Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2006. In der FAZ schreibt Michael Lentz zum Tod von Oskar Pastior über die befreiende Wirkung des Nichtverstehens. Die NZZ wirft ein herzhaftes "kurva orszag" nach Ungarn. Die SZ klagt über den Vormarsch der Einkaufscenter in die Innenstadt. Auf dem Empfang des Suhrkamp-Verlags in Frankfurt kommt der taz plötzlich die Zentralperspektive in der Literaturszene abhanden.

NZZ, 06.10.2006

Wilhelm Droste betrachtet noch einmal die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany. Er wertet sie, und da ist er sich offenbar mit vielen Intellektuellen Ungarns einig, als einen vielleicht etwas erregten Aufruf zur gemeinsamen Kraftanstrengung: "Er flucht ungeniert aus Achtung vor der Übergröße dessen, was geleistet werden muss. Spricht er beispielsweise von 'kurva orszag', so meint er durchaus nicht, Ungarn sei ein 'Hurenland', auch wenn ein Wörterbuch das behauptet. Er flucht, um Flüche zu vertreiben. Wer ihn verstehen will, der wird ihn im Kontext nur so verstehen können. In den zum Skandal gewordenen Worten lag durchaus die Chance eines ehrlichen Neubeginns, gäbe es die Bereitschaft, sich ernsthaft zuzuhören. Doch Ungarn im Oktober 2006 sucht nicht nach Verständnis, sondern feiert sich in der Spaltung. Alle sind empört und warten auf Gelegenheit, noch empörter zu sein. So wird das Ungarische auf eine Sprache selbstgefälliger Monologe reduziert. Peter Nadas allein wird sie nicht retten können."

Weiteres: Stephan Krass schreibt zum Tod des rumäniendeutschen Dichters Oskar Pastior, in zwei Wochen hätte Pastior in Frankfurt den Büchnerpreis entgegennehmen können. Joachim Güntner hat sich auf der Frankfurter Buchmesse verschiedene Poetenlesungen angehört. Peter Cosse berichtet vom Baltic Sea Festival. Jeroen van Rooijen macht sich Gedanken über dünne Models.

Auf der Filmseite unterhält sich Marli Feldvoss mit Meryl Streep über ihren neuen Film "The Devil Wears Prada".

Die Medien- und Informatikseiten beschäftigen sich heute mit der unkritischen Berichterstattung amerikanischer Medien über die Folter von Terrorverdächtigen, mit Computerspielen und mit der Wochenzeitung, die ihren 25. Geburstag feiert.

Welt, 06.10.2006

Im Interview mit Rüdiger Sturm erklärt der amerikanische Autor James Ellroy, warum er nie etwas gegen die Verfilmung seines Romans "Schwarze Dahlie" hatte ("Ich bekam gutes Geld dafür") und woher er seine Inspiration schöpft: "Ich sehe kaum Filme, lese kaum Bücher und keine Zeitungen. Meine Informationen bekomme ich von meinen Freunden aus dem L.A. Police Department. Ich habe kein Fernsehen. Gelegentlich gehe ich zu Freunden, wo ich mir Boxkämpfe ansehe, und vereinzelt einen Film. Sie stellen mir den Apparat zur Verfügung, ich bringe die Pizza. Und das war's."

Weiteres: Herbert Wiesner schreibt zum plötzlichen Tod des Dichters und diesjährigen Büchner-Preisträger Oskar Pastior. Dankwart Guratzsch berichtet von neuen Forschungen zum Magdeburger Dom, wonach Otto I. offenbar eine zweite Großkirche hatte bauen lassen. Wieland Freund berichtet von dem Hype, den Geraldine McCaughreans mit ihrer Fortsetzung von "Peter Pan" in Großbritannien ausgelöst hat. Felix Müller hat auf der Frankfurter Buchmesse eine Bibel in gerechter Sprache gelesen. Elmar Krekeler verspürte Beklemmungen beim Suhrkamp-Kritiker-Empfang in Frankfurt.

Besprochen werden Robert Wilsons Inszenierung von Heiner Müllers Geschlechterclinch "Quartett" im Theatre de l'Odeon in paris, Stings neues Album mit elisabethanischen Liedern von John Dowland und ein postum veröffentlichtes Album von Ray Charles.

TAZ, 06.10.2006

Dirk Knipphals, unterwegs auf der Frankfurter Buchmesse, fragt sich, "ob der gute, alte Literaturbetrieb nicht längst klammheimlich gestorben ist. Seine Bestandteile sind natürlich noch da - die Schriftsteller, die Kritiker, die Verlage, die Bücher -, aber was vielleicht fehlt, ist die Zentralperspektive, von der aus man die einzelnen Ereignisse nach ihrer Wichtigkeit anordnen kann. Zum mittwöchigen Kritikerempfang des Suhrkamp Verlages geht man jedenfalls nicht mehr, weil man damit im Zentrum der großen Mutter Literatur gelandet wäre, sondern weil es eben der Empfang des Suhrkamp Verlages ist - bedeutend genug immer noch, aber nicht mehr der zentrale Hort einer Suhrkamp-Kultur und damit des Projektes Literatur insgesamt. An seine Stelle ist ein unübersichtlicher Tribalismus einzelner Erzählungen darüber, was Literatur ausmacht, getreten."

Weiteres: Die brasilianische Sängerin Marisa Monte spricht im Interview über ihre Musik, ihren Produzenten Arto Lindsay und den wählerischen Geschmack der brasilianischen Ureinwohner: In ihrem Kochtopf landeten "nur intelligente Menschen. Stammesanführer. Charismatische, herausragende Persönlichkeiten." Oliver Ruf schreibt den Nachruf auf Oskar Pastior. Besprochen werden HipHop-CDs von J Dilla, Dabrye und Nightmares On Wax.

Schließlich Tom.

FR, 06.10.2006

Martin Lüdke verabschiedet Oskar Pastior. Martina Meister fasst in Times Mager den Fall Redeker zusammen. Und es gibt zwei Splitter zur Buchmesse. Besprochen werden die Rebecca-Horn-Retrospektive im Berliner Martin Gropius Bau, eine Ausstellung mit indischen Manuskripten im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst und Bücher, darunter der erste Band der Werkausgabe von Oskar Pastior (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 06.10.2006

Gert Kähler stellt eine Firma vor, die das Gesicht unserer Städte verändert: Die ECE Projektmanagement GmbH & Co KG. "ECE steht für 'Einkaufs-Center-Entwicklungsgesellschaft'. Sie ist die größte Firma dieser Art in Europa. Alexander Otto, Sproß der Otto-Versand-Familie, ist der vorsitzende Geschäftsführer der ECE. In den Innenstädten tobt eine Center-Bauwut, die vor allem von seinem Unternehmen bedient wird." Viele Leute kaufen dort gern ein, denn der Einkauf unterm Dach ist praktisch. "Dass man ständig beobachtet wird, von Videokameras und einem privaten Wachdienst, nimmt man gern in Kauf (sofern man es bemerkt), weil es doch der Sicherheit und Ordnung dient. Weil die Bürger mit den Einkaufszentren zufrieden sind, sind es die Politiker auch. Sie müssten es allerdings besser wissen: Die versprochenen Arbeitsplätze, oft 400-Euro-Jobs, muss man gegen die in der alten Innenstadt verloren gehenden Arbeitsplätze aufrechnen. Neue Ausbildungsplätze gibt es kaum, denn die Geschäfte in den neuen Zentren bilden im Vergleich zum traditionellen Einzelhandel im Verhältnis eins zu acht aus."

Ralf Hertel stellte bei der Berliner Tagung "Global Ibsen" fest, dass "Nora" immer noch einiges Aufregungspotenzial besitzt: "Die Aufregung ist nicht nur historisch, sondern auch kulturell bedingt. Das beobachtet Errol Durbach (British Columbia) immer wieder: 'Studentinnen mit indischem Hintergrund sehen in Nora die starke Frau, die es den Machos endlich mal zeigt. Meine chinesischstämmigen Studenten dagegen können ihr nie verzeihen, dass sie das individuelle Glück mit der Zerstörung der Familie erkauft.' Für Mitsuya Mori (Tokio) stellt Ibsens Stück die ganze japanische Kultur auf den Prüfstand."

Weitere Artikel: Holger Liebs berichtet über die Versteigerung der Kunstsammlung des Münchner Hauses der Kunst. Bernd Dörries berichtet, wie das Land Baden-Württemberg nach internationaler Kritik nun doch versucht, die Karlsruher Handschriften zu retten. Jeanne Rubner hat zugehört, als bei den "Berchtesgadener Gesprächen" über den Verfall der Geisteswissenschaften diskutiert wurde. Reinhard Schulz resümiert das "renommierteste Musikfestival des Ostens", den Warschauer Herbst. Und Lothar Müller schreibt zum Tod des wunderbaren Oskar Pastior, der offenbar genauso gestorben ist, wie wir uns das alle wünschen: "Es heißt, er habe in der Wohnung seines Gastgebers auf dem Sofa Zeitung gelesen, als ihm unversehens der Kopf auf die Brust sank, zunächst unbemerkt von den Gastgebern, so still geschah das."

Besprochen werden Amelie Niermeyers Inszenierung von Elias Canettis "Hochzeit" in Düsseldorf, Mike Mills' Film "Thumbsucker" und Bücher, darunter Slavoj Zizeks "Parallaxe" und Imre Kertesz' "Dossier K. Eine Ermittlung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 06.10.2006

Zwei Wochen bevor ihm der Büchner-Preis verliehen werden sollte, ist der Dichter Oskar Pastior gestorben. Michael Lentz erzählt von einer Lesung 1992, auf der er Pastior zum ersten Mal begegnet ist. "Aber was heißt hier lesen, Oskar Pastior erfindet mit der ersten Silbe das Lesen neu, wie er auch die Poesie neu erfindet. Jeder Laut ist eine Plastik. Da artikuliert jemand mit nicht gekannter Konzentration. Das Publikum ist verblüfft - und ernstlich erheitert. Etwas nicht zu verstehen hat bis dahin nicht und nie wieder eine solch befreiende Wirkung gehabt."

Zum Selbstversuch hier einige Gedichte Pastiors auf Lyrikline.org. Und Hubert Spiegel bezeichnet Pastiors Lyrik im Nachruf als "Mischung aus wilden Faunssprüngen und klassischem Ballett".

Weitere Artikel: Von der Buchmesse gibt es neben einer ganzen Seite mit Bildern vier kurze Skizzen, in denen sich etwa "boss" beschwert, dass bei der Diskussion zu Chinas Zensurmaßnahmen kein Vertreter von Google oder Yahoo erscheinen wollte. Jordan Mejias bezweifelt, dass die New Yorker Met alleine mit den vom neuen Intendanten Peter Gelb verordneten technischen Spielereien wie der Live-Schaltung zum Times Square wieder auf die Beine kommt. Niklas Maak besucht den Architektur-Visionär Antti Lovag, der immer noch an seinem Kugelhaus in Nizza baut. Eduard Beaucamp ruft zur Wachsamkeit gegenüber der Politik auf, die wie in Baden-Württemberg das kulturelle Tafelsilber verscherbeln wolle. Franziska Bossy berichtet vom Kinderfilmfestival "Lucas" in Frankfurt".

Auf der Medienseite lässt sich Michael Hanfeld vom optimistischen Ulf Poschardt anstecken, der an einer deutschen Vanity Fair bastelt, die ab Februar wöchentlich erscheinen soll.

Auf der letzten Seite beobachtet Joseph Hanimann Yasmina Reza als Schauspielerin in Paris. Melanie Mühl spricht mit der Sängerin Edda Moser, die im thüringischen Rudolstadt ein "Festspiel der deutschen Sprache" abhält. Jürg Altwegg moniert, dass Europa den hundertsten Geburtstag seines Vordenkers Denis de Rougemont nicht gebührend würdigt.

Besprochen werden eine Ausstellung zu den Londoner Jahren von Hans Holbein dem Jüngeren in der Tate Britain, Mike Mills Film "Thumbsucker", und Bücher, darunter Dieter Thomäs Wagner-Eisenstein-Studie "Totalität und Mitleid" und Erich Loests Krimi "Der Mörder saß im Wembley-Stadion" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).