Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2006. Die Berliner Regierung hat den Kultursenator abgeschafft. Kultur untersteht jetzt direkt Klaus Wowereit. Für die Berliner Zeitung ist das schlicht Größenwahn. Die SZ beklagt die Einfallslosigkeit. Für die Welt ist die Entscheidung reine Parteipolitik. Die FR sieht all ihre Befürchtungen bestätigt. Der Tagesspiegel hört erste Drohungen Richtung Kultur. Für die FAZ wurde die Kultur glatt enthauptet. Außerdem: Die taz überlegt, wer heute die Definitionsmacht über den Pop hat. Die FAZ hört Orhan Pamuk über Literatur und Liebe sprechen.

Berliner Zeitung, 07.11.2006

Der neuen Berliner Regierung wird kein Kultursenator mehr angehören. Klaus Wowereit will das Ressort fortan selbst führen. "Größenwahn", findet Birgit Walter. "Natürlich ist es ein hochgradig fatales Signal, das Berlin da aussendet: Es degradiert ein Ressort zu einem Anhängsel des Regierenden Bürgermeisters, das eigentlich ein 'Zugpferd' genannt wurde. Das in Ermangelung einer vorzeigbaren Industrie ein Zukunftsressort werden sollte. Klaus Wowereit erwartet für die harsche Abwertung auch noch Lob: 'Die Vernünftigen werden sagen, das ist eine sehr gute Entscheidung.' Wir bekennen: Wir sind die Unvernünftigen. Die anderen werden wir zählen."

FAZ, 07.11.2006

Die Berliner Regierung hat den Kultursenator abgeschafft. Kultur soll jetzt direkt dem Regierenden Wowereit unterstehen. Unmöglich findet das Heinrich Wefing. "Alle Beteuerungen aus den ersten Tagen nach dem Karlsruher Urteil, Berlin habe doch nichts als Kultur (und Wissenschaft) zu bieten, weshalb just diese Bereiche gestärkt werden sollten, sind wieder vergessen. Nicht nur symbolisch ist die Kultur enthauptet worden."

Jordan Mejias erlebte in New York einen temperamentvollen Orhan Pamuk, der bei einer Veranstaltung über "Literature and Citizenship" mit seinem Gesprächspartner Arthur Danto nicht über Politik sprechen wollte. "Immer wieder, immer anders macht er deutlich, wie ein Künstler nicht aus einer aristotelischen Balance heraus argumentiert, wie er vielmehr seinen Emotionen freien Lauf lässt und sich allenfalls in einer Art 'unorganisierten Paranoia' zu Kommentaren über den Staat und die Welt hinreißen lässt. Es ist keine Flucht aus der Verantwortung, es ist eine von Grund auf künstlerische Reaktion, und bei Pamuk ist es auch ein Hinweis für uns, ihn als Schriftsteller nicht zuerst wegen seiner Herkunft oder politischen Haltung ernst zu nehmen. Wenn Proust über die Liebe schreibe, sagt Pamuk, dann erkenne die Welt darin die Menschheit. Wenn er es tue, rede die Welt von türkischer Liebe. 'Es tut weh', gesteht er, 'wenn meine Bücher als Einführung in die Türkei verstanden werden.' Er sehnt sich danach, dass jemand auf eines seiner Bücher deutet und sagt: Wenn du verliebt bist, dann lies dies."

Ian Buruma erklärt noch einmal, wie der Multikulturalismus zu retten sei. "Wenn man die Attraktivität revolutionärer Gewalt aber verringern will, muss dafür gesorgt werden, dass sich die Mehrheit der europäischen Muslime als Bürger ihres jeweiligen Landes akzeptiert fühlt."

Weitere Artikel: Michael Jeismann ärgert sich über die "verstörende europäische Selbstzufriedenheit", mit der die EU das Todesurteil gegen Saddam Hussein kritisiert hat. Wolfgang Schneider war beim open mike Wettbewerb in Berlin und empfiehlt allen künftigen Teilnehmern: "Versucht es erst gar nicht mit Humor. Denn die Juroren mögen komische Texte nicht." Jürgen Kesting gratuliert den Primadonnen Joan Sutherland und Gwyneth Jones zum Geburtstag. Und Joseph Hanimann meldet, dass der Prix Goncourt wie erwartet an Jonathan Littell für seinen Roman "Les Bienveillantes" ging. Eine Überraschung war dagegen die Entscheidung, den Prix Renaudot an den im Kongo geborenen und heute in Kalifornien lebenden Autor Alain Mabanckou für "Memoires de porc-epic" (Erinnerungen eines Stachelschweins) zu vergeben.

Auf der Medienseite wirft Martin Vogel, Mitglied der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, Verwertungsgesellschaften und staatlichen Aufsichtsbehörden vor, gemeinsam Urheber zu übervorteilen. Jordan Mejias verteidigt Madonna gegen Kritiker, die sich darüber aufregen, dass der Popstar eine malawische Aidswaise adoptiert hat. Auf der letzten Seite höhnt Julia Bähr über das "Saubermädchen" Yvonne Catterfeld. Der sehr fleißige Jordan Mejias schildert anrüchige amerikanische Wahlmaschinen, Wahlgesetze und Wählerlisten, die das Ergebnis der Kongresswahlen verfälschen könnten. Andreas Rossmann meldet, dass in Hattingen das Deutsche Aphorismus-Archiv eröffnet wurde.

Besprochen werden eine Annibale-Carracci-Retrospektive in Bologna, eine CD der Long Blondes, ein Konzert der Killers in Berlin, die Aufführung von "Schöne neue Welt" im Grips Theater und eine Ausstellung von Werken der Tripps im Literaturhaus Stuttgart.

Tagesspiegel, 07.11.2006

Rüdiger Schaper und Bernhard Schulz glauben, dass Wowereit künftig einen rauen Wind über die Berliner Kultur wehen lassen wird: "Die Opernfrage ist für die Berliner Kulturpolitik von entscheidender Bedeutung. Michael Schindhelm, Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, kann sich auf einiges gefasst machen. Wowereit hatte Schindhelm bereits im Wahlkampf gerüffelt. Nun erklärt er, dass die Mittel für die Stiftung auf keinen Fall erhöht würden. Schindhelm sei gerufen worden, 'um die Opernstiftung erfolgreich zu gestalten'. Er gehe davon aus, dass Schindhelm bald sein Konzept für die Opernstiftung vorlege: 'Wenn er seinen Auftrag gut erfüllt, wird er bleiben'... Der neue Stil wird schon erkennbar, noch bevor Wowereit das Zepter führt: rau und drohend. Senator Flierl ist in den vergangenen fünf Jahren eher durch Zurückhaltung und stilles Leiden aufgefallen. Diese Zeiten sind vorbei."

Welt, 07.11.2006

Manuel Brug fürchtet Schlimmes für die Berliner Kultur, die sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit nun als Ressort selbst zugeschlagen hat: "Klaus Wowereit hat eine Meinung, ist aber nicht unbedingt ein Segen für die Kultur. Sie ist für ihn nur Mittel zum parteipolitischen Zweck. Da geht er notfalls über Leichen. Wowereit denkt strategisch, nie feingeistig."

Die Autorin Jana Hensel urteilt ungnädig über den literarischen Nachwuchs, der beim Berliner Open Mike angetreten war: "Diesmal nun präsentierte sich ein verstörend homogenes Feld, aus dem niemand hervorstach; aus dem aber auch niemand heraus fiel, was das eigentlich Erschreckende ist. Man könnte sagen, dass 20-jährige Deutsche noch nie auf einem breiten Niveau so gut schreiben konnten wie heute, aber so wenig mitzuteilen haben wie nie zuvor."

Tilman Krause ächzt über die Entscheidung, den Prix Goncourt an den Jonathan Littell zu geben, der mit seinem Nazi-Schmöker weidlich "im Trüben aller nur denkbaren Naziklischees" fische. Hanns-Georg Rodek hat sich schon Artur Brauners neue Produktion angesehen, das von Joseph Vilsmaier offenbar recht ungebrochen verfilmte Holocaust-Drama "Der letzte Zug". Josef Engels berichtet vom Berliner Jazzfest, bei dem vor allem europäische Musiker ihren großen Auftritt hatten. Dankwart Guratzsch befasst sich mit dem IBA Projekt "Stadtumbau 2010". Manuel Brug gratuliert den Diven Joan Sutherland und Gwyneth Jones zum achtzigsten beziehungsweise siebzigsten Geburtstag. Und Günther Agde war beim Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilme.

NZZ, 07.11.2006

Tanz und Theater hat Renate Klett beim Madrider Festival de Otono gesehen. Zu ihrer Qual auch eine Peer-Gynt-Inszenierung von Calixto Bieito: "Irgendwann hakt man nur noch ab - es wird also: gekokst, gekotzt, gefickt, gepisst und kräftig geprügelt. Nichts wird ausgelassen, die Liste ist komplett. Den Herrn neben mir ficht das alles nicht an: Fröhlich schnarchend, schläft er drei Stunden durch. Beim Applaus wacht er auf, ruft kräftig 'Bravo!' und geht gutgelaunt nach Hause. Beneidenswert."

Weitere Artikel: Orhan Pamuk erinnert sich in einem Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Buch an kindliche Schminkspiegelexperimente. Marc Zitzmann berichtet, dass Jonathan Littell erwartungsgemäß den Prix Goncourt erhalten hat. Marianne Zelger-Vogt gratuliert der Sopranistin Gwyneth Jones zum Siebzigsten. Jürg Huber und Thomas Schacher berichten von den Zürcher Tagen für Neue Musik.

Besprochen werden eine Eero Saarinen gewidmete Ausstellung des Finnischen Architekturmuseums und Bücher, darunter Bernhard Buebs "Lob der Disziplin" und Daniel Odijas Roman (Leseprobe hier) "Das Sägewerk" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 07.11.2006

In der Reihe "Kritik der Kritik" untersucht Klaus Walter, warum das Radio die Definitionsmacht über den Pop verloren hat. Schuld haben demnach die Erfindung des Musikfernsehens und die Zulassung des privaten Rundfunks mit ihrem Quotendruck. "Musik denken diese Leute ausschließlich als Klebstoff, der die Hörer bei der Stange hält, über Musik reden sie nur in Kategorien wie Altersklasse, Zielgruppe, Demoskopie, Demografie. Das Radio macht sich ein warenförmiges Bild des Hörers, kennt ihn nicht anders denn als Konsumenten. In dieser Kaufhauslogik ist es unvorstellbar, dass sich jemand gleichermaßen für die neue Bob Dylan und Dubstep interessiert."

Weiteres: Ines Kappert resümiert den wichtigsten deutschsprachigen Literaturwettbewerb für den Nachwuchs, den Berliner "Open Mike" und porträtiert die Gewinner der drei ersten Preise: Julia Zange, Katharina Schwanbeck und Luise Boege. Robert Misik setzt sich kritisch mit der neuen Bewegung der New Atheists auseinander, die in Amerika gegen Gott und den Fundamentalismus kämpft. Stefan Heidenreich erzählt, wie in einem Gottesdienst in Maryland der Pfarrer - verbotene - Wahlwerbung in Gleichnissen für die Republikaner macht. Christian Broecking berichtet über Julian Benedikts neuen Film über die Geschichte des Jazz in Europa "Play Your Own Thing", der auf dem JazzFest Berlin Weltpremiere hatte.

In tazzwei informiert Daniel Müller darüber, warum in Berlin-Kreuzberg eine Wahlparty für den Countrysänger und Krimiautor Kinky Friedman gefeiert wurde, der sich gerade anschickt, Gouverneur von Texas zu werden. Und die Wiener Historikerin Brigitte Hamann erklärt in einem Interview, warum sie sich Sofia Coppolas Film über Marie Antoinette keinesfalls ansehen wird und die meisten negativen Urteile über sie "reine Politpropaganda" seien.

Und hier Tom.

FR, 07.11.2006

Als "kapitalen Einschnitt" wertet Christian Thomas Klaus Wowereits Entscheidung, den Kultursenator kurzerhand abzuschaffen und das Ressort künftig als "Chefsache" selbst zu übernehmen: "Mit ihrem Entschluss, das Amt des Kultursenators, wie man ihn bisher kannte, abzuschaffen, hat die Koalition die Befürchtungen bestätigt, die sie selbst in die Welt gesetzt hat."

Unter der Überschrift "Starrsinn und Moral" verhandelt Martin Lüdke noch einmal den Fall der manipulierten Habermas-Anekdote in den Erinnerungen von Joachim Fest. Fest habe dadurch seine ganze Glaubwürdigkeit erschüttert. "Er und seine Familie hatten schließlich für diese Festigkeit ihrer - auch politischen - Moral mit ihrer Existenz eingestanden. Nur: Die Festigkeit der Haltung grenzt, vielleicht nicht zufällig, etwa im Fall von Fests Vater, im Fall von Grass und auch von Habermas, zuweilen an Starrsinn. So lässt sich womöglich behaupten: Der Starrsinn ist die marode Erscheinungsform einer ausgehöhlten Moral."

Weiteres: Florian Kessler kommentiert die Entscheidungen im Berliner Nachwuchs-Literaturwettbewerb "Open Mike". Martin Altmeyer resümiert eine Frankfurter Tagung zum 150. Geburtstag von Sigmund Freud. In Times mager freut sich Harry Nutt über eine weitere Ost-West-Angleichung: beim Mogeln. Gemeldet wird außerdem, dass Jonathan Littell für seinen Bestseller "Les Bienveillantes" erwartungsgemäß den Prix Goncourt gewonnen hat.

Besprochen werden das Marx-Projekt "Das Kapital" der Gruppe Rimini Protokoll am Düsseldorfer Schauspielhaus und das zweite Album "Ys" der amerikanischen Sängerin Joanna Newsom.

SZ, 07.11.2006

"Ein Neuanfang sieht anders aus", kommentiert Jens Bisky die Abschaffung des Kultursenators in Berlin: "Ob dem neuen Senat künftig anderes einfallen wird, als die ungelösten Probleme mit bisher gescheiterten Ideen zu beheben? In den Oppositionsparteien jedenfalls dürfte die Freude über Flierls Abgang nicht kleiner sein als die Einfallslosigkeit der neuen Koalition."

Globalisierung ist zu einer Ideologie geworden, glaubt Franziska Augstein. "Sie zielt darauf ab, das zunehmende Auseinanderklaffen der Einkommensschere zu legitimieren. Managergehälter wie in den USA, Arbeitnehmergehälter wie in Polen: So soll es sein, darauf läuft die Globalisierungsideologie hinaus... Von Chancen kann da keine Rede sein, durchaus aber von Elend. Die Globalisierungsideologie gibt indes den Arbeitslosen die Schuld daran, weil sie ihre 'Chancen' nicht nutzten. So schafft die Gesellschaft sich ein reines Gewissen."

Weiteres: Mit der Prophezeiung, das "Mannequinwunder" könne "der neue Trend im Literaturbetrieb" werden, stellt Ijoma Mangold die drei Siegerinnen des Berliner Nachwuchs-Literaturwettbewerbs "Open Mike" vor. Alexander Kissler fasst den Streit zwischen Bundestag und Regierung um den "Deutschen Ethikrat" zusammen, in dem es unter anderem darum geht, ob die Beratungen öffentlich sein sollen. Zu lesen ist ein Interview mit dem Allround-Künstler Rodney Graham, der heute in Hannover den Kurt-Schwitters-Preis erhält. Neue Rekorde erwartet Andrian Kreye für die heute beginnenden Kunst-Herbstauktionen in New York. "Mutig" und "verdient" findet Johannes Willms die Entscheidung, Jonathan Littell den Prix Goncourt zuzuerkennen. Ralf Dombrowski resümiert das 42. Jazzfest Berlin. Jens Malte Fischer gratuliert der Koloratursopranistin Joan Sutherland zum 80. Geburtstag. Und in der Kolumne Zwischenzeit staunt Wolfgang Schreiber über das japanische "Prinzip: Höflichkeit aus Prinzip".

Besprochen werden das Programm "Luziprack" des österreichischen Kabarettisten Martin Puntigam und Bücher, darunter der neue Gedichtband "Heimat" von Wolf Biermann und eine Studie über die "Philosophie der Physiker" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).