Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2006. Die Berliner Zeitung beobachtet die digitale Revolution auf dem Büchermarkt. Die taz schildert anlässlich des Buchmessenschwerpunkts das komplizierte Verhältnis zwischen dem Englischen und den Regionalsprachen in der indischen Literatur. Außerdem besucht sie die umfassende Ausstellung über deutsche Juden in der Emigration. Die NZZ führt uns durch die brodelnde Kunstszene Schanghais. Der Tagesspiegel war dabei, als der Nobelpreis für Reportageliteratur verliehen wurde.

TAZ, 02.10.2006

Katharina Granzin wirft auf den Tagesthemenseiten einen Blick auf den Buchmessenschwerpunkt Indien und erläutert das komplizierte Verhältnis zwischen den Regionalsprachen und dem Englischen: "Es ist nicht in erster Linie die erschwerte Rezeption im Ausland, die das Schreiben in Regionalsprachen für die Autoren zum Problem machen kann. Auch im eigenen Lande tendiert englisch geschriebene Literatur dazu, wesentlich mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hat sie doch den unschätzbaren Vorteil, in ganz Indien gelesen werden zu können. Der in Bombay ansässige Kiran Nagarkar zum Beispiel, der seine schriftstellerische Laufbahn auf Marathi begann, beugte sich irgendwann diesem Marktgesetz. Von seinem ersten Roman 'Sieben Sechsen sind 43' (natürlich noch nicht ins Deutsche übersetzt), der indischen Kritikern als ein Höhepunkt der Marathi-Literatur gilt, verkauften sich in dreißig Jahren gerade einmal 1.500 Exemplare. Seinen nächsten Roman 'Ravan & Eddie' (A1 Verlag) schrieb Nagarkar auf Englisch. Er wurde ein Riesenerfolg..."

Für den Kulturteil besucht Christian Semler im Berliner Jüdischen Museum die erste große Ausstellung, die der Emigration deutscher Juden in der Nazizeit gewidmet ist: "Die Ausstellung besticht durch eine dichte, an Einzelschicksalen von Emigranten orientierte Darstellung. Glücklicherweise hat es unter den Emigranten genug Menschen gegeben, die das Aufbewahren von Fotos, Briefen, Spielzeug, aber auch von amtlichen Dokumenten nicht lassen konnten. Auch seitens der nazistischen Täter finden wir eine Fülle von Material. Beeindruckend ist die Dokumentation von sechs Bescheinigungen, die der künftige Emigrant, oft bis aufs Hemd ausgeraubt von den Behörden, beibringen musste, ehe ihm erlaubt wurde, das Land zu verlassen."

Weitere Artikel: Susanne Messmer porträtiert den chinesischen Maler Yang Shaobin, der auf seinen jüngsten Gemälden chinesische Kohlekumpel zeigt. Dieter Kammerer verfolgte eine Tagung der Berliner Filmhochschule über "40 Jahre Berliner Schule". Brigitte Werneburg stellt die Shortlist des Berliner Preises für junge Kunst vor. In tazzwei erfahren wir von Marius Meyer, dass es immer mehr Deutsche ohne islamischen Hintergrund gibt, die den Ramadan begehen.

Schließlich Tom.

NZZ, 02.10.2006

Samuel Herzog führt uns durch die brodelnde Kunstszene Schanghais: "Man kann Schanghais Kunstszene wohl mit einigem Recht als einen Hot Pot bezeichnen - brauen sich doch da die verschiedensten Ingredienzien unmittelbar vor unserem Auge zu einer neuen Kunstszene zusammen, von der wir sicher in nächster Zukunft noch einiges hören, sehen und vielleicht sogar riechen werden. Im Unterschied zur chinesischen Küche allerdings sind die einzelnen Zutaten noch nicht optimal aufeinander abgestimmt. Die Ziele von Institutionen wie der Biennale, dem MoCA, dem Zhu Qizhan Art Museum, dem Duolun MoMA und dem Zendai MoMA sind noch zu ähnlich. Der 'Satellite'-Schau als selbständiger Ergänzung zur Biennale fehlt es noch an Profil - und die Galerien-Szene an der Moganshan Road müsste vielleicht etwas genauer darauf achten, wen sie alles in ihrer Mitte aufzunehmen bereit ist."

Weiteres: Aus nicht genanntem Anlass brandmarkt Uwe Justus Wenzel das Mobiltelefon als aufdringliches Anzeichen für eine zunehmende Unzivilisiertheit. Joachim Güntner berichtet vom wachsende Unmut wissenschaftlicher Autoren über die Urheberrechtsnovelle, die Bibliotheken und Archiven erlauben, Bücher und Zeitschriften digital zu erfassen. Nick Liebmann war auf dem "Generations 2006"-Jazzfestival in Frauenfeld. Besprochen werden Werner Düggelins Inszenierung von Oscar Wildes "Bunbury" im Schauspielhaus Zürich und eine "Wilhelm-Tell"-Aufführung in St. Gallen.

Die zwanzigseitige Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse eröffnet Martin Meyer mit einem Loblied auf Botho Strauss' Parabeln "Mikado". Wir werden die Beilage in den nächsten Tagen auswerten. Die Besprechungen in der NZZ finden Sie alle hier.

Tagesspiegel, 02.10.2006

Im Tagesspiegel berichtet Jan Oberländer über die Verleihung des internationalen Reportagepreises Lettre Ulysses Award 2006 in Berlin. Der erste Preis, überreicht von Ryszard Kapuscinski, ging an die Britin Linda Grant (mehr) für ihre Reportage über junge Soldaten in Israel, "People on the street" (hier ein Auszug). "Seit seiner Premiere 2003 hat der 'Nobelpreis für Reportageliteratur' an internationalem Renommee hinzugewonnen. Was an der hochkarätig besetzten Jury liegt, an der Qualität der ausgezeichneten Texte und an der Dotierung mit insgesamt 100.000 Dollar. Hinzu kommt, dass das gewöhnliche Geschäft mit der Reportage immer zynischer geworden ist. So zitiert ein Reporter im Flüsterton einen Korrespondentenspruch, den er während des Kriegs auf dem Balkan gehört hat: 'Is anybody here who has been raped and speaks English?'"

Lange Auszüge aus den Reportagen der Finalisten können Sie im neuen Lettre-Heft lesen. Und noch etwas: Leider stellt der Hauptsponsor des Preises, die Aventis Foundation, nach fünf Jahren seine Unterstützung ein. Potentielle Nachfolger - die sich hier wirklich verdient machen können - wenden sich an Lettre-Chef Frank Berberich.

FAZ, 02.10.2006

Gerhard Stadelmaier erlebt Lust und Frust in Zürich. "Wünsch Dir was" von der "Postpop-Briefkastentante des kurrenten Pseudoweltschmerzes" Sibylle Berg fällt durch, Werner Düggelins Version von Oscar Wildes "Branbury" hingegen kann mit Witz, Pointen und Schauspielern punkten. "Sylvester Groth als etwas derangiert wuscheliger Algernon im giftgrünen Cordsamtanzug zu schwarzgelb gepunktetem Shawl und Marcus Bluhm als rauh aristokratoproletarischer, die Hände in den Hosentaschen vergrabender Jack gehen in den Pointenkampf dieser beiden Ernst-sein-Woller, als hinge der Text wie eine hübsche, schwere, aber ungemein reizvolle Wolke über ihren Köpfen. Als müssten sie ihr Wesen, ihre Seele, ihren Charakter dem Witz Wildes erst aussetzen: als koste dieser ihre ganze Substanz."

Weitere Artikel: Jordan Mejias schließt Norman Fosters Hearst Tower stellvertretend für alle New Yorker umgehend ins Herz. In aller Form protestiert der Freiburger Philologe Felix Heinzer gegen den geplanten Verkauf von mittelalterlichen Handschriften durch das Land Baden-Württemberg. Hannes Hintermeier führt in die Problematik von Googles vor zwei Jahren begonnenen Buchdigitalisierungen und die Proteste der Verlage ein. Dietmar Dath hält den andauernden Streit um die Verfilmungen des Lebens von Philip K. Dick für eine späte Rache des zeitlebens unverstandenen Science-fiction-Autors. Julia Spinola überreicht dem Komponisten Steve Reich Glückwünsche zum Siebzigsten. Hannelore Schlaffer bezeugt, dass Dietrich Fischer-Dieskau sein Buch über "Goethe als Intendant" in Weimar vorgestellt hat. Eine eigene Seite und einen kleinen Begleittext von Durs Grünbein bekommen Thomas Florschuetz' Aufnahmen des demolierten Palastes der Republik, die nun in einem Bildband erschienen sind.

Auf der Medienseite beschreibt Erna Lackner die eher gedämpfte Stimmung im ORF, dessen neue Führungsriege doch wieder poltiischer ist als von den Redakteuren erhofft.

Auf der letzten Seite stellt Georg Scholl den estnischen Wissenschaftler Tarmo Soomere vor, der durch seine erfolgreiche Vorhersage einer Sturmflut nun von der Zeitung Postimees zum Mann des Jahres gewählt wurde (hier sein estnischer Wikipedia-Eintrag). Dieter Bartetzko freut sich über ein gestiegenes Interesse an Baudenkmälern in Danzig und anderswo. Den Rest füllen demnächst im Wallstein Verlag erscheinende Briefschnipsel von Golo Mann.

Besprochen werden ein Auftritt des Hallen füllenden schwedischen Jazztrios um Esbjörn Svensson in Schweden, Karsten Weigands "detailgenaue" Inszenierung von Donizettis "Maria Stuarda" an der Berliner Staatsoper, die zahlreichen Premieren des Maxim Gorki Theaters, (von denen Irene Bazinger nur die Inszenierung von Einar Schleefs "Das Haus" einwandfrei findet), Robert Wilsons nach 1988 zweiter Anlauf zu Heiner Müllers "Quartett" im Pariser Odeon Theater, die Ausstellung "Heimat und Exil" über die aus dem Dritten Reich vertriebenen Juden im Jüdischen Museum Berlin, und Bücher, darunter eine juristische Betrachtung von Vaterschaftstests und Leo Perutz' Roman "Der Meister des Jüngsten Tages" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 02.10.2006

Im Tagesthema berichtet Brigitte Preissler über einen der Schwerpunkte der Frankfurter Buchmesse: Digitalisierung von Büchern. Einer der Vorreiter und Marktführer in diesem Bereich ist Books on Demand. Hier kann jeder sein Manuskript selbst drucken. In diesem Jahr landeten "erstmals zwei BoD-Titel auf wichtigen Bestsellerlisten. 'Lucy mit c', eine populärwissenschaftliche Darstellung von Nahtod-Erfahrungen von Markolf H. Niemz schaffte es auf die Liste der Fernsehzeitschrift Gong. Und kürzlich stieg ein Ratgeber für Existenzgründer - 'Die 7 Sünden beim Gründen' - auf Platz 17 der Wirtschaftsbestseller-Liste des Manager Magazins ein. Wie beim Spiegel werden beide Rankings nicht etwa durch die jeweiligen Redaktionen, sondern durch Buchhandelsanfragen des Branchenblatts Buchreport ermittelt. Erschienen sind beide Bestseller in der 'Edition BoD'. Für diese Reihe wählt Verleger Vito von Eichborn seit Jahresmitte aus hunderten von BoD-Veröffentlichungen monatlich einen Titel aus. Dass der angesehene Gründer des Eichborn-Verlages sich nun für die Neuerung einsetzt, könnte die künftige Salonfähigkeit des 'on Demand'-Prinzips begünstigen; BoD hofft jedenfalls, mit Eichborns Hilfe als klassischer Verlag zu reüssieren." Dazu gibt's ein Interview mit dem Verleger Eichborn.

FR, 02.10.2006

Jürgen Otten kommentiert noch einmal die Absetzung des "Idomeneo" an der Deutschen Oper: "Es mag ungeschickt gewesen sein von Kirsten Harms, den Idomeneo abzusetzen. Vielleicht sogar ein wenig feige. Es mag merkwürdig sein, dass die Oper bereits in den Spielplänen nicht mehr zu finden ist, die seit Wochen ausliegen. All das mag befremden. Doch weit befremdlicher, ja nachgerade bigott ist, dass jetzt alle wieder wie eine Mauer vor ihr stehen, sie anstarren und ihr die Schuld zuweisen." (Für morgen Vormittag hat Harms eine Debatte unter anderem mit Innensenator Ehrhart Körting, Kultursenator Thomas Flierl und Bischof Wolfgang Huber angesetzt).

Elke Buhr erzählt vom Berliner Art Forum, auf dem Galerist Gerd Harry Lybke die Skulptur zum neuen Trend ausgerufen hat. Ralf Grötker schreibt zum 25-jährigen Bestehen des Berliner Wissenschaftskollegs. In Times mager spießt Ina Hartwig die Schwierigkeiten deutscher Schriftsteller auf, königliche Hoheiten protokollarisch korrekt zu begrüßen.

Besprochen werden die Inszenierung von Ibsens "Baumeister Solness", mit der Armin Petras seine Intendanz am Berliner Maxim-Gorki-Theater eröffnet, und Friederike Hellers Dramatisierung von Turgenjews "Väter und Söhne" am Staatstheater Stuttgart.

Welt, 02.10.2006

Corinna Schmid spricht mit Ulrich Mühe über seinen ungewohnten Einsatz als heldenhafter Archäologe im Film "Das Geheimnis von St. Ambrose", der am Dienstag im ZDF läuft. Holger Kreitling bespricht Sönke Wortmanns große Fußball-Dokumentation "Deutschland. Ein Sommermärchen". Reinhard Wengierek würdigt den "furiosen Start" Armin Petras' als Intendant des Berliner Gorki-Theaters. Mehr Neues haben wir im Internetauftritt der Welt nicht gefunden.
Stichwörter: Mühe, Ulrich, Petras, Armin, ZDF

SZ, 02.10.2006

Johannes Willms berichtet über den Fall des französischen Gymnasiallehrers für Philosophie Robert Redeker, der seit zwei Wochen unter Polizeischutz lebt. Redeker hatte in einem Meinungsbeitrag im Figaro "den Propheten Mohammed als 'gnadenlosen Kriegführer, Plünderer, Judenmörder und Polygamisten' charakterisiert". Die Folge: Hass-Mails und islamistische Internetseiten, die sein Foto und seine Adresse veröffentlichen - "verknüpft mit mehr oder weniger unverhüllten Aufforderungen, Redeker zu töten". Der Islam, so Willms, "wird auf Dauer nicht darum herumkommen, als Glaubensgemeinschaft selber in eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der rabiaten Ideologie des Islamismus einzutreten, der ihn, wie auch dieser Fall wieder zeigt, nur diskreditieren kann."

Weitere Artikel: Birgit Sonna freut sich auf den Berliner Kunstherbst. Henning Klüver schickt Nachrichten aus Mailand. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert dem Choreografen Wim Vandekeybus zum zwanzigsten Geburtstag seiner Kompanie Ultima Vez. Harald Eggebrecht glaubt nicht, dass Anne-Sophie Mutter tatsächlich mit 45 Jahren ihre Karriere beenden wird - aber wenn doch, hat er auch dafür volles Verständnis. Johannes Willms berichtet von der Ankündigung des Luxuskonzerns LVMH, mit der "Fondation Louis-Vuitton" eine große Stiftung mit Werken zeitgenössischer Kunst in Paris einzurichten.

Neun Theaterkritiken auf der ersten Feuilletonseite - das spricht nicht dafür, dass eine herausragende Inszenierung dabei war. Besprochen werden Stephan Rottkamps Inszenierung von Shakespeares "Othello" in Düssseldorf, Stefan Bachmanns Inszenierung von Thomas Jonigks "Heimliches Rufen" in Düsseldorf, Friederike Hellers Inszenierung von Turgenjews "Väter und Söhne" in Stuttgart, Barbara Bürks Inszenierung von Lutz Hübners "Für alle das Beste" in Hannover, Felicitas Bruckers Inszenierung von Anja Hillings "Engel" in München, Christian Stückls Inszenierung von Shakespeares "Sommernachtstraum" in München, Florian Fiedlers Inszenierung von Ray Bradburys "Fahrenheit 451" in Frankfurt (am Main, an der Oder oder was?), Christina Rasts Inszenierung von Andrzej Stasiuks "Ostmark" in Graz und Armin Petras' Inszenierung von Ibsens "Baumeister Solness" am Maxim Gorki Theater in Berlin.

Außerdem werden besprochen Karsten Wiegands Inszenierung von Donizettis "Maria Stuarda" an der Berliner Lindenoper, die Film-DVDs "Withnail & I" und "Schöne Frauen", Tomy Wigands Kinder-Thriller "TKKG" und Bücher, darunter David Blackbourns bisher nur auf Englisch erschienenes Buch "The Conquest of nature", ein Sammelband über die "Krise des Lektorats" und Ole Martin Hoystads "Kulturgeschichte des Herzens (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).