Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2006. Taz und FAZ sind sich einig: Der Begriff der Unterschicht trifft, weil er zutrifft. Heinz Bude in der SZ sieht es ähnlich. Und die FR schlägt angesichts der Probleme der Politiker mit dem Begriff vor, den Begriff des Politikers in "Mensch mit Wahrnehmungsproblemen" umzumünzen. Außerdem sagt Herfried Münkler im Tagesspiegel angesichts wahnsinniger Regimes im Besitz des Apokalypseinstruments ein neues atomares Wettrüsten voraus. Und in der Welt streiten Berliner Architekten über die Frage, wo's gemütlich ist.

Tagesspiegel, 18.10.2006

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler erklärt, warum Atombomben wieder eine echte Option für Staaten werden könnten: Bei wahnsinnigen Staaten funktioniert die Abschreckungslogik nicht mehr: "Das der Nuklearmacht in einem regional begrenzten Rahmen zuwachsende Erpressungspotenzial ist um so größer, je geringer die dieser Macht attestierte Rationalität im Sinne eines Kosten-Nutzen-Kalküls ist. Bei einem 'wahnsinnigen' Regime, das im Besitz des Apokalypseinstruments ist, versagen die eingespielten internationalen Deeskalationsmechanismen, wie die aktuelle Entwicklung zeigt. Nordkorea fasst die jüngste UN-Resolution ohne Umschweife als 'Kriegserklärung' auf. Angesichts dieser Dynamik möchten die potentiellen Opfer nuklearer Erpressungen nicht unbedingt vom nuklearen Schirm der USA abhängig sein. Man ist sich nicht sicher, ob er im Ernstfall aufgespannt sein wird. Also strebt man nach einem eigenen Schirm. Japan erwägt, trotz seiner durch Hiroshima belasteten Geschichte, die atomare Bewaffnung."

NZZ, 18.10.2006

Christoph Egger bespricht Davis Guggenheims Film "An Inconvenient Truth", in dessen Zentrum seiner Ansicht nach eher Al Gore als die Erderwärmung steht: "Der amerikanische Dokumentarist Davis Guggenheim legt hier das Porträt eines Mannes mit einer Mission vor." Lilo Weber berichtet vom Londoner Tanzfestival Dance Umbrella, das in diesem Jahr zum letzten Mal von seiner Begründerin Val Bourne organisiert wurde. Zum Abschied schart sie ihre langjährigen Weggefährten um sich und präsentiert neben Werken von William Forsythe und Anne Teresa De Keersmaeker auch "Ocean", das letzte Projekt, das Merce Cunningham mit John Cage entworfen hatte. Außerdem berichtet Hubertus Adam über die Eröffnung eines neuen Architekturmuseums in Maastricht und dessen erste Ausstellung. Und Klaus Bartels schreibt eine kleine Geschichte des Embargos.

Besprochen werden Bücher, darunter Jens Hackes Abhandlung über die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik und Kiran Desais mit dem diesjährigen Booker-Preis prämierter Roman "Erbin des verlorenen Landes" (siehe ab 14 Uhr unsere Bücherschau des Tages).

Welt, 18.10.2006

Rainer Haubrich lässt die mehrheitlich in Charlottenburger Altbauwohnungen residierenden Architekten Meinhard von Gerkan, Thomas Willemeit, Hans Kollhoff und Georg Gewers streiten, wie avantgardistisch man Berlin bebauen sollte. Kollhoff: "Lassen Sie uns doch ehrlich sein: Am liebsten säßen wir jetzt nicht hier im Hauptbahnhof, sondern irgendwo am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg, wo es gemütlich ist." - Gewers: "Ich sitze lieber im Cafe am Neuen See." - Von Gerkan: "Ich kann nur an einen alten Widerspruch erinnern: Insbesondere junge Architekten verpassen ihren Bauherrn am liebsten möglichst exaltierte Gebäude, ziehen es aber immer vor, selbst in Altbauten zu ziehen. - Welt.de: "Sie wohnen nicht im Altbau." - Von Gerkan: "Ich bin ja auch nicht exaltiert."

Immerhin ist die Unterschichtendebatte ein Symptom für die Renaissance der Gesellschaftspolitik, wie Eckhard Fuhr befriedigt feststellt. Ganz abgeklärt resümiert Michael Pilz das Pornofestival in Berlin, das mit der Tagung über "Postpornpolitics" gezeigt habe, dass das Genre schon längst als Unterhaltung zu werten ist. Igal Avidan stellt Udi Alonis Film "Mechilot" vor (mehr auf pdf), der die Grenzen zwischen Tätern und Opfern verwischt und deshalb für Diskussionen sorgt. Matthias Heine gratuliert dem Rockübervater Chuck Berry zum Achtzigsten, der übrigens am gleichen Tag geboren wurde wie Klaus Kinski, dem Jochen Förster postume Glückwünsche überreicht.

FAZ, 18.10.2006

Dietmar Dath erklärt sich im Aufmacher das Naserümpfen über den Begriff der "Unterschicht" mit dem Umstand, dass er eine Realität beschreibt. Lorenz Jäger wirft einen skeptischen Blick auf das beginnende Walter-Benjamin-Festival in Berlin. Andreas Kilb verfährt in der Leitglosse ebenso mit dem neuen Hotel de Rome in Berlin-Mitte, in das offensichtlich nicht die angemessenen Gäste einchecken. Lisa Zeitz erzählt die Geschichte des Picasso-Gemäldes "Le reve", das ein Milliardär aus Las Vegas fast für 139 Millionen Dollar verkauft hätte, bis er es aus Versehen beschädigte, was er als Gotteswink nahm, das Gemälde zu behalten. Die Meldung, dass der SPD-Kulturpolitiker Hermann Glaser Grass' Buch "Beim Häuten der Zwiebel" in den sonst selten zitierten Kulturpolitischen Mitteilungen verriss, will man nicht verschweigen. Heinrich Wefing macht sich einen Appell an Angela Merkel zu eigen, die Restitutionsrichtlinien für Raubkunst zu verändern, damit Kirchners "Berliner Straßenszene" womöglich doch noch in Berliner Besitz verbleibt. Meike Laaf berichtet über die endgültige Schließung des legendären New Yorker Punkclubs CBGB. Oliver Jungen hat tatsächlich noch einen Kreis wacker-elitärer George-Jünger aufgespürt, die auf der Insel Reichenau ein Symposion abhielten. Und Edo Reents gratuliert Chuck Berry zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite spricht Katharina Witt im Interview über eine neue Eiskunstshow. Empfohlen werden Dokumentationen über die Kissingers und über Ungarn 1956, die heute im Ersten und auf Arte laufen. Auf der letzten Seite meditiert Ingeborg Harms anlässlich des Films "Der Teufel trägt Prada" über die Subtilitäten modischer Erscheinung an der Spitze der Hierarchie - nämlich in den Redaktionen der Glamourblätter. Frank Pergande fürchtet um den Bestand des Literaturzentrums Neubrandenburg, der letzten verbliebenen Institution dieser Art, schildert aber auch die Machenschaften der Stasi an diesem zu DDR-Zeiten gegründeten Haus. Und Dirk Schümer erinnert an den venezianischen Komponisten Baldessare Galuppi, der vor 300 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden ein Auftritt George Michaels in Leipzig, die deutschsprachige Erstaufführung von Jon Fosses "Besuch" in Elias Perrigs Basler Inszenierung und zwei wieder ausgegrabene Choreografien des wegen seiner Nazi-Verstrickung umstrittenen Serge Lifar in Paris.

TAZ, 18.10.2006

Die neue, alte "Unterschichtdebatte" ist Thema mehrerer Artikel. In einem Interview auf den Tagesthemenseiten erklärt die Soziologin Jutta Allmendinger, weshalb sie den Begriff für geeignet hält, die ausweglose Situation von Armen zutreffend zu beschreiben. "Wenn jemand in einem Zeitfenster von drei Jahren nicht aus dem Armutsbereich herausfindet, dann sprechen wir von verfestigter Armut. Da bietet sich der Begriff Unterschicht sehr wohl an."

"Verlogen" findet Bettina Gaus in ihrem Kommentar auf der Meinungsseite den Definitionsstreit um den Begriff Unterschicht. "Keiner Unterschichtfamilie geht es besser, wenn man ihr versichert, dass es sie eigentlich gar nicht gibt. Es wäre nützlicher, Rettungsringe auszuwerfen." Auf der Wahrheit schreibt Carola Rönneburg über eine Studie der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, "die ein bereits zuvor kursierendes Gerücht belegt, wonach sich in Deutschland eine Oberschicht etabliert habe".

Auf den Kulturseiten erklären Stefan Krohmer, der Regisseur des Films "Sommer '04", und Daniel Nocke, der Drehbuchautor, in einem Interview ihre kongeniale Zusammenarbeit. Und Ute Scheub berichtet über den Justizskandal im Fall Nadya Andjoman; die junge afghanische Lyrikerin war 2005 von ihrem Mann totgeprügelt worden, nach fünf Monaten Haft ist dieser jetzt wieder frei.

Besprochen wird das "ehrgeizige" Initiativprojekt relations der Bundeskulturstiftung: Die beiden Bände "East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe" und "Sprung in die Stadt. Kulturelle Positionen, politische Verhältnisse" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und hier Tom.

FR, 18.10.2006

Auch die FR führt die Unterschicht-Debatte. So ätzt Hans-Jürgen Linke in Times mager gegen die Vermeidung des Begriffs in der SPD: "Sollte man vielleicht statt von 'Politikern' eher von 'Menschen mit Wahrnehmungsproblemen' sprechen?"

Zum Thema bringt die FR außerdem Auszüge aus einem Vortrag des französischen Soziologen Pierre Bourdieu aus dem Jahr 1997. Unter der Überschrift "Prekarität ist überall" schrieb er: "Weder dem Bewusstsein noch dem Unterbewussten lässt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen längst nicht mehr nur auf den Qualifikationsebenen findet, flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg. Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hochentwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind."

Weiteres: "Wunderbar zugänglich, leicht und luftig" findet Elke Buhr die Inszenierung im nach der Restaurierung wieder eröffneten Bode-Museum auf der Berliner Museumsinsel. Auf der Kommentarseite mahnt Harry Nutt, die "Kehrseite des Glanzes" nicht aus den Augen zu verlieren: die "Gesamtverfassung des deutschen Kulturerbes" mit ihrem Personalmangel, feuchten Arsenalen und Privatisierungszwang.

Besprochen werden eine Inszenierung von Sartres Stück "Die schmutzigen Hände" am Düsseldorfer Schauspielhaus und Bücher, darunter der Roman "Die Bedrohung" von Gert Loschütz und der Entwicklungsroman "Klassentreffen" von Jonathan Coe (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 18.10.2006

In der SZ stellt der Soziologe Heinz Bude fest: "Der Kernpunkt, um den es bei der gerade aufbrechenden Unterschichtsdebatte geht, besteht in der gesellschaftspolitisch folgenreichen Einsicht, dass ein wachsender Teil unserer Gesellschaft den Anspruch aufgegeben hat, ein Leben in eigener Regie zu führen. Es handelt sich um 'gebrochene Existenzen', an denen Aufforderungen zur Weiterbildung und Zumutungen von Eigenverantwortung abprallen... Definierend für diese Gruppe ist ein verfestigtes Exklusionsempfinden, das sich in dem Gefühl ausdrückt, dass es auf den Einzelnen nicht mehr ankommt. Man muss eben anders sehen, wie man sich durchschlägt, die Rede von Beschäftigungsfähigkeit, Einsatzbereitschaft und Teamfähigkeit stammt aus einer anderen Welt. Wir haben in Deutschland einen Bruch zu konstatieren zwischen denen, die in der Welt der Chancen leben, und denen, die sich in die Welt des Ausschlusses geworfen sehen."

Weiteres: Mit zwei Beiträgen feiert die SZ die Wiedereröffnung des Berliner Bode-Museums: Gottfried Knapp schwärmt von den dort zu sehenden Schätzen, und in einem Interview erläutert die Kunsthistorikerin Charlotte Klonk die Museumsinszenierung. Mathias Kolb berichtet über den Fotografen und Galeristen Issa Touma, der in Syrien für ein Foto-Festival kämpft; weil er sich weigerte, die Arbeiten vom Geheimdienst und der Baath-Partei kontrollieren zu lassen, hat er nun Probleme und muss vors Militärgericht. Sonja Zekri stellt das Wikipedia-Konkurrenzprojekt "Citizendium" vor, das zunächst mit überprüftem und "gesichertem" Wikipedia-Material ein "seriöseres" Netzlexikon starten will. Sarah Elsing porträtiert die Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz, die sich Thomas Manns "Buddenbrooks" vorgenommen hat, aber bisher keinen Verlag fand, der das Projekt realisiert. Willi Winkler gratuliert Chuck Berry zum 80. Geburtstag. Jürgen Schmieder informiert, dass das Computer-Prügelspiel "Billy" nun doch verkauft werden darf.

Besprochen werden Inszenierungen von Sibylle Bergs "Wünsch dir was" und Oscar Wildes "Bunbury" in Zürich, der Film "Ricky Bobby - König der Rennfahrer" von Adam McKay, ein Konzertabend mit dem Pianisten Murray Perahia in der Münchner Philharmonie und Bücher, darunter Patrice Bollons Biografie über Emile Cioran (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).