Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2006. Wirre Gangsterfarce, Avantgarde des Mainstream, große Polizistenoper, Mafia unplugged, brillante Schnellfeuer-Dialoge, ein Film mit Herz - ein paar Kritikermeinungen zu Martin Scorseses Remake von Andrew Laus brillantem dreiteiligen Hongkongthriller "Infernal Affairs", der bei der Berlinale 2003 von unseren Großkritikern zumeist übersehen wurde. Außerdem: Die FAZ schlachtet die Turner-Prize-Gewinnerin Tomma Abts, die FR lobt dagegen deren Dezenz.

NZZ, 06.12.2006

Morgen kommt Martin Scorseses Thriller "The Departed" ins Kino. Thomas Binotto winkt ab: "Mit 90 Millionen Dollar dreht man keinen 'Taxi Driver'. Das ist das Problem von 'The Departed'. Während die 'Vorlage', die 2002 entstandene Hongkong-Produktion 'Infernal Affairs' von Andrew Lau und Alan Mak, als lakonischer Genrefilm auftritt, der unprätentiös zur Sache kommt und dennoch eine raffinierte Fingerübung ist, gerinnt Scorseses Remake im Lauf von 150 Minuten immer mehr zur allzu dick aufgetragenen, wirren Gangsterfarce." (Hier unsere Berlinalekritik zum Original.)

In der Affäre um den Tod des russischen Agenten Alexander Litwinenko hat Ulrich Schmid genug von den vielen Spekulationen: "Putin war's. Der russische Geheimdienst FSB war's. Rachelüsterne alte KGBler waren's, die dem ehemaligen Spion die Fahnenflucht nicht verzeihen konnten, die Mafia war's. Und nein, Putin, die Russen, der FSB, das KGB, sie alle können's nicht gewesen sein, weil diese Tat ihr Image geschädigt hätte, weil es ja irrational wäre, den Verdacht auf sich zu lenken. Also waren es Putins Feinde, gemeine Russland-Hasser, Antikommunisten, ausgeflippte Neoliberale. Vielleicht hat er sich sogar selber vergiftet, wer weiß? Spione sind hinterhältig. Sonst noch Ideen? Wir wissen nichts, und wir werden nie etwas wissen. Die englische Polizei wird weitere Spuren und eventuell Verdächtige finden, nicht aber Schuldige... Nein, die Orgie des Spekulierens im Fall Litwinenko zeigt im Grunde nur, wer welche Bedürfnisse hat."

Besprochen werden eine "Schwanensee"-Inszenierung mit der Ballerina Polina Semionova in Zürich und Bücher, darunter Aleida Assmanns Studie "Der lange Schatten der Vergangenheit", Stefan Weidners Islam-Buch "Allah heißt Gott" und Regine Schindlers Vorlesebuch "Die Zehn Gebote" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 06.12.2006

Thomas Kielinger berichtet von der Turner-Preisverleihung, die die Malerin Tomma Abts offenbar recht ungerührt hinnahm: "Ihr Danke kam ohne sonderlichen Enthusiasmus daher, als sei das Preisgeld der 25.000 Pfund wie erwartet ihr in den Schoß gefallen. Eine nicht ganz abwegige Vermutung, war sie doch schon im Vorfeld durch vier namhafte Kritiker als todsichere Gewinnerin betitelt worden. Ein Sieg für die Malerei, für deren Renaissance? Sage niemand, dass der Turner-Preis keine Akzente mehr setze im Ringen um das Format der Moderne."

Weiteres: Als Martin Scorseses besten Film seit langem und "Avantgarde des Mainstream" preist Hanns-Georg Rodek das Gangster-Remake "The Departed". Berthold Seewald berichtet, dass die israelische Historikerin Dina Porat neue Belege dafür gefunden haben will, dass der Vatikan früher als bisher bekannt vom Holocaust wusste. Im Interview mit Holger Kreitling bezweifelt die Spieleforscherin Natascha Adamowsky den "kausalen Zusammenhang" von Computerspielen und Gewaltakten. Manuel Brug verarbeitet in der Randglosse die Berufung Nicholas Joels an die Pariser Oper. Jochen Schmidt hat sich Mauro Bigontis auf Viscontis Film "Rocco und seine Brüder" basierendes Ballett "Die Brüder" in Stuttgart angesehen.

FR, 06.12.2006

Elke Buhr erklärt den Erfolg der frischgekürten Turner-Preitsrägerin Tomma Abts mit ihren rein ästhetischen Arbeiten, die ganz ohne Botschaft auskommen: "Am Ende der langen Arbeit sind ihre Bilder vor allem dekorativ und so subtil und dezent, dass manche Sammler mit ihnen ihr Schlafzimmer lieber schmücken als mit einem protzigen Jonathan Meese. Mit einem Bild von Tomma Abts beweist man Understatement, Geschmack und Stilbewusstsein."

Daniel Kothenschulte ist doch sehr froh, dass Martin Scorsese dem in seinen Augen höchstens zweitklassigen Hongkong-Thriller "Internal Affairs" die höheren Hollywood-Weihen verliehen hat. "Er veredelt den einfachen, aber hoch dynamischen Stoff um eine Intrige unter Polizisten zu einer großen Polizistenoper."

Weiteres: In Times mager widmet sich Harry Nutt den Plänen, Wolf Biermann zum Berliner Ehrenbürger zu machen. Besprochen werden ein Konzert des Countertenors Andreas Scholl in der Alten Oper in Frankfurt und Bücher, darunter Thomas Harris neuer Hannibal-Lecter-Roman "Hannibal Rising", Ralf Dahrendorfs Band "Versuchungen der Unfreiheit" und Marita Vollborns und Vlad Georgescus Abrechnung mit den Geschäften der Lebensmittelindustrie "Die Joghurt-Lüge" (mehr in unserer Bücherschau des Tages).

Die vorweihnachtliche Literaturbeilage werten wir natürlich noch vor der Bescherung aus.




Tagesspiegel, 06.12.2006

"Ein großer Film? Eher eine altmeisterlich entspannte Rückkehr zu den Wurzeln", meint Jan Schulz-Ojala über Martin Scorseses Film "Departed". "Das Happyend nach geradezu shakespeare?schem Gemetzel: fast eine Nicholson-Fratze. Noch schmerzhafter, und deshalb stärker, fällt es in der Vorlage zu 'Departed' aus, Andrew Laus Hongkong-Hit 'Infernal Affairs' von 2002. Scorseses Film ist, auch wenn der Regisseur lax das Gegenteil behauptet, ein lupenreines Remake des Triadenthrillers, in dem Tony Leung den noch eben moralischeren und Andy Lau den skrupelloseren der beiden arg ins Anthrazitfarbene abgemischten Charaktere geben. Das Boston-Setting wirkt im übrigen, abgesehen von den Handys, die in einer denkwürdigen Szene dem atemlos stummen gegenseitigen Lauschangriff der Protagonisten dienen, ziemlich retro: Mafia unplugged in meist schmuddelig-zernutzen Interieurs."

TAZ, 06.12.2006

Judith Luig stellt die Turner-Prize-Gewinnerin Tomma Abts vor. Dietrich Kuhlbrodt eröffnet eine Artikelreihe über Zeit mit einer Reflexion über die Zeitmaschine Kino. Auf der Reportageseite beschreibt Marco Lauer seine Begegnung mit Michael May, der sein Erbe von fast zweieinhalb Millionen Euro an die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) gespendet hat. Besprochen wird Martin Suters Tragikomödie "Über den Dingen" am theater rampe stuttgart.

Und Tom.

Berliner Zeitung, 06.12.2006

Anke Westphal applaudiert Martin Scorsese für dessen eigenständige Neuauflage des Hongkong Thrillers "Infernal Affairs" unter dem Titel "The Departed". "In kaum zwanzig Minuten und einigen symbolischen Plansequenzen hat Scorsese die Welt dieser Geschichte etabliert und ihre Strukturen offen gelegt wie ein Chirurg Organe und Blutbahnen. Scorseses Organismus ist die Stadt, mit all ihren Krankheiten, und Colin ist eins der Geschwüre: Sein Luxusappartement mit Blick auf die Kuppel der prächtigsten Kathedrale Bostons finanziert er kaum mit dem Gehalt als Polizist. Billy ist das umgebende Gewebe, der Undercover-Cop, der authentisch in einem Loch haust und nicht er selbst sein darf."
Stichwörter: Boston, Hongkong, Scorsese, Martin

SZ, 06.12.2006

Hin und weg ist Tobias Kniebe von Martin Scorseses Gangsterfilm "The Departed". "Der Plot beruht auf 'Infernal Affairs', einem hochgeschätzten Hongkong-Thriller von Wai Keung Lau und Siu Fai Mak. Das Ausgangsmaterial ist dabei Segen und Fluch zugleich: Die Spannung ist nahezu eingebaut, ebenso die Parallelen zwischen Gangstern und Cops, dunklen Zwecken und geheiligten Mitteln. Die Komplexität der Sache ist jedoch nur schwer zu bändigen. Je weiter das Spiel voranschreitet, desto unwahrscheinlicher wird es auch. Scorseses Autor William Monahan treibt das sogar über das Original hinaus: Der falsche Cop und der falsche Gangster verlieben sich in dieselbe Frau - die Psychologin Mandolyn (Vera Farmiga), die sowohl Polizisten als auch Ex-Kriminelle behandelt. Das klingt nach einer Falle, aus der kein Autor mehr herauskommt - aber Monahan fegt mit der Brillanz seiner Schnellfeuer-Dialoge, seinem dunklen Witz und der Wahrhaftigkeit seiner Figurenzeichnung einfach darüber hinweg. Unter den individuellen Triumphen des Films ist dies sicher einer der herausragendsten."

Reinhard J. Brembeck plädiert für den Erhalt der drei Berliner Opernhäuser und erinnert daran, dass die Abschaffung eines Hauses "die exorbitanten Haushaltsprobleme der Stadt nicht einmal ansatzweise lösen (würde): Noch immer haftet zwar der Oper der Ruch von öffentlich subventioniertem Reichenamüsement an - was die damit verbundenen Kosten aus der Sicht eines gewöhnlichen Steuerzahlers als maßlos und illegitim erscheinen lässt. Doch selbst die Abschaffung aller deutschen Theater würde die Haushalte nicht annähernd um ein Prozent entlasten."

Weitere Artikel: Jarvis Cocker spricht im Interview über sein erstes Soloalbum und seinen Tanzstil: "Ich erinnere mich noch an die Reaktionen der Leute, als ich als Jugendlicher anfing, in Clubs zu gehen: 'Du liebe Zeit, hast du den gesehen? Hat der einen Anfall? Guck mal wie der zuckt!'" Vasco Boenisch berichtet über ein internationales Kolloquium in Amsterdam zur "Zukunft des europäischen Theaters". Stefan Koldehoff kündigt die Versteigerung von zwei beglaubigten Rembrandt-Bildern an. Fritz Göttler meldet, dass Florian Borchmeyers Film "Havanna - Die neue Kunst, Ruinen zu bauen" (hier ein Video) beim diesjährigen Filmfestival in Havanna nicht gezeigt werden darf. Lmue schreibt zum Tod des Schriftstellers Johannes Schenk.

Besprochen werden die Uraufführung von George Benjamins Oper "Into the Little Hill" im Amphitheater der Bastille-Oper, eine Ausstellung der Werke des Renaissance-Bildhauers Conrat Meit im Bayerischen Nationalmuseum in München, ein Konzert von Gidon Kremer und Martha Argerich im Gasteig und Bücher, darunter die Regensburger Vorlesung Benedikts XVI. und Linn Ullmanns Roman "Ein gesegnetes Kind" (mehr hier und in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 06.12.2006

"Wie die Musterbestände einer aufgelösten DDR-Tapetenfabrik" wirken Tomma Abts Bilder auf einen wütenden Niklas Maak. Für ihn ist das Design, aber kein Material für den Turner-Preis. "Abts' Bilder sind das, was in Bars Hintergrundmusik ist und bei Möbeln die Frage des richtigen Bezugsstoffes - wobei gegen gutes, dekoratives Design ja an sich gar nichts zu sagen wäre; es ist allemal nützlicher als schlechte Gesellschaftskritik. Aber es ist andererseits schon kurios, wie das elegante Schlingern von Abts und noch das letzte harmlose Bildchen der Neuen Deutschen Malerei, auf dem eine Person mit Hängekopf vor einer braungrünen Wiese zu sehen ist, so lange ins terminologische Drachenblut der Kulturkritik getunkt wird, bis es als 'Infragestellung gängiger Sehkonventionen' und 'subtile Analyse unserer Zeit' wiederauftaucht."

Weiteres: Mark Siemons sucht in chinesischen Medien nach deutschen Spuren und findet Autos, Fußball und Nikoläuse. Im Streit um die Baden-Württemberger Handschriften lenkt Rüdiger Solt den Blick auf die Frage, wem die Zähringer-Stiftung gehört. In einem Brief lehnt es der Tübinger Philosoph Manfred Frank entrüstet ab, für die Zeitschrift Cicero einen Auftragsartikel über das Ende der politischen Philosophie zu schreiben (Frank ist so erzürnt über Wolfram Eilenbergers Artikel in der November-Ausgabe, dass er den Namen dieses "homo ignotus" konsequent falsch schreibt). Hans-Jörg Rother berichtet vom Festival des osteuropäischen Films in Cottbus. Tilman Spreckelsen trifft den Kinderbuchillustrator Axel Scheffler auf Lesereise.

Auf der letzten Seite informiert Swantje Karich über die iranische Soap-Darstellerin Zahra Amir Ebrahimi, deren Bestrafung für ein privates Sex-Video nun zum Präzedenzfall dafür werden könnte, wie das iranische Regime mit den Bedürfnissen der liberalen Jugend umgeht. Gerhard Rohde porträtiert den Intendanten der Oper Toulouse, Nicolas Joel, der ab 2009 die Opera National in Paris übernehmen wird. Andreas Kilb lobt Wolfgang Schäuble für einen unterhaltsamen Vortrag über das Irreguläre an der Europäischen Union im Deutschen Historischen Museum in Berlin.

Besprochen werden Martin Scorceses neues Werk "The Departed - Unter Feinden" ("Um diesen Scorcese-Film müssen wir uns keine Sorgen machen", stellt Verena Lueken schon nach dem grobkörnigen Einstieg erleichtert fest), Bartlett Shers Inszenierung von Gioachino Rossinis "Barbier von Sevilla" an der New Yorker Metropolitan Opera, zwei Ausstellungen zur DDR-Wohnkultur in Eisenhüttenstadt, die österreichische Premiere von Händl Klaus' Stück "Dunkel lockende Welt" im Wiener Kasino, und Bücher, darunter Jeffrey M. Pilchers Überblick über "Nahrung und Ernährung in der Menschheitsgeschichte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).