Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.12.2006. Die letzten Feuilletons in diesem Jahr blicken zurück, mal wehmütig, mal gehässig, mal satirisch. Nur die SZ blickt nach vorne, einen literarischen, gesellschaftlichen oder anderen Mega-Trend vermag aber auch sie nicht auszumachen. Die Welt freut sich mit Hallgrimur Helgason, dass es nicht mehr nur einen isländischen Fernsehkanal mit Ruhetag gibt. Die NZZ begleitet Dubravka Ugresic auf ihren virtuellen Museumsspaziergängen. Und die taz kritisiert Alain Badious unkritische Haltung zu Massenmord-Regimen. Die Online-Redaktionen der Zeitungen kommentieren die Hinrichtung Saddam Husseins.

Welt, 30.12.2006

Marko Martin ist für die Literarische Welt nach Island gereist, um mit dem Schriftsteller Hallgrimur Helgason über dessen neuen Roman "Rokland" zu sprechen - und über Island. "Ist es tatsächlich so schlimm, in Island zu leben, Herr Helgason? Kurzes Kraulen des Bartes, ein spöttisch-nachdenklicher Blick: 'Inzwischen nicht mehr. Zumindest Reykjavik wird jetzt hip. Außerdem gibt es ja mehrere Fernsehprogramme und nicht mehr, wie in der Vergangenheit, nur einen Kanal, der überdies jeden Donnstag Ruhetag hatte und im Sommer wochenlang in die Ferien ging. Ich scherze nicht.'"

Maxim Biller trauert im Interview der alten Bundesrepublik nach, deren größter Vorzug ihre Bescheidenheit gewesen sei. "Früher hatte man in Deutschland wenigstens das Gefühl, die Deutschen sind ein sehr moralisches Volk im guten Sinne und sie handeln und denken eben nicht egozentrisch. Dieses Gefühl geht immer mehr verloren. Weg, alles weg, in jedem zweiten Satz, in jeder dritten Rede, in jedem vierten Hintern steckt inzwischen ein schwarzrotgoldenes Fähnchen." (Zitiert aus der Printausgabe, online fehlt der letzte Teil des Zitats.)

Weiteres: Anne Chaplet steuert eine Krimierzählung bei. Besprochen werden unter anderem Aka Morchiladzes Roman "Santa Esperanza" und Gedichte von Gellu Naum.

Im Feuilleton schildert DW die spektakulären Trauerfeier für James Brown: "Am Donnerstag nachmittag kehrte Brown aus Georgia ins Apollo Theatre zurück - in einem goldenen Sarg. Eine Pferdkutsche hatte ihn zuvor durch den New Yorker Stadtteil Harlem gefahren. Anhänger sagen dabei Browns Hymne 'Say it Loud - I'm Black and I'm Proud'." Im Interview bekennt sich Zubin Mehta, der das Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern dirigieren wird, zu seinem Wiener Blut. Matthias Heine stellt ein kleines, bisher nur auf Französisch erschienenes Büchlein von Jean-Philippe Toussaint über Zinedine Zidane vor. Karl Harb grübelt, wer wohl das gerade gefundene Mozart-Klavierstück abgeschrieben haben könnte (die Notation ist keine Originalhandschrift Mozarts). Thomas Schmid schreibt zum Achtzigsten des Philosophen Hermann Lübbe, Jochen Schmidt zum Achtzigsten von Maurice Bejart.

Besprochen werden eine neue Plattenedition mit Sinatra-Konzerten in Las Vegas und die Ausstellung "Architektur wie sie im Buche steht" in der Münchner Pinakothek der Moderne.

NZZ, 30.12.2006

Die kroatische Schriftstellerin Dubravka Ugresic erklärt in einer nur halb fiktiven Erzählung in der Beilage Literatur und Kunst, dass sie Museen nur mehr virtuell besucht. "Das Metropolitan und das Moma sind meine Lieblingsadressen. Ich spaziere durch Säle, bleibe vor den Kunstwerken stehen, verkleinere oder vergrößere sie bei Musik meiner Wahl, und was am allerschönsten ist: Es gibt kein Gedränge, keine Menschen, keinen Grund zur Panik. Hinterher kann ich zum Museumsshop gehen und eine Lampe von Isamu Noguchi oder ein Muji-Regal aus Recyclingpapier kaufen. Und im Vatikanischen Museum kann ich jetzt meinen Blick nach Herzenslust über Michelangelos Fresken an der Decke der Sixtinischen Kapelle wandern lassen. Kein Schwindelgefühl, kein Herzklopfen mehr . . . Nach dem Museumsbesuch kann ich mir eine Freude machen und eine Mütze mit der Aufschrift 'Veni, vidi, vici' (sind wir doch in Rom, oder nicht?) kaufen. Das Tate, das Pompidou, die Uffizien, den Prado, die Eremitage, das British Museum - sie alle habe ich im kleinen Finger, sie alle sind mein, nur mein."

Im Feuilleton begeistert sich Hans-Joachim Müller über die anregende Schau zu Wassily Kandinsky im Kunstmuseum Basel, "der denkbar schönste Widerspruch zu den hirnlosen Blockbustern des Jahres". Roman Bucheli war in der Ausstellung über das Exil deutscher Schriftsteller in Kalifornien im Münchner Literaturhaus. Der Autor Günter Kunert singt ein Loblied auf die Provinz, in seinem Fall Kaisborstel. Im leider nicht verlinkten Jahresrückblick werden Anna Politkowskaja und Hannah Arendt zu den Personen des Jahres gekürt.

Zu den zahlreichen Büchern, die heute besprochen werden, zählen Zoran Ferics Roman "Die Kinder von Patras" sowie vier Monografien und zwei Handbücher zu Mozart.

FR, 30.12.2006

Die Feuilleton-Redaktion blickt, kurzes Stück um kurzes Stück, zurück aufs Jahr, das war. Folgerichtig geht es um Suhrkamp und Neuen Patriotismus, einen in seiner Ehre gekränkten Theaterkritiker, einen Elfmeter-Zettel, Handke und Milosevic, Grass und die Waffen-SS, Polonium und Rückgabefragen, den Papst und einen angeblich zettelschluckenden Philosophen sowie eine vermeintlich lebensgefährliche Kopfabschlagsoperninszenierung. Schön, dass wir das jetzt hinter uns lassen können. Da ist der Kopf frei für frische Skandale und Skandälchen.

Weitere Artikel: Holger Ehling informiert uns darüber, dass die Bücher handelnde Douglas-Tochter Thalia mal wieder einkaufen war. In ihrer "Plat du jour"-Kolumne befasst sich Martina Meister heute mit einem Frankreich ohne Zigarettenrauch.

Besprochen werden eine "elektrisierende" Begegnung der Berliner Philharmoniker mit drei Choreografen, eine Holzkästchen-Ausstellung im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst und ein Konzert mit Claudia Carbo.

SZ, 30.12.2006

Heute gibt's, in Satirelaune, den Rückblick auf das Jahr 2016. Gefeiert wird der einst als Klonfälscher verschriene Hwang Wook-soo, nun mit dem Medizin- und Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Es wird noch einmal daran erinnert, wie der Suhrkamp-Verlag den Händen der einstigen Eigner Burger King und Mitsubishi entwunden werden konnte. Und auch das Internet hat sich entwickelt: "Web 2.0 nannte man das noch krude Mitmach-Internet. Doch seit ego.com (und natürlich alterego.com), voyeuriZm, dejavu, collective-eye und wie die sogenannten Total-Life-Websites noch heißen, erscheint der Menschheit eine Existenz ohne digitalen Spiegel wie ein Leben in ständiger Finsternis."

Weitere Artikel: An die Gründungsstätte der vor vierzig Jahren ins Leben gerufenen Kommune I - Uwe Johnsons Atelier - hat sich Alex Rühle begeben. Ijoma Mangold betrachtet den Koch-Boom im Fernsehen aus soziologischer Perspektive: "Man kocht immer auch gegen die Angst vor dem sozialen Abstieg." Gerhard Matzig lässt hundert Jahre Küchengeschichte Revue passieren. Von der Uraufführung eines bislang unbekannten Klavierstücks des sechs- bis zehnjährigen Mozart berichtet Helmut Mauro. Paul Nolte gratuliert dem konservativen Philosophen Hermann Lübbe, Eva-Elisabeth Fischer dem Choreografen Maurice Bejart zum 80. Geburtstag. Wolfgang Schreiber hat den Nachruf auf die Komponistin Galina Ustwolskaja verfasst.

Die Literaturseite gibt sich rätselhaft: Mehr oder minder berühmte Feuerwerke der Weltliteratur dürfen erraten werden. Kurz besprochen wird ein Hörbuch mit Geschichten von Patricia Highsmith (dazu mehr in der Bücherschau des Tages).

In der SZ am Wochenende wird eine in Indien spielende Erzählung von Anna Katharina Fröhlich mit dem Titel "Vom Wunsch, heilig zu werden" abgedruckt. Angela Köckritz hat den in der Schweiz residierenden Sex-Guru Makaja besucht (mehr hier und hier) - und sie porträtiert das französische Comic-Duo Marguerite Abouet und Clement Oubrerie.

TAZ, 30.12.2006

Einigermaßen skandalös findet Marco Stahlhut den in seinem jüngsten Buch "Das Jahrhundert" demonstrierten Umgang Alain Badious - der seiner Ansicht nach "einer der wichtigsten lebenden linken Philosophen" ist - mit den kommunistischen Massenmord-Regimen des 20. Jahrhunderts: "Über den Stalinismus schreibt Badiou, es handele sich um eine 'Singularität' mit der 'ihr eigenen Größe, auch wenn diese Größe, weil gefangen in ihrer Konzeption des Realen, eine enorme Gewalt als Kehrseite hatte'. Noch unkritischer diskutiert Badiou die chinesische Kulturrevolution, die mit bizarren Auswüchsen des Personenkults um Mao einherging. Und in der ein Klima entstand, in dem jeder jeden als Konterrevolutionär beschuldigen konnte und Lynchjustiz einer radikalisierten Jugend an der Tagesordnung war. Woher speist sich Badious Gleichgültigkeit gegenüber machtbesessenen Diktatoren? Der Philosoph entledigt sich des Problems mit dem Hinweis, dass Machtspiele auch das Wesen der parlamentarischen Politik ausmachten."

Weitere Artikel: Dirk Knipphals lässt das Literaturjahr 2006 Revue passieren, ist dabei ziemlich auf die Bestsellerkarriere Daniel Kehlmanns fixiert und stellt zuletzt fest, dass der Literaturbetrieb immer noch der Literaturbetrieb ist: Neben mancher aufgeregten Literaturpreisneuerung viel Lärm um immer dasselbe und keine große Lust auf inhaltliche Auseinandersetzungen. Dirk Hagen denkt über das Kulturhauptstadt-Dasein nach. Kirsten Küppers berichtet von seltenen Glücksmomenten bei der Pottwalsuche.

In der zweiten taz erklären taz-Redakteure und andere Menschen, was sie 2006 zu einem anderen Menschen gemacht hat. Auf die Frage nach den "weggeschmissenen Büchern" des Jahres zeigt sich der Autor Joseph von Westphalen wenig zimperlich, aber diskret: "Nur so viel: Zwei, drei Dutzend von Denis Scheck und Elke Heidenreich wärmstens empfohlene Werke der frisch publizierten Hochliteratur kommen zusammen."

Das Dossier des taz mag widmet sich dem einstmals wichtigen selbsternannten "Sturmgeschütz der Demokratie" mit dem Titel Der Spiegel. Der ziemlich ernüchterte Ex-Spiegel-Autor Tom Schimmeck macht einen Redaktionsbesuch und stellt fest: "Er wird noch immer gefürchtet. Zwar hört man rundum öfter: 'Den lese ich kaum mehr' und 'Das brauche ich nicht mehr'. Viele schütteln den Kopf ob der politischen Irrungen und Wirrungen des Blattes. Doch selbst bei Ex-Lesern schwingt oft ein Erstaunen darüber mit, dass sie sich gelöst haben von der Droge namens Spiegel." In weiteren Artikeln erinnert sich Christian Semler an den Spiegel-Skandal und fasst Hannah Pilarczyk die Mühen des Magazins mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit zusammen.

In der Rubrik "Politische Bücher" werden Armin Nassehis Studie "Der soziologische Diskurs der Moderne" und Christian Rickens' Anti-Neue-Bürgerlichkeits-Pamphlet "Die neuen Spießer" besprochen. In der Belletristik-Abteilung geht es um Shan Sas Debüt "Himmelstänzerin", Sebastian Ingenhoffs Novelle "Rubikon" und neue Jugendbücher (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 30.12.2006

Der Rückblick des FAZ-Feuilletons konzentriert sich in bester deutscher Tradition auf die Dinge, die 2006 schief gelaufen sind. Frank Schirrmacher rekurriert bei seinem Kommentar zu Günter Grass' SS-Geständnis auf seine Erfahrungen als Schmuggler. "Er sagt sich, wie wir es einst am Frankfurter Flughafen mit unseren 400 Stück Zigaretten taten: Ich habe es nicht verschweigen wollen, ich habe es nur nicht ausdrücklich deklariert." Auch Wladimir Kramnik, Günther Oettinger, Roberto Alagna, der Papst und andere bekommen ihr Fett weg. Hier alle Artikel in der Übersicht.

Weiteres: Jürgen Dollase bekennt sich zu Ferran Adrias Schaumgebilden und hofft für die Kochkunst im kommenden Jahr auf wahre Schöpfer. Rose-Maria Gropp gratuliert der Rockmusikerin Patti Smith zum sechzigsten Geburtstag. Jordan Mejias studiert Bestenlisten in britischen und amerikanischen Magazinen. Im Kunstmarkt versammelt Swantje Karich die zehn teuersten Kunstwerke, die in Deutschland versteigert wurden, angeführt von Heinrich Campendonks "Rotem Bild mit Pferden". Auf der Medienseite kommt Henrike Thomsen auf die vor hundert Jahren losgetretene Medienkampagne um den kaiserlichen Vertrauten Philipp Fürst zu Eulenburg zu sprechen.

In der Beilage Bilder und Zeiten schildern Dani Levy und Helge Schneider ihre Vorbereitung auf den Film "Mein Führer". Levy: "Ich habe ein bisschen geschrieben wie Karl May. Er hat ja auch, so wie ich, auf ganz vagen Kenntnissen beruhend seine Bücher geschreiben, ohne je an den Schauplätzen gewesen zu sein." Schneider: "'Der Untergang' habe ich gesehen. War der Einzige, der gelacht hat im Kino." Außerdem erzählt der Schriftsteller John Banville von seinem Aufenthalt in der ehemaligen Villa von Gianni Versace in Miami Beach.

Auf der Schallplatten- und Phonoseite werden die Band The Magic Numbers und ihr Album "Those The Brokes", Einspielungen des Geigers Jascha Heifetz und Neues der Rocker von "And You Will Know Us by the Trail of Dead" präsentiert. Die sonstigen Besprechungen widmen sich der Ausstellung über den portugiesischen Maler Amadeo de Souza-Cardoso im Gulbenkian-Museum in Lissabon, und Büchern, darunter Ror Wolfs "Gesammelte Fußballhörspiele" und Jörg-Uwe Albigs Roman "Land voller Liebe" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Renate Schostack das Gedicht eines Unbekannten vor:

"Lorscher Bienensegen (10. Jahrhundert)

Kirst, imbi ist huze! nu fliuc du, uihu minaz, hera
fridu frono in godes munt heim zi commone gisunt.
..."

Weitere Medien, 30.12.2006

Heute morgen wurde Saddam Hussein gehängt. Alle Zeitungen beschäftigen sich in ihren online-Auftritten mit dem Tod des irakischen Diktators. Mehr beim Spiegel, der Welt, FAZ und SZ.