Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2006. Die FAZ schildert, wie der Iran kritische Blogger zermürbt - und wie man ihnen helfen kann. In der NZZ trägt Horacio Castellanos Moya den korrupten Pinochet zu Grabe. Die FR hat genug von der deutschen Mittelstandsliteratur aus karg-melancholischen Berliner Altbauwohnungen. Die Welt pocht auf Unterschied zwischen Datsche und Schrebergarten. Und die SZ legt zum ersten Mal einen Frack an.

FR, 12.12.2006

Erzählt von den neuen Reichen, fordert Ina Hartwig die deutschen Schriftsteller auf, die nivellierte Mittelstandsgesellschaft ist passe. "Die Kahlschlagsästhetik des Nachkriegs hat offenbar stilprägend gewirkt. Eine Literatur aber, die sich in karg-melancholischen Berliner Altbauwohnungen abschottet, ist inzwischen langweilig geworden. Jetzt, wo die Reichen ante portas stehen und die soziale Ordnung sich neu formiert, müssten auch die Jüngeren unter den Schriftstellern sich des Themas allmählich einmal annehmen. (Aber bitte nicht so wie Helmut Krausser in seinem jüngsten Roman 'Eros', wo ein reicher Firmenerbe sein Leben lang einem Proletariermädchen hinterher weint, in das er sich im Bunker weiland im Kriege verguckt hatte: Sexualgeschichtsgefühlsduselei.) Geld allein ist noch nicht bedrohlich; und wenn es das wäre, so gälte es erst recht, davon zu erzählen."

Seit dreißig Jahren war Eugen d'Alberts Oper "Tiefland" von den Spielplänen verschwunden. Hans-Klaus Jungheinrich begrüßt sie in Frankfurt wie eine verlorene Tochter. "Zu den polyglotten - man könnte auch sagen: polystilistischen - Rezepturen d'Alberts gehörte die gekonnte Amalgamierung von kantabler Italianita und leitmotiv-kontrapunktbewusster Neuwagnerei. So exzelliert 'Tiefland' mit einem imponierenden Strauss von großartig inspirierten, durchaus würdevoll daherkommenden Melodien, die zugleich in einem farbenglühenden Orchesterkolorit immer wieder auch eine triftige symphonische Verarbeitung erfahren. Dem aufmerksamen Hörer bleibt auch nicht lange verborgen, dass es sich nicht um eine Alpenoper handelt, sondern um ein in den spanischen Pyrenäen beheimatetes Stück."

Ansonsten Besprechungen, von Johann Kresniks "zu üppiger " Inszenierung des "Rings des Nibelungen" in Bonn, Katharina Thalbachs "eher gequälten" Version von Humperdincks "Hänsel und Gretel" an der Dresdner Semperoper sowie einer Ausstellung von Absolventen der Kunstschule Helsinki im Art Foyer der DZ Bank.

NZZ, 12.12.2006

Der salvadorianische Schriftsteller Horacio Castellanos Moya schreibt zum Tod des chilenischen Diktators Augusto Pinochet: "Pinochet war gewiss nicht der schlimmste Diktator Lateinamerikas. Aber sein Fall ist ein Präzedenzfall, eine Etappe in der Geschichte des Kampfes gegen die Straflosigkeit der Täter auf dem Subkontinent. Andere Diktatoren wurden in Abwesenheit verurteilt, einige verbannt, einige ermordet. Doch kein anderer taugte wie Pinochet dazu, die 'Moral' der Militärdiktaturen zu entlarven. An Pinochet wird offenbar, wie das politische Verbrechen auf dem sumpfigen Grund der Straflosigkeit aufs Engste einhergeht mit Korruption. Das Image des 'strengen' Diktators mit der 'harten Hand', des Hüters von Ordnung und Ehrbarkeit ist ein Trugbild, das unter dem Ansturm einer demokratischen Gesellschaft auf der Suche nach Gerechtigkeit zerfällt."

Weiteres: Roman Hollenstein wandelt in einem Schauplatz Palermo durch die Uferquartiere der Stadt, die derzeit wieder zum Leben erweckt werden. Besprochen werden die Ausstellung holländischer Meister "Vom Adel der Malerei" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, eine Aufführung von Wagners "Meistersingern" in Genf, und Bücher, darunter Roberto Calassos Kafka-Buch "K." (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 12.12.2006

Swantje Karich schildert die Methoden des iranischen Regimes, Kritiker zu zermürben, am Beispiel von Internetseiten, die mal verboten sind, mal nicht. Man weiß nie, was gerade Sache ist. "Ein neues Programm kann nun vorerst helfen, Blockaden im Internet zu umgehen. Anders als Vorgänger-Programme wie JAP versucht das Programm Psiphon nicht, die Spur des Users zu verschleiern, sondern es setzt auf die Hilfe möglichst vieler Nutzer in liberalen Ländern, die das Programm auf ihrem Computer installieren. Dann loggen sich die Surfer aus den von Zensur oder Restriktionen betroffenen Gebieten an diesem Standort ein und nutzen ihn als Brücke, um sich frei im Internet bewegen zu können." Entwickelt wurde das Programm vom Open Society Institute der Soros Foundation und der Universität von Toronto.

In den USA ist gerade der Film "Blutige Diamanten" angelaufen. Er spielt in den neunziger Jahren, während des Bürgerkriegs in Sierra Leone. Die politische Geschichte dieses Films ist misslich für den afrikanischen Diamantenkonzern De Beers, erzählt Thomas Scheen. Dessen Händler flogen nämlich damals "in kleinen Flugzeugen regelmäßig in den angolanischen Busch, um einem der schlimmsten Blutsäufer des Kontinents, dem 'Rebellen' Jonas Savimbi, Diamanten abzukaufen, und der Herr investierte dafür in Boden-Luft-Raketen. De Beers war alles andere als ein politisch korrekter Konzern. Doch das sei Geschichte, sagt man heute bei De Beers" und fürchtet ums Weihnachtsgeschäft.

Weitere Artikel: Paul Ingendaay denkt in der Leitglosse an die verfolgten Schriftsteller und Liedermacher, die der Diktator Pinochet überlebt hat. Friedrich Schmidt berichtet, dass man bei Grabungsarbeiten auf dem Gelände der ehemaligen Parteizentrale der NSDAP in München "Druckvorlagen für Parteidokumente" gefunden hat. Michael Gassmann war in Aachen bei einer Tagung über das katholische Milieu und nimmt als Erkenntnis mit: "die Vorurteile, die man über die Kölner, insbesondere die katholischen, hegt, sie stimmen alle". Robert von Lucius informiert über neue Erkenntnisse zur Himmelsscheibe von Nebra. Andreas Rossmann meldet, dass sich die Aachener in einem Bürgerentscheid gegen das im Katschhof geplante Bauhaus Europa ausgesprochen haben.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld, dass der Journalist Lutz Lehmann weiter klagen wird, um sich von dem Ruch zu befreien, er sei ein Stasi-Informant gewesen (mehr hier). L.J. schaut auf die Entertainmentseiten angloamerikanischer Medien und stellt fest, dass dort auch Holocaust-Ausstellungen annonciert sind - in Ermangelung einer Rubrik "Kultur". Auf der letzten Seite porträtiert Joseph Hanimann den neuen Intendanten des Pariser Odeon Theaters, Olivier Py. Alexander Müller meldet, dass Becks neues Album aus den englischen Charts verbannt wurde, weil der Käufer dank beigelegten Stickern das Cover selbst gestalten kann. Und Günter Paul berichtet über neue Messungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop.

Besprochen werden eine dem Symbolisten Maurice Denis gewidmete Retrospektive im Pariser Musee d'Orsay, ein Konzert der Thermals in Frankfurt, Enrico Lübbes "herzzerreißende" Inszenierung von Schillers "Kabale und Liebe " am Neuen Theater in Halle und Eugen d'Alberts "Tiefland" in Frankfurt.

Welt, 12.12.2006

Für Peter Dittmar geht die Schau zur gegenseitigen Wahrnehmung von DDR und BRD im Bonner Haus der Geschichte zu freundlich mit ersterer um. "Die Ausstellung macht es sich zu einfach, wenn sie beispielsweise den westdeutschen Schrebergarten mit der ostdeutschen Datsche unter dem Dach kleinbürgerlicher Gemeinsamkeit gleichsetzt. Denn die Datsche war nicht nur ein Stück Natur oder ein Freizeitvergnügen. Sie war ein Reduit angesichts schlechter Wohnverhältnisse und beschränkter Reisemöglichkeiten. Und wenn zwischen den Büchern von DDR-Autoren wie Hermann Kant und Christa Wolf, die im Westen als Lizenzausgaben erschienen, Reiner Kunzes 'Wunderbare Jahre' stehen, die nur im Westen gedruckt werden konnten, wird Gemeinsamkeit vorgegaukelt, wo ideologische Repression herrschte."

Weitere Artikel: Johnny Erling hat erfahren, dass in China eine Meldung für Aufruhr sorgte, die Regierung wolle den agressiv wirkenden Drachen als Maskottchen abschaffen. Dankwart Guratzsch geißelt den Abriss von Gründerzeitbauten in Chemnitz. Rainer Haubrich folgert aus der Ablehnung des "Bauhauses Europa" (mehr) durch die Aachener Bürger, dass moderne Architektur nicht unbedingt mehrheitsfähig ist.

Besprochen werden Franco Zeffirellis "goldstrotzende, vom Publikum umjubelte" Inszenierung von Verdis "Aida" an der Mailänder Scala, Robert Lepages Ein-Mann-Produktion "The Andersen-Project" im Haus der Berliner Festspiele sowie das Best-of-Album "Stop the Clock" von Oasis.

TAZ, 12.12.2006

Tilman Baumgärtel unterhält sich auf eineinhalb Seiten mit dem Elektro-Musiker Manuel Göttsching, dessen Krautrock-Band Ash Ra Tempel vor 25 Jahren "E2-E4" herausbrachte: "Für mich wird ein musikalisches Thema erst durch Wiederholung zu Musik, und dann suche ich nach der Variation in der Wiederholung." Baumgärtel erklärt uns auch die bahnbrechende musikhistorische Bedeutung des einstündigen Stückes "E2-E4". Helmut Höge berichtet in der "Berliner Ökonomie" von dem Kongress "Solidarische Ökonomie" und Genossenschaften, die sich auch in der Mongolei immer größerer Beliebtheit erfreuen. Barbara Mürdter besucht eine Ausstellung mit Installationen des Berliner Künstlers Franz Ackermann in der Kestnergesellschaft Hannover.

Und noch Tom.

SZ, 12.12.2006

Es schwebt noch so eine gewisse Verklärung über dem Text von Thomas Steinfeld, in dem er das Nobelpreisfest in Stockholm beschreibt. Eine würdige und heitere Veranstaltung war es, und das begann schon mit dem Anlegen des Fracks: "Der Anzug wird an einer Schlaufe um den Hals aufgehängt, mit der die Hemdbrust gehalten wird. Die Hose wird an Hemd und Hemdbrust festgemacht, die Jacke ist offen und lässt viel Raum, und auch der Stehkragen mit der nur lose darum gebundenen weißen Fliege beengt weniger, als es ein moderner Kragen hinter einer Krawatte tut. Ein Frack ist eine überraschend bequeme Kleidung, und er verleiht jedem Körper eine ebenso feste, aufrechte wie elegante Form, selbst den runden und weichen Männern. Der Leib kann nicht aus diesem Ganzkörperkleid herausrutschen, er wird auf sanfte Art gehalten, und die Hemdbrust sorgt für Haltung. Die Unterschiede des Alters, der Lebensführung und der sozialen Verhältnisse verschwinden in der Kleidung. So ist der Frack tatsächlich ein Gesellschaftsanzug, in des Wortes bester Bedeutung. Und nur Orhan Pamuk bringt es fertig, darin immer noch wie ein wandelndes Fragezeichen auszusehen."

Zwei Tendenzen macht Sonja Zekri im Zusammenhang mit dem neuen Russland aus: die Subversion geht heute nicht mehr von den Literaten, sondern von den Journalisten aus. Und der Westen verbreitet die Kritik nicht mehr weiter, wie er es noch in den Siebzigern tat. "Sergej Kowaljow, der bereits unter Breschnjew im Gefängnis gesessen hatte, wurde unter Jelzin Menschenrechtsbeauftragter und als Kritiker des Tschetschenien-Krieges bekannt. Bei einem Auftritt in Berlin konnte er sich jüngst nicht entscheiden, was er heute abstoßender findet: die russische Politik im Kaukasus oder das Schweigen Europas. Je gemütlicher der Energiehandel läuft, desto eisiger wird das Klima für die Kritiker des Kremls."

Weitere Artikel: Jonathan Fischer besucht den Maler Sean Scully in seinem Atelier in SoHo (hier ein Interview mit ihm von 1999). Reinhard J. Brembeck berichtet kurz, wie der Tenor Roberto Alagna reagierte, als er nach "Celeste Aida" an der Scala ausgebuht wurde: er floh. Alexander Kissler berichtet von letzten Auftritt des koreanischen Klon-Forschers Hwang vor Gericht. Thomas Thieringer erinnert an die Gründung der Münchner Lach- und Schießgesellschaft vor 50 Jahren. Stes. meldet, dass die Internationale Stiftung Mozarteum in Salzburg (ISM) das Gesamtwerk von Wolfgang Amadeus Mozart digitalisiert und kostenfrei ins Internet gestellt hat. Stefan Ulrich berichtet, man habe in Rom den Apostel Paulus gefunden, in einem Sarkophag in der Basilika "Sankt Paul vor den Mauern". Michael Eggers war auf einer Konferenz in London über Hubert Fichte.

Besprochen werden der Film "The Nativity Story", Strauss' "Arabella" an der Wiener Staatsoper, eine frei nach den Nibelungen inszenierte Vorstellung von Johann Kresnik und Gottfried Helnwein im Theater Bonn und Bücher, darunter Robert Harris' Rom-Politthriller "Imperium" (mehr in unserer Bücherschau des Tages heute ab 14 Uhr).