Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.12.2006. In der Zeit bedauert Wolf Biermann unendlich, dass der General Pinochet im Bett stirbt statt am Galgen. In der NZZ erinnert die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong daran, dass der Koran religiösen Fundamentalismus verurteilt. Die taz ernennt die Kehlmannisierung des deutschen Feuilletons zum Trend des Jahres. In der SZ beschreibt Negar Azimi, wie Homosexuelle in Ägypten Opfer des Islamismus werden.

Zeit, 07.12.2006

Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet ist schwer erkrankt, einige Berichte sahen ihn schon im Sterben liegen. Liedermacher Wolf Biermann will trotzdem nicht seinen Frieden mit ihm machen: "Dieser verdorbene Greis Pinochet: Er verteidigte bis zuletzt, auch als Angeklagter vor chilenischen Gerichten, seinen Putsch vor über dreißig Jahren gegen den gewählten linksliberalen Präsidenten Salvador Allende in Santiago de Chile. Und er verklärte die jahrelangen Massaker gegen das eigene Volk mit einer tolldreisten Behauptung: Er habe mit diesem blutigen Terror letztendlich der Demokratie in Chile zum Siege verholfen.... Was soll man weiter sagen, als dass es demoralisierend, wenn solch ein uniformierter Lump friedlich und hochbetagt im Bett stirbt statt am Galgen."

Weitere Artikel: Im Aufmacher diskutiert Thomas Assheuer den Streit um den Contergan-Film "Eine einzige Tablette", der nicht gezeigt werden darf, weil er zu frei mit den historischen Details umgeht: "Wer zu viel verfremdet, treibt mit der Wahrheit Schindluder. Wer es nur halbherzig tut, landet vor Gericht." Katja Nicodemus freut sich über den Europäischen Filmpreis für Florian Henckel von Donnersmarck "Das Leben der Anderen", gibt aber zu bedenken, dass in der Auswahlkommission ziemlich viele Deutsche sitzen.

Nikolaus Bernau schlägt Alarm angesichts der drohenden Verwüstung der Berliner Museumsinsel durch die geplanten Neubauten und von David Chipperfield und Oswald Mathias Ungers. Der Architekt Karl Ganser schimpft über die Verschandelung der Republik durch die Bahn, wobei er die Bahnhöfe nicht einmal für das Schlimmste hält, sondern die Brücken, "die klobiger, hässlicher nicht sein könnten." Im Interview mit Hanno Rauterberg spricht die Künstlerin Rebecca Horn über Krankheit, Kunst und Katharsis. Michael Mönninger wägt die Chancen des neuen französischen Nachrichtenkanals France 24, die Dominanz der angelsächsischen Weltsicht zu brechen. Und vom Kunstmarkt berichtet Iris Rodriguez, dass Island auch deshalb für viele Künstler so attraktiv ist, weil es dort kaum Galerien gibt.

Besprochen werden die neuesten "Medea"-Inszenierungen an deutschen Bühnen, die Ausstellung "Into me / Out of me" in den Berliner Kunst-Werken, Martin Scorseses Gangsterfilm "The Departed", Guy Maddins Film "The Saddest Music in the World", Sufjan Stevens' "Songs for Christmas Singalong", eine Komplettaufnahme von Luciano Berio und Kate Bushs Klassiker "The Kick Inside".

Auf den vorderen Seiten erinnert Andre Glucksmann in sehr bewegten Worten an den Tod der russischen Journalistin Anna Politkowskaja. "Sie sagte mir: Es geht nicht nur um das unermessliche Leid der Tschetschenen, sondern um uns, die Russen, und um euch im Westen, die ihr im Wohlstand lebt, aber blind seid. Diese Barbarei ohne Recht und Gesetz ist ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen - Korruption, Willkür, Brutalität - Moskau, St. Petersburg und die verschlossenen Türen der elenden russischen Provinz erfasst hat."

Für das Dossier geht Wolfgang Büscher den Verwerfungen im Suhrkamp Verlag nach. Die heutige Literaturbeilage werden wir in den nächsten Tagen auswerten.

NZZ, 07.12.2006

In der Reihe "Was ist eine gute Religion?" rechnet die Religionswissenschafterin Karen Armstrong mit dem religiösen Fundamentalismus ab und erinnert daran, dass der Koran religiösen Dogmatismus verurteilt, als "eitle Gedankenspielerei mit Dingen, die weder bewiesen noch für ungültig erklärt werden können, die aber die Menschen streitsüchtig, borniert und sektiererisch machen."

Weiteres: Eva Clausen hat in Rom die spektakuläre Schau "China - Die Geburt eines Imperiums" besucht und kritisiert die theatralische Beleuchtung der Exponate, darunter die weltberühmten Terrakotta-Soldaten des ersten Kaisers der Qin-Dynastie.

Besprochen werden zwei neue Mozart-Einspielungen bei der Deutschen Grammophon und sechs Neuaufnahmen von Mozarts Oper "La clemenza di Tito", die auf CD und DVD erschienen sind. Außerdem Bücher, darunter Philippe Djians "garstig unterhaltsamer" Roman "Die Frühreifen", Martin Pichlers neuer Roman "Störgeräusch" sowie die bisher nur auf Französisch erschienene Abrechnung des israelischen Ideenhistorikers Zeev Sternhell mit der Gegenaufklärung.

TAZ, 07.12.2006

"Wie macht der Mann das nur?" fragt Alexander Camman, als er beim Blättern in deutschen Literaturzeitschriften (dieser, dieser und dieser) dauernd auf Daniel Kehlmann stößt. "Diesem neuen Großschriftsteller kann man nirgendwo entkommen. Die flächendeckende Kehlmannisierung des deutschen Feuilletons dürfte der wichtigste kulturelle Trend des Jahres 2006 gewesen sein."

Weiteres: "Egal, wie Sie Ihre Pynchon-Lektüre organisieren, Sie können gar nichts falsch machen," schreibt Tobias Rapp unter Punkt fünf in seiner Pynchon-Gebrauchsanweisung. Besprochen werden Bülent Akincis Roadmovie "Der Lebensversicherer", Guy Maddins Film "The Saddest Music in the World" ("So zart und rührend, so grotesk und grausam kann das Kino sein", seufzt Birgit Glombitza), die New Yorker Ausstellung "New York Divided" der New York Historical Society über die verdrängte Sklaverei-Geschichte der Stadt und Martin Scorseses neuer Film "Departed - Unter Feinden".

Und Tom.

FR, 07.12.2006

Einen wunderbaren Film hat Daniel Kothenschulte gesehen: Guy Maddins "The Saddest Music in the World" mit Isabella Rossellini. "Im Jahre 1933, auf dem Höhepunkt der Depression, spielt sie eine Bierfabrikantin, die durch einen Unfall und das Missgeschick eines Arztes beide Beine verloren hat. Im kanadischen Winnipeg, einem Ort, von dem uns erklärt wird, dass er viermal nacheinander zum trostlosesten der Welt gewählt wurde, veranstaltet sie einen Musikwettbewerb. Es gilt, die traurigste Musik der Welt zu finden. Die bezwingende Filmidee des japanischen Autors Kazuo Ichiguro verrät einiges über die Idee des Sponsoring: Mit den traurigsten Musikern wird die Brauerei wohl auch die ultimativen Trinker finden. Die größten Chancen hat ein Serbe, der mit seinem Lied sowohl den neun Millionen Toten des Ersten Weltkriegs wie auch seiner verschollenen Frau ein Denkmal setzen möchte. Herzzerreißend wäre das falsche Wort, hier geht es um das nackte Elend."

Weiter besprochen werden F. T. Fridrikssons Film "Niceland", David Bowers Computer-Animationsfilm "Flutsch und weg" und ein Christina-Aguilera-Konzert in der Frankfurter Festhalle.

Welt, 07.12.2006

Jetzt steht ziemlich sicher fest, dass in dem Sarkophag unter der Basilika Sao Paolo in Rom tatsächlich der Apostel liegt, verkündet Paul Badde voller Freude und plädiert für eine baldige Freilegung des Grabes. Uta Baier meldet, dass das Braunschweiger Herzog Anton Ulrich-Museum anstandslos das "Porträt eines bärtigen Mannes" als Raubkunst an die Nachfahren des Amsterdamer Kunstsammlers Jacques Goudstikker zurückgegeben hat. Michael Pilz empfiehlt die britische Band Kooks, die "tadellosen Traditionsbewahrer" aus dem Brighton Institute of Modern Music. Hans Christoph Buch schreibt zum Tod des Lyrikers Johannes Schenk. Uwe Wittstocks Bilanz des Wirkens der Suhrkamp-Verlegerin Ulla Berkewicz fällt verhalten aus.

Auf der Kinoseite schwärmt Leonardo DiCaprio von seinem Mentor Martin Scorsese. Vorgestellt werden Bülent Akincis Film "Der Lebensversicherer", der Knetanimationsfilm "Flutsch und weg" sowie Guy Maddins Revue "The Saddest Music in the World".

FAZ, 07.12.2006

Paul Ingendaay ärgert sich über die "Komplizenschaft der deutschen Diplomatie in Havanna bei einem flagranten Fall von Zensur": Das Kubanische Filminstitut hat den Dokumentarfilm "Havanna - Die neue Kunst, Ruinen zu bauen" von Florian Borchmeyer und Matthias Hentschler auf eine "Giftliste" gesetzt, beim Filmfestival von Havanna darf er nicht gezeigt werden. "Man hätte erwarten dürfen, dass die Deutschen auf den beschämenden Zensurfall mit einem offiziellen Protest reagieren, statt sich gegenüber den kubanischen Behörden klammheimlich einverstanden zu erklären. Doch das Gegenteil trat ein, und es ist aktenkundig. Die Regisseure und ihr unbequemes Produkt wurden fallengelassen."

Weitere Artikel: Ich brauche die Literatur wie ein Kranker seine Medizin, behauptet Orhan Pamuk, der heute in Stockholm seine Nobelpreisrede hält. (Kleine Zusammenfassung hier, der Text erschien Ende Oktober im Guardian, leider ist der Link nicht mehr gültig). Thomas Wagner berichtet über Pläne, den Beuys-Block zu renovieren und macht dazu - im Pluralis majestatis - einen eigenen Vorschlag. Jürgen Kaube kommentiert die Niederlage des Schachweltmeisters Wladimir Kramnik gegen den Computer Deep Fritz. Ilona Lehnart berichtet von der Rückgabe eines geraubten Tiepolo an Erben.

Die Kinoseite huldigt mit einer Fotoreihe dem großen Kino des Otto Preminger. Andreas Kilb trauert um die Aura Emmanuelle Bearts, die mit einem Werbefilm für H&M-Unterwäsche zerstört wurde. Auf der letzten Seite porträtiert Gerhard Rohde den Leiter des Konzerthauses Alte Oper Michael Hocks. Robert von Lucius resümiert die Mittelalterausstellung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806" im Kulturhistorischen Museum von Magdeburg, die am Sonntag zu Ende geht. Und Christian Schwägerl meldet, dass das Bundespatentgericht mit einer Entscheidung die Patentierbarkeit von Zellprodukten aus menschlichen Embryonen abgelehnt hat.

Besprochen werden Thomas Pynchons neuer Roman "Against the Day" (Dietmar Dath findet, dass weder Bewunderer noch Kritiker dem Roman bisher gerecht wurden), ein Konzert des Songwriterduos Lucky Jim in Köln, Bernd Schindowskis Ballett "Insomnia", Bülent Akincis Film "Der Lebensversicherer" und eine Aufführung des Stücks "Geheime Liebe im Pfirsichblütenland" in Pekings Haupstadttheater.

SZ, 07.12.2006

Negar Azimi, Redakteur des in New York erscheinenden arabischen Kunstmagazins 'Bidoun' ("Staatenlose") beschreibt, wie Ägyptens Homosexuelle zunehmend Opfer der Radikalisierung des Islam werden: "Immer mehr Politiker, Polizeibeamte, Regierungsleute und Presseorgane stellen Homosexualität als 'Problem' dar. Das Thema bietet ihnen die Chance, sich als wahre Nationalisten angesichts sich einschleichender westlicher Stimmungen zu profilieren, demonstrativ religiöse Glaubwürdigkeit zu signalisieren und die immer mächtiger werdenden Islamisten zu besänftigen. Also mehren sich Verhaftungen von Homosexuellen, Razzien und auch Fälle von Folterung. In Ägypten, in Marokko, Saudi-Arabien und in den Vereinten Arabischen Emiraten - selbst im ehedem als kosmopolitisch gerühmten Libanon - scheint die Politisierung der Homosexualität Teil einer allgemeinen moralischen Hysterie geworden zu sein." (Der Artikel ist eine Übernahme aus dem New York Times Magazine, das Original können Sie hier lesen.)

Christine Dössel sagt Yasmina Rezas Stück "Der Gott des Gemetzels", das Jürgen Gosch in Zürich als "Hochglanztheater" inszenierte, einen großen Erfolg voraus. Zwei ausgeschlagene Schneidezähne setzen bei zwei französisch-bürgerlichen Familien eine Kettenreaktion in Gang: "Wie sich das dann hochschraubt in einer Spirale aus Anfechtungen, Verteidigung und Aggression, wie die bürgerliche Fassade der Wohlerzogenheit allmählich bröckelt und die Situation aufs Peinlichste entgleist, ist ein ziemlich furioses Stück Komödienkunst: abgefeimt, böse und hochnotkomisch."

Weiteres: Henning Klüver interviewt den Mailänder Scala-Intendanten Stephane Lissner, Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler haben mit Franka Potente über ihr Regiedebüt "Der die Tollkirsche ausgräbt" gesprochen. Auf der Literaturseite liest Johan Schloemann die bisher nur auf englisch erschienene Autobiografie von Courtney Love.

Besprochen werden David Bowers Trickfilm "Flutsch und weg", Guy Maddins Melodram "The Saddest Music in the World" (das Rainer Gansera als Film "von der Traurigkeit und von der Traum-, Phantasie-, Erinnerungskraft des Kinos" bewundert), Christopher Smiths Horrorfilm "Severance", die Ausstellung "Tödliche Medizin - Rassenwahn im Nationalsozialismus" im Dresdener Hygienemuseum, Cerith Wyn Evans' Rauminstallationen im Münchner Lenbachhaus und Bücher, darunter Helmut Färbers Band über Ozus Film "Soshun" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).