Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2007. In der Welt begrüßt Leon de Winter die Hinrichtung Saddam Husseins. Auch die SZ reagiert positiv. In der taz fordert die Grünen-Politikerin Helga Trüpel eine dezidiertere europäische Kulturpolitik und mehr signandsight.com. In der FAZ schildert  Amir Hassan Cheheltan die lähmende Wirkung der Zensur im Iran. Außerdem war das Borchardt zu. Und der Songwriter Lee Hazlewood verabschiedet sich mit der Zeile: "Death or birth / peace on earth / what's it worth? / - nothing".

TAZ, 02.01.2007

Helga Trüpel, Grünen-Abgeordnete im Europa-Parlament, fordert auf der Meinungsseite eine dezidiertere europäische Kulturpolitik, um nach dem "Nein" in Frankreich und den Niederlanden eine europäische Öffentlichkeit zu befördern: "Warum ermöglichen wir nicht allen EU-Studierenden ein Erasmus-Stipendium? Warum haben wir nicht mehr Ressourcen für Städtepartnerschaften, wo wirklich europäische Kontakte und europäische Identität von unten wachsen? Warum präsentieren wir die europäische kulturelle Vielfalt nicht gemeinsam der Welt? Die Europäische Union muss Geld für die richtigen Zukunftsinvestitionen ausgeben, wenn man Europa aus der Krise führen will." Die Politikerin schlägt zu diesem Zweck fünf Schlüsselprojekte vor - eines davon ist signandsight.com, der englischsprachige Dienst des Perlentauchers!

Marius Babias skizziert das komplexe Selbstverständnis des neuen EU-Mitglieds Rumänien. "Das zutiefst byzantinisch geprägte Rumänien hat sich seit 1989 zwei Identitäten zurechtgelegt, die sich in der Theorie zwar gegenseitig ausschließen, im Alltagsleben und in der Politik aber prächtig vertragen: einerseits eine vormoderne Identität als christlich-orthodoxes Kulturvolk und andererseits eine postkommunistische Identität als aufgeklärte Europäer. Nationalismus und Europäismus bilden so den identitären Kern des rumänischen Way of Life: In inneren Angelegenheiten ist man stramm antieuropäisch-national-orthodox, aber sobald es um die EU-Integration geht, gibt man sich radikal proeuropäisch-liberal-säkular. Dabei wird die kommunistische Vergangenheit konsequent ausgeblendet und eine selbstkritische Aufarbeitung der Geschichte strikt vermieden."

Weiteres: Robert Misik unterhält sich mit dem amerikanischen Linken und Historiker Howard Zinn über dessen "Geschichte des amerikanischen Volkes", die nun komplett auf Deutsch erschienen ist. Viele Jazzmusiker hat das Internet unabhängiger gemacht, schreibt Christian Broecking, mehr Alben verkaufen die Musiker nun trotzdem nicht. Kirsten Reinhardt spricht in der zweiten taz mit Elke Kuhlen, die mit dem Jungsheft ein Sexmagazin für junge Frauen herausgebracht hat, mit Feminismus aber nichts zu tun haben will.

Besprochen wird eine Ausstellung mit fotografischen Werken der österreichischen Künstlerin Birgit Jürgenssen in der Wiener Galerie Hubert Winter.

Und Tom.

FR, 02.01.2007

In einer Times mager erklärt Mark Obert die Opfer Saddam Husseins zu den einzigen berechtigten Konsumenten des Hinrichtungsvideos. "Saddams Hinrichtung ist ein Tyrannenmord zweiter Klasse, die Ansicht des Videos in diesem Sinne nicht per se ein würdeloser Akt. Es gibt Gründe für Saddams Opfer, genau hinzusehen. Der Unbeteiligte aber kann diese Gründe für sich nicht reklamieren. Er bleibt ein Voyeur mit nichts im Sinn als privaten Grusel."

Der Psychoanalytiker Jürgen Hardt hält den Einzug der Sprache der Wirtschaft in die Gesundheitsversorgung für unangebracht. "Der selbstbewusste Kunde, ehemals Patient, schlendert lässig über den Gesundheitsmarkt und prüft die verschiedenen Angebote sorgfältig, bevor er sich für eine Leistung entscheidet. Leistungserbringer, ehemals Ärzte oder Therapeuten, werben mit ihren Angeboten um Kunden und stellen sich verschärftem Wettbewerb untereinander. Patienten und Therapeuten, Leiden und Behandlung, sind aus dem Blick geraten; Leiden würde das freie Spiel ökonomischer Kräfte stören. Problematisch an dieser Vision ist, dass sich das Leiden nicht aus dem Leben entfernen lässt, weil es unvermeidlich dazugehört und alle Menschen früher oder später auf helfende Begleitung (Therapie) angewiesen sind."

Weiteres: Im Januar will die französiche Raumfahrtbehörde CNES ihr Archiv mit rund 3000 Ufo-Sichtungen im Internet zugänglich machen, meldet Karl-Heinz Karwisch auf der Medienseite. Besprochen werden eine Ausstellung mit erotischen Zeichungen des Philosophen und Schriftstellers Pierre Klossowski im Kölner Museum Ludwig sowie eine Schau über "Piktogramme - Die Einsamkeit der Zeichen" im Kunstmuseum Stuttgart.

Und im Politkteil beklagt die rumäniendeutsche Schriftstellerin Herta Müller, dass die EU nicht mehr Druck auf Rumänien ausgeübt hat, seine diktatorische Vergangenheit aufzuarbeiten: "Rumänien hat von sich aus so gut wie nichts getan: in der Aufarbeitung der Diktatur. Man tut in Rumänien so, als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte, das ganze Land leidet am Gedächtnisschwund... Achtzig Prozent der orthodoxen Popen waren direkt vom Geheimdienst bezahlt, also Securisten in der Kutte. Bei den Journalisten, Ärzten, Professoren, Juristen wird es kaum anders gewesen sein. Aber das weiß man nicht, und soll es auch nicht wissen können. Der Grund dafür ist einfach: der Sturz Ceausescus, seine Verurteilung in einem Schnellprozess, seine Erschießung an einer dreckigen Kasernenwand hatte die Securitate damals selber gesteuert. Offiziell wurde dieser Geheimdienst nach der so genannten Revolution aufgelöst, sein Personal wurde jedoch heimlich weiter bezahlt. Ohne Unterbrechung kam ein Teil der Securisten vom alten in die neu gegründeten Geheimdienste. Und der schlauere Teil fädelte sich mit seinem Erpressungskapital in die Marktwirtschaft ein."

Welt, 02.01.2007

Leon de Winter macht in einem Gastkommentar keinen Hehl daraus, dass er heilfroh ist über die Hinrichtung Saddam Husseins. "Wir verdanken diesen großartigen Moment der Geschichte einem verachteten Cowboy namens George Bush. Wir verdanken diesen Moment auch rückgratlosen europäischen Politikern wie Joschka Fischer, der Saddam letztlich in dessen Glauben bestärkte, er könne seine Tyrannei noch Jahrzehnte weitertreiben und seinen paranoiden Söhnen übermachen - weil einige westliche Staaten, zusammen mit Russland und China, die USA an der Invasion des Irak hindern würden. Das derzeitige Chaos im Irak ist nicht nur dem desaströsen Einfluss der Politik auf die Kriegsführung geschuldet, sondern in erster Linie den internationalen Spielchen mutloser Politiker."

Im Feuilleton freut sich Ulrich Baron, dass die EU mit dem Beitritt Rumäniens einen weiteren prominenten Mitbürger bekommen hat: Graf Dracula. Hendrik Werner berichtet von einem Bündnis deutschsprachiger Schriftsteller zur Rettung von Wortraritäten wie Flegel, Bandsalat oder Duttengretel: Auf einer Internetseite wirde eine Liste vom Aussterben bedrohter Wörter präsentiert, Leser werden aufgefordert, weitere Vorschläge zu machen. Peter Schütt erinnert daran, dass es Khomenei war, der Saddam zuerst einen "Wiedergänger Hitlers" genannt hatte. Jochen Schmidt gratuliert dem russischen Choreografen Yuri Grigorowitsch zum Achtzigsten.

Besprochen werden eine "Fischli & Weiss"-Retrospektive in der Londoner Tate Modern und DVDs, darunter eine Aki-Kaurismäki-Collection und eine Edition mit zwei Filmen, die verboten worden waren, weil sie für die Abschaffung des Paragrafen 175 plädierten: "Anders als die anderen", 1919 gedreht von Richard Oswald in Zusammenarbeit mit Magnus Hirschfeld, und "Anders als du und ich", gedreht 1957 von Veit Harlan.

FAZ, 02.01.2007

Der Teheraner Autor Amir Hassan Cheheltan erzählt die Geschichte der literarischen Zensur im Iran, die auf einem ihrer Höhepunkte angekommen zu sein scheint: "Unabhängige Verleger müssen mit Stapeln von Büchern, die auf die Druckerlaubnis warten, eine der lähmendsten Phasen ihres Metiers erdulden. Die Überprüfung mancher Werke dauert Monate, wobei nicht auszuschließen ist, dass ihre Veröffentlichung mit einem negativen Bescheid der zuständigen Behörde quittiert wird. Wie schon in der Vergangenheit gelten die meisten Vorbehalte der Erzählprosa."

Es war Neujahr, und Niklas Maak musste zu seinem Entsetzen feststellen, dass das Borchardt in der Französischen Straße, Berlin, das "Gehäuse der Berliner Republik", am 1. Januar geschlossen bleibt. Silvester wurde aber noch gefeiert: "Drinnen türmt sich eine Ruinenlandschaft aus Champagnerflaschen und umgekippten Aschenbechern, am Boden liegen wild verstreut die verschreckten Dinge: Gabeln, Tischdecken, Teller, zu Papierfliegern mutierte Speisekarten, auf deren Tragflächen 'Wachtel Imperial' steht, als sei das der Name eines Bombers."

Weitere Artikel: Wolfgang Sandner freut sich, dass Mozarts Musik das Mozart-Gedenkjahr 2006 unbeschadet überstanden hat, was auch für ihren Rang spreche. Jakob Hessing schreibt zum Tod des israelischen Literaturwissenschaftlers Gershon Shaked. Joseph Hanimann untersucht in einem "lexikalischen Grenzgang" die subtilen Unterschiede zwischen den Begriffen "Höflichkeit" im Deutschen und "politesse" im Französischen. Matthias Grünzig besucht einen vom Büro Architekten-Contor Magdeburg verantworteten Neubau des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung in Magdeburg. Irmela Spelsberg verfolgte eine Tagung des Weltdenkmalrates Icomos in Hildesheim.

Auf der Medienseite berichtet Oliver Jungen, dass die Verbraucherzentralen ihr "Projekt Spamkampagne" gegen die Überflutung unserer Mailkonten mit unaufgeforderten Werbemails aus schierer Ohnmacht einstellen. Erik Eggers berichtet über den wachsenden Einfluss amerikanischer Fernsehsender auf Austragungszeiten in den Olympischen Spielen, die möglichst mit der amerikanischen Primetime koinzidieren sollen. Kerstin Holm meldet, dass der russische UKW-Dienst der BBC in Moskau seit der Ermordung Alexander Litwinenkos wegen "technischer Probleme" nicht mehr senden kann.

Besprochen werden Grzegorz Jarzynas Neuinterpretation des "Medea"-Stoffs im Burgtheater-Kasino, die Abschieds-CD des krebskranken Songwriters Lee Hazlewood mit der denkwürdigen Liedzeile "Death or birth / peace on earth / what's it worth? / - nothing", eine Ausstellung italienischer Renaissance-Skulpturen aus dem Pariser Musee Jacquemart-Andre in Altenburg und die Wanderausstellung "gute aussichten" mit einem Überblick über die aktuelle deutsche Fotografie, zur Zeit in Köln.

Auf der Seite "Ereignisse und Gestalten" im politischen Teil erinnert sich Peter Wapnewski in salbungsvoller Prosa an das Jahr 1957.

NZZ, 02.01.2007

"Der Berchtoldstag (Bechtelstag, Bechtle, Bechtelistag, Berchtelistag, Bächtelistag, Bärzelistag) ist ein Feiertag in Gegenden mit alemannischer Bevölkerung", behauptet Wikipedia, und darum erscheint heute auch die NZZ nicht.
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SZ, 02.01.2007

Offen zugeben will Burkhard Müller nicht, dass er die Todesstrafe für Saddam Hussein okay findet, doch hat er für jeden Verständnis, der so empfindet: "Sehr viele Menschen scheinen die Todesstrafe für Saddam Hussein zu billigen. Und kann man ihre Haltung nicht nachvollziehen? Wenn überhaupt die Möglichkeit existiert, sein Leben durch seine Taten zu verwirken, dann hat der irakische Diktator sie bis zum Bodensatz ausgeschöpft wie keine andere Person der jüngeren Zeitgeschichte." Letztlich, meint Müller, wurzelt alle Strafe in der Vergeltung.

Auch Willi Winkler hat nichts gegen die Hinrichtung an sich einzuwenden - er findet sie nur überflüssig. "Die nachweihnachtliche Hinrichtung Saddams mag ein Akt der Gerechtigkeit sein, diese Gerechtigkeit nützt bloß niemandem mehr. Im Triumph hatten die Bewohner Bagdads, angeleitet von den Invasionstruppen, am 9. April 2003 eine der Saddamschen Monumentalstatuen gestürzt, im Triumph wurde der verwahrloste alte Mann im Dezember des gleichen Jahres aus dem Erdloch geholt, in dem er sich verkrochen hatte, aber dieses Triumphgefühl ist heute fast vollständig verflogen. Zu lang dehnt sich der Krieg, der nicht so heißen darf, und vom Gewinnen spricht nicht einmal mehr der US-Verteidigungsminister."

Dass Hitler, Mussolini und Franco Nichtraucher waren, kommt der Tabakindustrie heute noch zugute, ärgert sich der Wissenschaftshistoriker Robert N. Proctor. "Die größten Finsterlinge der Geschichte waren militante Nichtraucher, also müssen die Kritiker des Rauchens Nationalsozialisten sein und Raucher Antifaschisten. Die Tabakindustrie hat diese Karte immer wieder ausgespielt. In Amerika gibt es sogar Wörter wie 'Nico- Nazis' und 'Tabak-Faschismus'.

Weitere Artikel: Andrian Kreye porträtiert den Pfingstkirchenprediger Al Sharpton, der von James Brown zum politischen Sprecher der Afroamerikaner gemacht wurde. Reinhard J. Brembeck analysiert den Startton des neuen Windows-Betriebssystems Vista. Ralf Hertel besichtigt "Taipei 101" in Taiwan, den seit zwei Jahren (mit Einschränkungen) höchsten Büroturm der Welt.

Besprochen werden der Tierfilm "Der weiße Planet", das um eine "ausbalancierte Mitte" gruppierte Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter Zubin Mehta, eine Ausstellung über den Maler Helmut Schober im Tiroler Landesmuseum Innsbruck, die Kaurismäki-Kollektion von Pandora und E. A. Duponts "Piccadilly" auf DVD, und Bücher, darunter Jules-Amedee Barbeys d'Aurevilly Polemik "Gegen Goethe" und Hans Ulrich Gumbrechts Gedanken zu "Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).