Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2006. In der FR freut sich Frank Castorf nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegen Berlin auf eine Wiederkehr der sozialen Schärfe in der Hauptstadt. Die NZZ schildert die Vorzüge des Bahnverkehrs im Aargau. Die SZ bringt einen Auszug aus Peter Nadas' großem Roman "Parallelgeschichten" zum Ungarn-Aufstand. In der Welt schreibt Zsuzsa Bank zum gleichen Thema. Die FAZ stellt fest: Noch nie war die Kulturrevolution in China so tabu.

FR, 25.10.2006

Volksbühnenintendant Frank Castorf ist gar nicht so unglücklich über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Berlin keine Schulden abzunehmen. Berlin sei eh zu schick geworden: "Die soziale Schärfe, das geschärfte Bewusstsein, was es ja lange in dieser Stadt gab, ist durch das Modische aufgelöst worden. Aber vielleicht kommt das jetzt wieder."

Weitere Artikel: Harry Nutt würde die Hauptstadtkulturpolitik am liebsten an die Sportbar Krause abgeben. Mirja Rosenauer betrachtet die 60 Kandinskys im Kunstmuseum Basel, doch leider vibriert ihre Seele nicht. Auch die theoretischen Schriften Kandinskys helfen nicht weiter.

Besprochen werden ein Konzert der Konzeptband The Monks in der Berliner Volksbühne und Bücher, darunter Boris Reitschusters Warnung vor "Putins Demokratur" und ein Band von Tom Holert und Mark Terkessidis über Migranten und Touristen, "Fliehkraft" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.10.2006

Der Schriftsteller Michel Mettler preist in einem Brief aus der Provinz sein suburbanes Domizil im Aargau - dessen Hauptvorzug allerdings zu sein scheint, dass man schnell wegkommt: "Ich lebe aus freien Stücken da, sage ich: weil der Blick auf den Fluss meine Arbeit befördert und der Zug nach Berlin, Paris oder meinetwegen Zürich pünktlich fährt - auf Bahnsteig eins, acht Gehminuten von meinem Schreibtisch".

Weitere Artikel: Peter Hagmann freut sich über das große Publikumsinteresse an den Donaueschinger Musiktagen. Uwe Justus Wenzel schreibt zum zweihundertsten Geburtstag des "monomanischen Windbeutels" Max Stirner. Kerstin Stremmel stellt den Erweiterungsbau der "Situation Kunst" in Bochum-Weitmar vor.

Besprochen werden Brian De Palmas Film "Black Dahlia" und Bücher, darunter Florian Illies' "Ortsgespräch" und Hans-Jörg Rheinbergers "Epistemologie des Konkreten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 25.10.2006

Auf der Meinungsseite versteht Hilal Sezgin nicht, warum sich die von Thea Dorn für ihr Buch "Die neue F-Klasse" interviewten Frauen unbedingt vom Siebzigerjahre-Feminismus absetzen wollen: "Ein Opfer will niemand sein, weil die Formulierung nahe legt, dass man nur bemitleidenswert, nicht aber handlungsfähig sei. Was aber spricht dagegen, in bewährter Frauenbewegungsart von Benachteiligung zu sprechen?"

Im Kulturteil ist Rolf Lautenschläger offenbar überhaupt nicht traurig über die Pensionierung des Berliner Senatsbaudirektors Hans Stimmann: "Über moderne oder historisierende Architektur gibt es keinen Diskurs mehr, kein Gezänk wie noch in den 1990er-Jahren. Stimmann hat all das beendet. Wenn er heute in Rente geht, hinterlässt er dieses von ihm selbst geschaffene Vakuum."

Weiteres: Kolja Mensing setzt sein Tagebuch aus dem Einkaufszentrum fort. Besprochen werden ein Konzert der "Väter der anarchistischen Konzeptmusik", The Monks, in der Berliner Volksbühne und die Rebecca-Horn-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau.

Und Tom.

FAZ, 25.10.2006

Vor vierzig Jahren begann die Kulturrevolution in China, erinnert Mark Siemons in einem Artikel für die letzte Seite, und noch nie war sie so tabu: "Schon im Frühling wurden die Medien angewiesen, das Gedenkjahr stillschweigend zu übergehen. Veranstaltungen sind nicht erlaubt." Zur Erklärung dieses Schweigens zitiert Siemons den Geisteshistoriker Wang Hui von der Pekinger Tsinghua-Universität: "'Jede Kritik an der Gegenwart kann als Rückfall in die Kulturrevolution denunziert werden und mithin als völlig irrational', schreibt Wang in seinem Buch 'China's New Order'. Insbesondere die despotischen Kontrollmechanismen des Staats und die asozialen Auswüchse des Marktes setzten sich mit dieser Methode ins Recht." Hier ein Auzug aus Wang Huis Buch.

Weitere Artikel: Heinrich Wefing zeigt sich entsetzt von der Reaktion des Berliner Senats auf die Verfassungsgerichtsentscheidung: Man erhöht die Seuern, macht neue Schulden und fordert mehr Geld vom Bund. Im reich illustrierten Aufmacher präsentiert Martin Lhotzky einige Porträts von Schauspielern des Burgtheaters, die jetzt in den Wandelgängen des Hauses ausgestellt sind. In der Leitglosse stellt Andreas Kilb den "Geschichtsbaum Deutschland" der Zeichnerin Britta Orgovanyi-Hanstein vor, ein großformatiges und kleinbeschriebenes Poster, das die Geschichte Deutschlands in Baumform darstellt. Christian Geyer denkt über die Frage der Reformfähigkeit des Islams aber auch der Islamwissenschaften nach, die sich bisher kaum historisch-soziologisch betätigten. Jürgen Kaube macht sich Sorgen um die Neuzuschneidung hochgelobter Fakultäten an der Universität Mannheim. Martin Halter begutachtet die ersten Theaterereignisse in Freiburg unter der Intendanz von Barbara Mundel, die auf "spröde Kunst und linke Spitzenforschung im Zukunftslabor" zu setzen scheint. Kerstin Holm resümiert ein Symposion über die Zeit des großen Terrors 1937/38 in der sowjetischen Provinz ("ein Mordbacchanal") am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Edo Reents gratuliert Stephan Remmler, ehemals Trio, zum Sechzigsten. Wolfgang Sandner gratuliert der Sopranistin Galina Wischnewskaja zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Michael Althen über anhaltende französische Streitigkeiten über die Frage, ob die Fernsehbilder von einem von Israelis erschossenen Palästinenserjungen, die im Jahr 2000 die Intifada mit auslösten, gestellt gewesen seien - die Bilder waren von einem französischen Team des Staatssenders Antenne 2 zuerst ausgestrahlt worden (mehr hier). Und Frank Kaspar und Christian Deutschmann stellen den Radioautor Jens Jarisch vor, der zum zweiten Mal hintereinander für ein Radiofeature den Prix Europa erhalten hat. Auf der letzten Seite weist Christian Schwägerl auf eine absurde Einwanderungsbedingung für Hochqualifizierte hin - man soll ein Jahresgehalt von mindestens 85.000 Euro nachweisen. Und Elmar Schenkel porträtiert Christopher Tolkien, der das Werk seines Vaters John Ronald Reuel vollendet.

Besprochen werden die Ausstellung "Mensch und Schrift im frühen Mittelalter", wo einige der frühesten Handschriften der Abtei Sankt Gallen gezeigt werden, eine Choreografie nach Vivaldis "Vier Jahreszeiten" in Bielefeld, Sebastian Schippers Film "Ein Freund von mir" (mehr hier) mit Daniel Brühl und Manuel Huergas Politthriller "Salvador" (mehr hier), ebenfalls mit Daniel Brühl.

Welt, 25.10.2006

Die Schriftstellerin Zsuzsa Bank, deren Eltern nach dem Ungarn-Aufstand nach Deutschland fliehen konnten, beschreibt, was 1956 für sie bedeutet: "Dass auf Ungarn und seinen Aufstand die ganze Welt geblickt hatte, wusste ich spätestens, als 1956 weg von unserem Küchentisch hinein in mein Klassenzimmer gelangt war. Ich war irritiert zu hören, dass meine Eltern bereits Teil der Geschichte waren, über die ich zu debattieren hatte, und dass sie zwischen zwei Buchdeckeln standen. Sie skandierten, trugen Transparente, forderten Freiheiten, rissen rote Sowjetsterne ab, kletterten auf Panzer, um dann, an einem kalten Novembertag in großer Angst auf einen Zug zu springen und ohne Koffer, ohne Tasche, über eine Grenze zu fliehen. Ich hätte etwas sagen können wie, da geht es um uns, das sind wir, aber ich hatte nur eine Frage, die in mir hämmerte und nagte und auf die ich keine Antwort fand: Warum hörte niemand auf den Hilferuf, den das ungarische Radio an die Vereinten Nationen, in die Welt geschickt hatte?"

Die Berliner Autorin Tanja Dückers kann es nicht mehr hören - die ständige Frage danach, was an ihren Büchern autobiografisch sei: "Je länger man sich 'Ist das autobiografisch?' auf der Zunge zergehen lässt, desto mehr offenbart es eine Herabwürdigung des Autors und seiner Begabung: Gut ist, was authentisch ist; sich etwas auszudenken, zu fabulieren scheint weniger wertvoll zu sein. Spinnen kann ja jeder. Danke sehr!"

Weiteres: Hendrik Werner berichtet, dass Jimmy Wales in seiner Wikipediagemeinde auf Ideensuche gegangen ist. In einer Rundmail soll Wales gefragt haben: "Welche Inhalte würdet ihr kaufen und frei zugänglich machen, wenn ihr 100 Millionen Dollar zur Verfügung hättet". Roland Pawlitschko meldet, dass Le Corbusiers Stuttgarter Doppelhaus renoviert und zur Besichtigung freigegeben wurde. Andre Mielke empfiehlt Tilman Achtnichs heute in der ARD laufende Dokumentation über die "Angst-Industrie", die einem die Panik von Rinderwahnsinn, Geflügelpest und Feinstaub ein für alle Mal austreibt. Hanns-Georg Rodek stellt den Regisseur Sven Unterwaldt vor, neben Bully Herbig der Hauptspaßlieferant des deutschen Kinos. Am Donnerstag kommt sein Otto-Film "7 Zwerge" in die Kinos.

SZ, 25.10.2006

Im Literaturteil ist Peter Nadas' aufreibende Erinnerung an den Ungarnaufstand zu lesen, die in dem 2008 erscheinenden Roman "Parallelgeschichten" enthalten sein wird. "Nirgends in der Stadt gab es noch Milch. Es geschah am Tag, fahler Sonnenschein sickerte durch den leichten Herbstnebel. Die Frau lief aus der entgegengesetzten Richtung zu uns herüber. Einige von uns warteten noch, wann wir loslaufen könnten. Als ihre Kanne getroffen wurde, blieb sie verblüfft stehen, als könne sie es nicht glauben. Die Milch ergoss sich in zwei Strahlen aus der Kanne. Das verriet uns jedoch, dass es hier doch noch irgendwo Milch gab, dass irgendwo noch Milch ausgeteilt wurde. Und die auslaufende Milch schien das Wichtigste zu sein. Die Frau duckte sich nicht einmal, sie ließ sich nur aufs Knie fallen und schlug die Kanne wütend zu Boden. Dreimal, viermal, ohne dass sie den Henkel losließ. Die anderen schrieen, mehrere gleichzeitig, aber ihr Schreien kam zu spät."

Annette Lettau überlegt, was es mit der Rückkehr der Farbe auf Museumswände auf sich hat. Vorreiter der Bewegung ist das Münchner Lenbachhaus, wo derzeit vier Räume von zeitgenösssichen Künstlern gestaltet wurden. Direktor Helmut Friedel verteidigt im Interview Thomas Demands umstrittene Efeu-Tapete. "Er hat das in Schwarzweiß gehaltene Efeumuster bewusst auf die prismatischen Formen von Macke konzentriert. Letztlich ist der Efeu ja auch ein Trauerflor, der den viel zu frühen und tragischen Tod von Macke reflektiert. Aber auf Katharina Grosses Graffiti, das sich ausgehend von einem Bild Jawlenskys über die Wand bis zum Fußboden ergießt, werden sich die Kritiker sicher auch stürzen."

Weiteres: Bombastisch, aber in seinem unbedingten Repräsentationswillen auch schon ein wenig überholt wirkt Santiago Calatravas Kulturzentrum in Valencia auf Merten Worthmann. Im Interview mit Michael Buchmüller bekräftigt Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee noch einmal, dass er die Ausstellung über die Deportation von Kindern im Nationalsozialismus von Jan Philipp Reemtsma konzipieren lassen und in Bahnhöfen zeigen will - trotz des Widerstands der Bahn. Zusammen mit Luxemburg ist das rumänische Sibiu die europäische Kulturhauptstadt 2007, meldet jau, der die Präsentation in Berlin erlebte. Jens Malte Fischer gratuliert der russischen Sopranistin Galina Wischnewskaja zum Achtzigsten. Alexander Kissler erinnert an den Philosophen Max Stirner.

Im Medienteil bricht Hans Leyendecker eine Lanze für die in der Rangliste der Reporter ohne Grenzen nicht so hoch geschätzte Pressefreiheit in Deutschland, und illustriert das mit Gesetzesentwürfen von FDP und Grünen, die Journalisten rechtlich stärken wollen.

Auf der Schallplattenseite werden "Natura Renovatur" von Giacinto Scelsi, die CD "Das Dieter Roth Orchester spielt kleine Wolken, typische Scheiße und nie gehörte Musik" und der Gospel-Rapper "Da Minista" vorgestellt. Heiko Hoffmann lobt die neuen Produktionen von Herbert Grönemeyers Plattenfirma "Grönland". Karl Bruckmaier lässt neue Gitarrenmusik an sich vorüberziehen.