster Kritiker." Konrad Adam schreibt über die Trauerfeier für Joachim C. Fest.

Berliner Zeitung, 23.09.2006

Die Regensburger Rede des Papstes ist unerschöpflich! Dem Religionswissenschaftler Rolf Schieder ist jetzt aufgefallen, dass die Kritik Benedikt XVI. an der islamischen Theologie "nur der Auftakt war für eine weitaus radikalere Kritik an der protestantischen Theologie".

Außerdem: Musik- und Theaterkritiker der Berliner Zeitung erklären sich gegenseitig Frank Castorfs Inszenierung der "Meistersinger" nach der Wagner-Oper und Ernst Tollers "Masse - Mensch" an der Volksbühne.

TAZ, 23.09.2006

Ralph Bollmann berichtet über den 46. Deutschen Historikertag in Konstanz, auf dem der "fatale Name" Guido Knopp, der für die meisten Historiker "das Böse schlechthin verkörpert", das "heimliche Leitmotiv" gewesen ist. Dessen auf Zeitzeugenschaft setzende TV-Geschichtsbewältigung sehen die Experten mit Misstrauen, einer von ihnen nennt die Methode gar "Geschichtspornografie". "Drei Tage lang war stets von 'Herrn K.' die Rede - keine Anspielung aufs Brecht-Jahr, sondern vielmehr auf den Geschichtsschreiber Golo Mann, in dessen 'Deutscher Geschichte' Adolf Hitler immer nur als 'H.' vorkommt. Das sollte Knopp gleich doppelt charakterisieren. Zum Ersten als Exponenten des größten denkbaren Zivilisationsbruchs im Medium Fernsehen, zum Zweiten in seiner geradezu manischen Fixierung auf die Nazizeit."

Besprochen werden Frank Castorfs Inszenierung von Fragmenten von Richard Wagners "Meistersingern" und Ernst Tollers "Masse Mensch" mit einem Bühnenbild von Jonathan Meese in der Berliner Volksbühne, die Ausstellung "Desire exists where pleasure is absent" mit der Videoinstallation "Twelve" der Künstlerin Barbara Kruger in der Kestnergesellschaft Hannover, Laurent Cantets Film "In den Süden" über den Sex-Tourismus von Amerikanerinnen in Haiti und Bücher, darunter Sasa Stanisics Debütroman "Wie der Soldat das Grammofon reparier", der Favorit für den Deutschen Buchpreis, Benjamin Kunkels Debütroman "Unentschlossen" und der Reportageband "In der Hölle. Blicke in den Abgrund der Welt" des Journalisten Denis Johnson (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Im tazmag schreibt Dirk Knipphals einen Abgesang auf Kontaktanzeigen in Zeitungen. Thomas Winkler untersucht, wie es Seattle 15 Jahre nach dem Erscheinen von "Nevermind" geht. Und Judith Luig berichtet von einer akademischen Revolte in Montreal: An der McGill Universität arbeiten Studenten und Professoren an einem alternativen Gesetzestext - nach dem Werk von Shakespeare.

Auf der Meinungsseite will Uri Avnery nicht an den Friedenswillen der israelischen Regierung (wohl aber an den der Palästinenser und Araber) glauben. "In den Augen der israelischen Führung ist die Friedensinitiative - jede Friedensinitiative - nichts als eine üble Verschwörung, um uns der besetzten Gebiete zu berauben."

Schließlich Tom.

FR, 23.09.2006

Mirja Rosenau besichtigt eine Ausstellung mit den hintergründigen Arbeiten des Künstlers Andreas Slominski im Museum für Moderne Kunst Frankfurt, das er in eine "Riesenfalle" beziehungsweise eine "Besucherfalle, einen Kunstbetrachtermassenfang, eine Sinnsucherfanganlage" umgebaut hat. "Hoffnungsvoll läuft man ins Frankfurter Museum für Moderne Kunst hinein und nimmt am Eingang noch ein Heftchen an (es verspricht 'Handreichungen zum Verständnis' der gezeigten Werke). Und zack - ist man ins Netz gegangen. Es ist ein Netz aus Querverweisen, Sichtachsen, Sinn- und Wortspielen (...) Wollte man all die Verbindungen und Verweise in ein Schema bringen, erhielte man wohl die - in der zeitgenössischen Kunsttheorie nicht eben unpopuläre - Gestalt eines Rhizoms."

Weitere Artikel: Elke Buhr berichtet von der Popkomm in Berlin, deren Schwerpunkt die "Creative Industries" waren, das neue Thema, "bei dem sich Politik und Pop treffen". Carmela Thiele informiert über den Fall eines "Ausverkaufs von Kulturgut": Das Land Baden-Württemberg will mit dem Verkauf von wertvollen Handschriften aus der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe das Schloss Salem am Bodensee sanieren. In der Reihe "Lob & Preis der einfachen Dinge des Lebens" huldigt Verena Mayer dem Camping als der "idealen Form der Fortbewegung". Und in der Kolumne Plat du Jour räsoniert Martina Meister über die Metamorphose des normalen Pausenbrots zum "Bioquatsch".

Besprochen werden die Uraufführung von Vladimir Tarnopolskis Stück "Jenseits der Schatten" in Bonn, die Ausstellung "Das Boot Revisited" im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt und ein Buch mit CD, das die Geschichte des DDR-Punk aufarbeitet (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 23.09.2006

Ende April wurde der iranische Kulturforscher und Philosoph Ramin Jahanbegloo verhaftet. Bahman Nirumand beschreibt, wie Jahanbegloo sich nach seiner Freilassung in einem Interview mit der Nachrichtenagentur ISNA selbst bezichtigte, "in die Fänge der amerikanischen und zionistischen Geheimdienste geraten und für deren Ziele, die sich gegen die nationalen Interessen Irans richteten, eingespannt worden (zu) sein. Man habe ihn oft zu Kongressen und Tagungen eingeladen, ihm für seine wissenschaftlichen Projekte Stipendien gegeben und ihn zuletzt mit einer vergleichenden Studie über Intellektuelle in Osteuropa und in Iran beauftragt. Er habe untersuchen sollen, wie weit iranische Intellektuelle in der Lage seien, ähnlich wie in den Staaten Osteuropas eine 'sanfte Revolution' zu organisieren." Mag sein, dass niemand an die Echtheit dieser Aussagen glaubt, aber die Botschaft ist für Nirumand klar: "Hinter jedem Angebot aus dem Ausland, einen Artikel zu schreiben, an einer Tagung teilzunehmen, ein Interview zu geben oder die Finanzierung eines wissenschaftlichen Projekts anzunehmen, stecke eine Falle der Geheimdienste, folglich sei jeder Kontakt mit dem Ausland Verrat an nationalen Interessen."

Weiteres: Christine Wolter beschreibt die Feierlichkeiten zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen des Literaturpreises Premio Grinzane Cavour. Besprochen werden die Ausstellung "Harmonie und Dissonanz. Gerstl - Schönberg - Kandinsky" im Kunsthaus Zug und Bücher, darunter F. C. Delius' Erzählung "Bildnis der Mutter als junge Frau".

Die Beilage Literatur und Kunst widmet drei Artikel Dmitri Schostakowitsch: Marco Frei verteidigt den Komponisten gegen Vorwürfe, ein loyaler Diener Stalins gewesen zu sein. Felix Meyer stellt Neuaufnahmen und Wiederveröffentlichungen der Musik Schostakowitschs vor, und Katja Petrowskaja stellt den Fußballfan Schostakowitsch vor. Ludger Lütkehaus blickt misstrauisch auf die Liaison von Psychoanalyse und Neurobiologie. Abgedruckt ist eine Rede von Navid Kermani über Europa als Utopie, die realistischer sei als der Realismus, der die Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union auf Eis legen will.

Besprochen werden und Bücher, darunter der erste Band von Friedrich Kittlers Studie über Musik und Mathematik, "Hellas. Teil 1: Aphrodite" und Christoph Ransmayrs Roman "Der fliegende Berg" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 23.09.2006

Durch den "recht überflüssigen englischen Begriff in globalistische Marktform geföhnt" befindet Gerhard Matzig das Projekt "Berlin Townhouses", das "den seit Jahrhunderten in Europa bekannten Typus des 'vornehmen Bürgerhauses'" reanimiere. Sein vernichtendes Urteil: "Die Architektur der stadträumlich geschickt situierten und baupolitisch klug durchgesetzten 'Berlin Townhouses' erweist sich bei näherer Betrachtung als Groteske. Und mehr als das: als Lehrbeispiel einer missverstandenen Liberalität im Stadtraum. In Berlin triumphiert die überindividualistische Gesellschaft über das Wesen der Allgemeinheit. Selten zuvor wusste sich bauliche Egozentrik eine so feine Adresse zu verschaffen. Die spektakelhaften Schauwerte des Projekts, in dem sich 47 Bauherren mit 47 Architekten auf denkwürdige Weise verwirklichen dürfen, entsprechen den inneren Werten leider in keiner Weise."

Helmut Böttiger fasst eine Diskussion über die Zukunft des Goethe-Instituts in der Berliner Akademie der Künste zusammen. "Bei der Arbeit" beobachtet Alex Rühle in der gleichnamigen Artikel-Serie heute genau und atemlos den Schlagzeuger Martin Grubinger und andere Perkussionisten, die sich auf das Bonner Beethovenfest vorbereiten. Volker Breidecker berichtet über die gestrige Trauerfeier für Joachim Fest in der Frankfurter Paulskirche. Der Schriftsteller Martin Mosebach setzt sein Indisches Tagebuch fort. Mathias Weichelt unterrichtet uns über die technische Aufgeschlossenheit von Stefan George, der sich bereits 1920 für "Taschentelefone" und die drahtlose Kommunikation erwärmen konnte. Jörg Magenau berichtet über das Literaturfestival in Lemberg, das parallel zur dortigen Buchmesse in diesem Jahr erstmals stattfand. Zu lesen ist ein Interview mit Ravi Coltrane, dessen Vater John 1967 starb und nun 80 geworden wäre. Nicola Roeb schließlich meldet, dass der Rat für deutsche Rechtschreibung seinen Reformprozess vorläufig abschließt - "weil der Markt und die Menschen erst mal beruhigt werden sollen".

Besprochen werden die Ausstellung "Picasso - Malen gegen die Zeit" über das Spätwerk Picassos in der Albertina Wien, Laurent Cantets Film "In den Süden", Roland Schimmelpfennigs Gegenwartskomödie "Ambrosia" am Deutschen Theater Berlin und Bücher, darunter Georges Batailles' Roman "Das Blau des Himmels" (siehe hierzu unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der Wochenendbeilage erklärt Aleks Scholz, Astronom, Redaktionsmitglied beim Weblog riesenmaschine.de und Mitverfasser des derzeit in Arbeit befindlichen "Lexikons des Unwissens", das er gemeinsam mit Klagenfurt-Gewinnerin Kathrin Passig schreibt, in einer so bezeichneten "Mystifikation", weshalb es gar nicht schwer sei, den Bachmann-Wettbewerb zu gewinnen und man dafür nur einen "gescheiten Strategieplan" brauche.

FAZ, 23.09.2006

Abgedruckt sind die Gedenkreden von Martin Walser und von Frank Schirrmacher für Joachim Fest. Jürg Altwegg wirft einen Blick in französische Zeitschriften, die sich - wieder? immer noch? - mit dem Kopfstoß Zinedine Zidanes beschäftigen. Heinrich Wefing berichtet vom Juristentag, der sich mit der Sterbehilfe befasste. Michael Althen gratuliert Uschi Obermaier zum Sechzigsten. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Joachim Schürmann zum Achtzigsten. Gerhard Rohde schreibt zum Tod des Dirigenten Armin Jordan. Friedrich Karl Fromme ist froh, dass Rainer Barzel beim Staatsakt "gerechte Nachrede" zuteil wurde.

Auf den Seiten der ehemaligen Tiefdruckbeilage lesen wir einen Auszug aus Tilman Spreckelsens Band "Augenblicke. Geschichten vom Sehen". Dietmar Dath porträtiert den Lyriker William Empson. Für die Medienseite besuchte Michael Seewald die Dreharbeiten zur HBO-Serie über das antike Rom in Cinecitta.

Besprochen werden eine Ausstellung des Schweizer Objektkünstlers Daniel Spoerri im Staatlichen Museum Schwerin, die Janosch-Verfilmung "Oh, wie schön ist Panama", Klaus Maria Brandauers Kölner und Didier von Orlowskys Lübecker "Lohengrin", ein Auftritt der Band Seachange in Köln und Bücher, darunter Benjamin Kunkels Roman "Unentschlossen" (hier eine Leseprobe).

Auf der Schallplatten- und Phonoseite stellt Stephan Mösch neue DVDs vor mit Aufnahmen der "Entführung aus dem Serail". Die Scissor Sisters wecken die Dämonen in Klaus Ungerer. Dieter Bartetzko ist baff, als er eine Blues-Platte von Diana Ross hört, die in den Siebzigern aufgenommen und jetzt erstmals veröffentlicht wurde. Britta Richter bespricht eine CD des Vokalensembles SWR, mit Aufnahmen von Wagner, Strauss und Nono.

In der Frankfurter Anthologie stellt Anton Thuswaldner ein Gedicht von Alois Hergouth vor:

"Kleine Dämonie

Nicht immer ist es der Mond,
der alte, mit dem ich
per Du bin.
..."