Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2007. Die Debatten um die Begnadigung von RAF-Terroristen gehen weiter. Die Welt plädiert dafür, die taz fühlt sich in Horst Köhler ein. In der FR hält Gert Loschütz seine Vorwürfe gegen Volker Braun aufrecht. Die SZ analysiert die chinesisch-afrikanischen Beziehungen. Die NZZ bewältigt die südkoreanische Vergangenheit.

TAZ, 31.01.2007

Auf den Tagesthemenseiten erinnert sich Bettina Gaus an die Begegnung ihres Vaters, des Publizisten Günter Gaus mit dem Terroristen Christian Klar, den er 2001 besucht und zu einem Gnadengesuch ermutigt hatte; außerdem diskutiert sie in ihrem Artikel die Bedeutung des Gnadenrechts und die Zweischneidigkeit einer öffentlichen Debatte darüber. "Die beiden Menschen, die das Gnadengesuch unmittelbar betrifft und direkt angeht, melden sich nicht zu Wort. Sie können es nicht, sie dürfen es nicht. Horst Köhler und Christian Klar werden in diesen Tagen auf seltsame Weise zu Leidensgenossen: Sie sind gleichermaßen zum Schweigen verurteilt."

Auf den Kulturseiten liest sich Alexander Cammann durch aktuelle Ausgaben der Zeitschriften Theater heute, Berliner Debatte Initial und Fotogeschichte. Irene Grüter stimmt mit einem Resümee der Pressekonferenz auf die nächste Woche beginnende Berlinale und die angekündigte "Schtarpower" ein. In tazzwei ist ein Interview mit der Schauspielerin Hannah Herzsprung zu lesen, die an der Seite von Monica Bleibtreu in dem Film "Vier Minuten" debütiert.

Ulf Erdmann Ziegler widersteht dem Enigma der Arbeiten des französischen Malers Odilon Redon, die in einer Retrospektive in der Frankfurter Schirn gezeigt werden, und resümiert: Redon bleibt eine "Fußnote des Symbolismus". Besprochen wird außerdem eine Ausstellung über die Dreyfus-Affäre im Jüdischen Museum Frankfurt.

Und hier Tom.

Welt, 31.01.2007

Einen sensationellen Film hat Hanns-Georg Rodek gesehen: Chris Kraus' Drama "Vier Minuten", das über ein Jahr von den Verleihern geschmäht wurde, nun aber doch noch in die deutschen Kinos kommt: "Was auf den ersten Blick so deutsch-autorenfilm-unchic aussieht, erweist sich als ein atemberaubendes Tauziehen zweier nahezu tödlich verletzter Seelen, wie wir es lange nicht gesehen haben."

Eckhard Fuhr plädiert in der Randspalte dafür, den RAF-Terroristen Christian Klar zu begnadigen: "Nach einem Vierteljahrhundert sollte der Gedanke Platz greifen, dass der öffentliche Strafanspruch Grenzen hat, weil auch Gerichtsurteile Menschenwerk sind. Über die ewige Verdammnis haben wir nicht zu entscheiden."

Weiteres: Johnny Erling erklärt, warum Edouard Cointreau seinen "Gourmand World Cookbook Award" in diesem Jahr in Peking verleihen wird. Berthold Seewald berichtet, dass Neros Palast in Rom wieder zugänglich ist. Michael Pilz begrüßt Badly Drawn Boy zur Deutschland-Tournee. Thomas Medicus beschreibt in seiner Kolumne "Pommern Chips" den einbrechenden Winter in seinem Dorf. Volker Tarnow gratuliert dem Maximalminimalisten Philip Glass zum Siebzigsten. Benedikt Graf Hoensbroech spricht im Interview mit Hildegard Strausberg über die Pläne für ein jüdisches Museum in Köln. Uta Baier meldet Streit um die Kunstsammlung des verstorbenen Dr. Oetker. Manuel Brug hat Stefan Herheims "neobarocke" Inszenierung des "Don Giovanni" in Essen genossen. Und auf der Medienseite weist Daniel Friedrich Sturm darauf hin, dass der RBB heute noch einmal Günter Gaus' Interview mit Christian Klar von 2001 ausstrahlt.

FR, 31.01.2007

Im Zusammenhang des Disputs um ein Gedicht von Volker Braun, den der Schriftsteller Gert Loschütz entfacht hatte (hier seine Vorwürfe in der FR vom 25.1., hier Brauns knappe Antwort vom 27.1. darauf), dokumentiert die FR heute dessen Verlauf, das fragliche Gedicht "Die Mauer" und bringt außerdem eine Replik Loschütz' auf Braun. Darin verschärft Loschütz noch einmal seine Lesart des Gedichts und interpretiert Brauns Aussage "Natürlich war ich ein Provokateur" so: "Wie es sich damit verhält, lässt sich an dem verhandelten Gedicht aufzeigen. Erst stürmt der Autor voran: 'Das ist Dreck aus Beton, schafft/Das ? weg' und lässt dann die Rückwärtsrolle folgen: ? wenn sie nicht mehr/ Abhaun'. Ach so! Mit der abschließenden Kondition wird der auftrumpfende Imperativ des Satzanfangs zur regierungskonformen Maulhurerei."

Martina Meister fasst einen Beitrag des französischen Philosophen Andre Glucksmann in der gestrigen Le Monde zusammen (hier unser Resümee, hier das Original), in dem der ehemalige Maoist erklärt, warum er im französischen Präsidentschaftswahlkampf den konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy unterstützt. Er nenne "etliche Gründe: Weil er an die 'offizielle Linke', die sich für 'moralisch überlegen und geistig unangreifbar' hält, nicht mehr glaubt. Weil diese 'berufsmäßige Linke', wie er sie nennt, seit Vichy auf ihren 'Lorbeeren eingeschlafen' ist. Weil sie kein Bad Godesberg hatte. Weil sie sich weder um die samtenen Revolutionen im Osten noch um Bewegungen wie die englische 'New Labour' geschert hat. Weil sie, so könnte man seine Bedenken zusammenfassen, so selbstgerecht ist, dass sie sich nicht erneuert, nicht mehr engagiert und den Kampf der Ideen aufgegeben hat."

Weitere Themen: Reinhard Lüke stimmt auf die Wiederkunft von Harald Schmidt ein und hofft schwer, dass dieser in der Winterpause seine Lustlosigkeit überwunden haben möge. Und in Times mager amüsiert sich Ina Hartwig über die "Hexenkomödie & Nibelungentragödie", mit der die Titanic das Suhrkampdrama satirisch verwurstet.

Besprochen werden die Ausstellung "Kunst und Propaganda im Streit der Nationen 1939 bis 1945" im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die Uraufführung von Jacques Lenots Musiktheater "J'etais dans ma maison et j'attendais que la pluie vienne" in Genf und Bücher, darunter die Studie "Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen" von Gunnar Heinsohn und ein Band zum Thema "Vertreibung der Vertriebenen?" des Historikers Manfred Kittel (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 31.01.2007

Die Chinesen engagieren sich wirtschaftlich sehr stark in Afrika. Gestern begann eine Tour des chinesischen Präsident Hu Jintao durch acht afrikanische Staaten. Der senegalesische Autor Adama Gaye, der gerade ein Buch über den chinesischen Einfluss in Afrika geschrieben hat, "Le dragon at l'autruche", befürchtet im Interview eine Rekolonisierung Afrikas durch China: "Die politische Klasse Afrikas empfängt die Chinesen mit offenen Armen. Denn anders als die Kredite westlicher Geberländer, sind die chinesischen Finanzspritzen und Investitionen nicht an politische Konditionen wie beispielsweise Demokratie, Transparenz und die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft. Für Politiker wie Robert Mugabe in Simbabwe oder Regimes wie im Sudan kommt das sehr gelegen. Es festigt deren Strukturen und unterdrückt gleichzeitig unbequeme Kritik an der jeweiligen Menschenrechtspolitik, um die es in China selbst ja auch nicht allzu gut bestellt ist. Das gilt übrigens nicht nur für die Politiker Afrikas. Auch die Menschen auf der Straße haben sich in Afrika vom demokratischen Modell verabschiedet und sehen im Aufstieg Chinas eine Alternative zum demokratischen Westen, weil sie hoffen, ein ähnliches Wirtschaftswunder zu erleben, wie derzeit China."

"Literatur ist Schwachstromkunst, Film lebt im Starkstrom": Gustav Seibt wehrt sich gegen die zunehmende Verbildlichung von Literatur und Geisteswissenschaften zu Reklamezwecken: "Literatur, Philosophie, Geschichte, so lautet die gar nicht geheime Botschaft, der omnipräsente Werbetext in der Wissensgesellschaft, sind ganz nah am Leben, blutvoll geradezu, existentiell aufregend, überhaupt nicht weltfremd. Man schaue sich nur Elke Heidenreich an: Überschäumende Begeisterung! Höchste Erregung! Das kann Literatur! Ja, das kann sie, aber auf dem Umweg der Vereinzelung, des Rückzugs und des Herunterfahrens der Sinneseindrücke. Und das können auch die Geisteswissenschaften: Uns aufregen, amüsieren, zum Nachdenken, Grübeln, Zweifeln bringen, uns auf Zusammenhänge bringen und vor allem Neues in unserem Kopf entstehen lassen. Aber auch sie tun es vorwiegend im Schwachstrommedium der Sprache, oft in der Einsamkeit der Lektüre, ebenso oft im Gespräch oder in freier Rede."

Weiteres: Zum 30-jährigen Bestehen schreibt Johannes Willms über das Pariser Centre Pompidou alias "Unsere liebe Frau von den Röhren". Stefan Koldehoff berichtet über Jackson Pollock-Fälschungen, die nach einer gerade veröffentlichten Expertise posthum entstanden sein müssen. Christoph Bartmann gratuliert dem Komponisten Philip Glass zum 70. Geburtstag. Till Briegleb kommentiert den Wechsel von Wilfried Schulz vom Schauspiel Hannover ans Dresdner Theater. Alexander Kissler resümiert eine Verschärfung des Streits um die Embryonenforschung. Präsentiert wird außerdem eine Liste mit Zechennamen, in denen der Bergbau als "Teil einer poetischen Landschaft" fortbestehen wird ("Fröhliche Morgensonne", "Rosenblumendelle").

Auf der Schallplattenseite schreibt Karl Lippegaus über Jazz in Frankreich. Jonathan Fischer schwärmt von der Sängerin, Songwriterin und "wunderbaren Nervensäge" Georgia Anne Muldrow. David Grubbs stellt die Veröffentlichung "Twelve Tone Tales" des Pianisten und Komponisten Alexander von Schlippenbach vor. Kurzhinweise und -empfehlungen widmen sich CDs von Carel Kraayenhof, Blacken the Black, Frode Haltli, des Cherkezi Orchestra und des Exploding Star Orchestra.

Besprochen werden außerdem die Musicalverfilmung "Dream Girls" und Bücher, darunter Stanley Cavells Erstling "Der Anspruch der Vernunft" und der Roman "Drei Tage bei meiner Mutter" von Francois Weyergans. (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

NZZ, 31.01.2007

Nach 32 Jahren hat ein südkoreanisches Gericht den Mut aufgebracht, einen Justizmord anzuerkennen, der die Hinrichtung von acht jungen Männern zur Folge hatte, berichtet Hoo Nam Seelmann in einem Schauplatz Südkorea. Seelmann schildert den damaligen Fall und schließt: "Korea hat unter Einsatz vieler, die dafür ihr Leben lassen mussten, die Demokratie erkämpft. Die jetzige Regierung gründete 2002 einen Ausschuss, der jene Fälle von möglichem staatlichem Unrecht untersucht. Bald zeigte sich die ganze Dimension des 'In-Hyuk-Dang-Falls'. Ermutigt dadurch beantragten Angehörige die Wiederaufnahme des Prozesses. Die Aufhebung der acht Todesurteile gegen unschuldige Menschen zeigt, wie sehr sich selbst die einst eng mit der Macht verquickte koreanische Justiz gewandelt hat. Dieses Ereignis wird nicht nur das verlorene Vertrauen in das Rechtssystem stärken, sondern auch der Debatte über die Abschaffung der Todesstrafe Schwung verleihen. Ein falsches Urteil kann man aufheben, aber ein verlorenes Leben ist verloren für immer."

Weiteres: Samuel Herzog schreibt zum dreißigsten Geburtstag des Pariser Centre Georges-Pompidou. Besprochen werden die Uraufführung einer Oper von Jacques Lenot im Grand Theatre Genf, ein Konzert von Trevor Pinnocks European Brandenburg Ensemble in Zürich und Bücher, darunter ein in Spanien erschienener Katalog über spanische Architektur, Hjalmar Söderbergs Romandebüt aus dem Jahr 1895, "Verirrungen" und Ekkehard Eickhoffs Buch über die Republik Venedig (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 31.01.2007

Mark Siemons beschreibt im Aufmacher, wie die Chinesen trotz unsicherer Handlungspielräume und Rechtslage ihre Ziele verwirklichen: "Man probiert etwas, stößt auf Widerstand, probiert etwas anderes, ohne selbst das Erreichte für allzu sicher zu halten. 'Den Fluss überqueren, indem man nach Steinen tastet', hatte Deng Xiaoping das genannt."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko mokiert sich in der Leitglosse über den Weltbankpräsidenten Paul Wolfowitz, der neulich beim Besuch einer Moschee in der Türkei seine Schuhe ausziehen musste, wobei löchrige Socken zum Vorschein kamen. Christian Schwägerl verfolgte eine Diskussion im Potsdamer Einstein-Forum über den sich auch in Europa verbreitenden Kreationismus. Wolfgang Sandner gratuliert Philip Glass zum Siebzigsten. Dieter Bartetzko beklagt, dass die Potsdamer nur eine ungenaue Kopie ihres Stadtschlosses wiederaufbauen wollen. Oliver Jungen gratuliert dem Historiker Johannes Kunisch zum Siebzigsten.

Bisher nur online wird gemeldet, dass Orhan Pamuk einen Deutschlandbesuch absagt.

Auf der Medienseite erzählt Mark Siemons die Geschichte der chinesischen Schauspielerin Zhang Yu, die heimlich dokumentierte, wie sie mit Regisseuren und Produzenten schlief, um an Rollen zu kommen und diese Videos ins Netz stellte - und statt empörter nur zynische Reaktionen erntete. Auf der letzten Seite berichtet Andreas Platthaus vom Comicfestival in Angoulême. Andreas Obst porträtiert die Popsängerin An Pierle. Und Jordan Mejias meldet, dass es sich bei angeblichen Pollock-Gemälden, die vor vier Jahren aufgefunden wurden, um Fälschungen handelt.

Besprochen werden Bartoks "Herzog Blaubarts Burg" und Janaceks "Tagebuch eines Verschollenen" in einer Inszenierung der katalanischen Theatergruppe La fura dels Baus in Paris, eine Odilon-Redon-Ausstellung in Frankfurt, ein Auftritt der Fratellis in Nimwegen und Chris Kraus' Film "Vier Minuten".