Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2007. Spiegel Online fühlt sich durch die Berliner Biermann-Posse an beste Politbüro-Zeiten erinnert. Im Tagesspiegel spricht Ilija Trojanow über Kräfte der Fanatisierung, die das Kopftuch ablehnen. Die NZZ kann Dani Levys Film "Mein Führer" durchaus Erkenntnisse abgewinnen. Die FR sinniert aus Anlass von Muhammed Alis 65. Geburtstag über Boxen und HipHop. Die SZ staunt auf der Kölner Möbelmesse über Möbel, die versuchen, gesund auszusehen und andere Gründe, unsere Zimmer zu verlassen.

Spiegel Online, 17.01.2007

Reinhard Mohr kommentiert den glücklichen Ausgang der Berliner Dramen um Wolf Biermann: "Nichts, was derzeit auf den Theaterbühnen Berlins gespielt wird, schon gar nicht Christoph Schlingensiefs Talkshow-Performance 'Die Piloten', kam an diese Realsatire heran, an eine historische Groteske, die an beste Politbüro-Zeiten erinnerte. Es wurde gelogen und geheuchelt, dass sich die roten Balken bogen. Die Farce um Wolf Biermanns Ehrenbürgerschaft war so peinlich und geschichtslos, dass man am liebsten die Mauer wieder hochziehen würde. 'Und merkt nicht, dass eure Vernunft aus den Hirnen der Zwerge / Aus den Schwänzen der Ratten / Aus den Ritzen der Kriechtiere entliehen ist', schrieb Biermann einst und meinte seine alten Genossen in der DDR. Viele von ihnen, so wissen wir längst, sind immer noch da und beschimpfen den Rechtsstaat, den sie frechfeige bis zur letzten Instanz nutzen, um ihre Stasirenten einzuklagen."

Berliner Zeitung, 17.01.2007

Jan Thomsen ist nach den Wirren um Biermann noch ganz mitgenommen von den Niedrigkeiten der Berliner Politik: "Der Stil der CDU, dem sich Grüne und FDP billig anschlossen, war übel, aber erfolgreich."
Stichwörter: FDP

FR, 17.01.2007

Muhammad Ali wird 65, und die FR widmet ihm gleich zwei Texte. Im Feuilleton untersucht Claus Lochbihler den Zusammenhang zwischen HipHop und Boxen und erklärt, warum Ali der erste Rapper war. "Gleichwertig ist das Verhältnis Boxen zu HipHop dennoch nicht, denn im Grunde hat HipHop - als Boxkampf mit Worten, als Ausweg aus dem Ghetto, als frauenfeindliches Männlichkeitsghetto, als eine der wenigen Chancen für Schwarze, ein weißes Massenpublikum zu erreichen - das reale Boxen abgelöst. Darum sind beide sich auch so ähnlich - strukturell, soziodemografisch, ideologisch. Sogar die Abgründe sind gemeinsame." Auf den Hintergrundseiten ist außerdem eine Hommage von Christoph Albrecht-Heider an den Boxer zu lesen.

Weiteres: Daniel Bartetzko erläutert am zum Haus am Dom umgebauten ehemaligen Hauptzollamt von 1927 das "irrationale" Verhältnis der Frankfurter zu ihrer Altstadt. Und in Times mager räsoniert Hans-Jürgen Linke über unnütz gewordene Mars-Sonden und wiedergefundene Euroschecks.

Besprochen werden Clint Eastwoods Film "Flags of our Fathers", der "dem Denkmalfilm neue Formen" eröffne und Bücher, darunter zwei Studien über junge Muslime in Deutschland mit den Titeln "Zwischen Pop und Dschihad" und "Zwischen Ramadan und Reeperbahn" sowie ein Buch über den Strafvollzug im NS-Staat (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 17.01.2007

Ines Kappert kommentiert das Kasperletheater in der bayrischen CSU und stellt fest: "Die so blutselige wie feudalistische Rhetorik im Parteistreit markiert nichts anderes als Ersatzhandlungen, die sich als nötig erweisen, wo Aktionen gegen die Führungsspitze nicht opportun oder verfassungsmäßig abgesichert sind. Ihr Vorteil: Sie inszenieren eine Lebendigkeit, eine Beweglichkeit, ein Parteileben sozusagen, wo doch nur trübe Parteiroutine regiert. Die Herren also machen sich keiner Entgleisung schuldig, sondern leisten brav PR-Arbeit."

Weiteres: Alexander Cammann resümiert eine Podiumsdiskussion im Deutschen Historischen Museum in Berlin zum Thema Öffnung der Stasiakten. Besprochen werden Clint Eastwoods Film "Flags of Our Fathers" (den Tom Holert für eine "erstaunliche Untersuchung über öffentliche Bilderproduktion, die Sinnlosigkeit moderner Kriege, die Notwendigkeit der historischen Erinnerung, die Moral der Propaganda und die damals noch junge Celebrity-Ökonomie" hält) und eine Werkschau des Fotografen Timm Rautert im Museum der bildenden Künste Leipzig.

Auf der Meinungsseite poltert Noam Chomsky im Interview mit Peter Kripgans gegen die Außen- und Kriegspolitik der Regierung Bush.

Und hier Tom.

NZZ, 17.01.2007

Auch Alexandra Stäheli schwärmt nicht von Dani Levys Film "Mein Führer", und doch hat sie aus den Schauspielunterrichtszenen des Films einiges mitgenommen - nämlich dass es dem Film hier gelinge, "genau jene Problematik explizit zu verhandeln (und ironisch zu kommentieren), die bei Erscheinen von Oliver Hirschbiegels 'Der Untergang' vor zwei Jahren für Diskussionen gesorgt hatte: die Frage nämlich, ob sich ein Schauspieler überhaupt in so etwas Unergründliches wie die Psyche eines Monsters einfühlen kann, darf, soll - um sie dann den Zuschauern über den Kino-Effekt empathischer Identifikation letztlich verstehbar zu machen."

Besprochen werden außerdem Calixto Bieitos Inszenierung von Janaceks "Jenufa" in Stuttgart und Michael Stauffers Lyrikband "Normal".

Tagesspiegel, 17.01.2007

Im Interview mit Andreas Schäfer spricht "Weltensammler" Ilija Trojanow über das tiefere Wesen von Multikulturalismus: "Was wir als Tradition bezeichnen, ist eine vergessene Hybridisierung. Wir vergessen auch oft, dass die Leute, die uns kanonisch erscheinen, nicht aus dem Zentrum kamen, sondern von den Randgebieten. Kafka, Celan, Canetti. Doch in bestimmen Momenten wird das Selbstverständliche zum Problem, weil eine bestimmte politische oder religiöse Ideologie das zuspitzt. Es gibt Kräfte der Fanatisierung, die diese Vielheit angreifen, weil sie ihre Kontrolle gefährdet. Wenn jemand heute hysterisch reagiert, weil eine Frau ein Kopftuch trägt, muss man fragen: Was bedroht das Kopftuch eigentlich? Inwieweit ist die Reaktion der Provokation angemessen?"

SZ, 17.01.2007

Gerhard Matzig besuchte die Kölner Möbelmesse und fand Erstaunliches, etwa Möbel, die sich "Mühe geben, gesund auszusehen" und Matratzen, die sich die Schlafposition des Schläfers merken können. Sein Resümee: "Pascal hatte schon recht: Das Unglück der Welt rührt daher, dass wir nicht still in unseren Zimmern bleiben. Einige Gründe, warum wir dort nicht bleiben, sind derzeit in Köln zu besichtigen."

Weiteres: Holger Liebs berichtet über den internationalen Expansionsdrang der Museen, dem neben dem Louvre auch das Centre Pompidou anheimfällt, das Dependancen in Metz und Shanghai plant, und mit dem Guggenheim für einen neuen, von Norman Foster entworfenen Kulturdistrikt in Hong Kong kooperiert: "An der Politik des Pompidou ist jedoch nichts Ehrenrühriges, wie dieselben Kritiker argwöhnen, die auch dem Louvre Ausverkauf und Kommerzialisierung vorwerfen. Von seinen 58 000 Stücken im Depot stellt das Centre, in halbjährlichem Wechsel, gerade mal 0,5 Prozent aus.

Susan Vahabzadeh kommentiert die Verleihung des Hauptpreises bei den Golden Globes an den Film "Babel" des Mexikaners Alejandro Gonzalez Inarritu. Dirk Peitz reist durchs "Nirgendwo der Popmusik". Stefan Koldehoff fragt sich, was nach dem Tod von Rudolf August Oetker nun mit seiner Kunstsammlung geschehen wird. Karl Forster gratuliert Eartha Kitt zum 80. Geburtstag.

Die Schallplattenseite ist heute Dietrich Buxtehude gewidmet. Reinhard J. Brembeck protokolliert die Meinung des Dirigenten Ton Koopmann über den "Revolutionär und Geschäftsmann". Hermann Unterstöger beschreibt das Vergnügen, Kantaten von Buxtehude zu singen. Helmut Mauro stellt Einspielungen vor, die den "Stylus Phantasticus" des Komponisten belegen. Vorgestellt werden außerdem der Vokalzyklus "Membra Jesu Nostri" und das Oratorium "Wachet!"

Besprochen werden Clint Eastwoods als "grimmig" apostrophierter Kriegsfilm "Flags of our Fathers" und Bücher, darunter eine Betrachtung über "Die Frau von 50 Jahren" der Journalistin Petra Gerster und Hjalmar Söderbergs Roman "Verirrungen" (siehe dazu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 17.01.2007

Michael Pilz schwärmt von der neuen Platte der Berliner Band Contriva, die klingt wie der Prenzlauer Berg vor dem Mauerfall: "Wenn Berlin-Brandenburg eine Art Countrystil besäße, seine eigene Überlandmusik, sie müsste wie Contriva klingen. Analoger Folk, der auf die Club- und Rockmusik zurückschaut und dabei zur Stille und zum Stillstand neigt. Preußischer Soul, spartanisch, spröde, skizzenhaft. Wer so eine Musik herstellt, erinnert an vergessene Lebenstechniken. Genügsamkeit, Distanz und Schweigen."

Weiteres: Auf der Kölner Modemesse hat Christiane Hoffmann einen neuen Trend ausgemacht: die geordnete Lebensführung: "Es scheint, als begleiteten die Designer den Wirtschaftsaufschwung mit Möbeln, die Müßiggang geradezu verbieten: Kantig, fest und klar definiert sind sie jetzt." Berthold Seewald erkennt in Edmund Stoiber einen Wiedergänger des Grafen Montgelas, der ebenfalls Bayern reformierte und darüber stürzte. Uwe Schmitt fragt sich angesichts zahlreicher müder Altherrenwitze, was die Vergabe der Golden Globes eigentlich zu einem bedeutendes Ereignis gemacht hat. Johanna Schmeller hat einen verwirrenden Abend mit Christoph Schlingensief verbracht. Hendrik Werner hält nicht viel von dem Plan, die Straßen der deutschen Monopoly-Ausgabe umzubenennen. Lothar Schmidt-Mühlisch schreibt zum Tod der Schauspielerin Gisela Uhlen. Und Ulrich Weinzierl hat sich einen "Rigoletto" in Graz angesehen.

FAZ, 17.01.2007

Heute beginnt in Braunschweig der Prozess gegen VW-Manager Peter Hartz. Jürgen Kaube ruft laut nach einem Karl Marx oder Balzac, der einen Romanzyklus über die Affäre schreibt. Als Titel schlägt er vor "Im Paradies der Nutten" oder "Glanz und Elend des Geschlechtsverkehrs auf Firmenkosten". In der Glosse macht uns Jordan Mejias mit Einzelheiten aus "If I Did It", O. J. Simpsons "fiktivem" Bericht über den Mord an seiner Frau bekannt. Dieter Bartetzko schreibt zum Achtzigsten der Sängerin Eartha Kitt. Andreas Kilb schreibt zum Tod der Schauspielerin Gisela Uhlen. Gina Thomas schreibt zum Tod des Unternehmers und Kunstmäzens Rudolf August Oetker und zum Tod des holländischen Galeristen Robert Noortman. Gemeldet wird, dass Martin Scorsese den Golden Globe als bester Regisseur für "Departed" erhalten hat. Alle Preise hier.

Auf der Medienseite informiert uns eine Meldung, dass der Chefredakteur der marokkanischen Wochenzeitung Nichane und eine Autorin zu "drei Jahren Gefängnis mit Bewährung und zu einer Geldstrafe von mehr als siebentausend Euro" verurteilt wurden, weil sie in einem Artikel Witze über den Islam gerissen hatten. Außerdem ist die Wochenzeitung für zwei Monate verboten worden. Auf der letzten Seite schickt Jürg Altwegg ein steinerweichendes, kurzes Porträt von Andre Gorz, geboren 1924, Sozialtheoretiker und Journalist, der gerade seine Frau Dorine - "Du wirst 82, du bist um sechs Zentimeter geschrumpft, du wiegst nur noch 45 Kilo, und du bist immer noch schön und begehrenswert." - in einem Buch verewigt hat. Regina Mönch war in Berlin bei "einer Podiumsdiskussion über die Staatssicherheit, ihre Opfer und die Sieger der Geschichte", die von den Medien kaum beachtet wurde, obwohl der Saal wegen Überfüllung geschlossen werden musste. Und Klaus Ungerer frönt seiner Fußballbegeisterung beim Spiel der Ehrenfelder Erdferkel, Hannover Hangovers oder des FC Killerschnecken auf der Website managerzone.com.

Besprochen werden Clint Eastwoods Film "Flags of Our Fathers", Gore Vidals bisher nur auf Englisch erschienene Erinnerungen "Point to Point Navigation", Calixto Bieitos Inszenierung von Janaceks "Jenufa" in Stuttgart ("Wieder ist es Bieito gelungen, sein Ensemble zu selbstentäußernder Intensität zu bringen", schreibt Gerhard R. Koch) und ein Gastspiel der Merce Cunningham Dance Company in Leverkusen und Heilbronn.