Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.02.2007. Streit kann auch utopische Qualitäten haben, stellt die NZZ anhand der Multikulturalismus-Debatte in Perlentaucher und signandsight.com fest. Und der Zoologe Josef H. Reichholf behauptet: Vor 120.000 Jahren badeten auch schon Nilpferde im Rhein. Fossilien belegen dies. Im Kölner Stadtanzeiger konstatiert Heinrich August Winkler: "Es gibt keine europäischen, sondern nur westliche Werte." Die SZ findet bei Andreas Gursky Tiefenschärfe bis zum Abwinken. Der FAZ schwant nichts Gutes.

NZZ, 16.02.2007

Auf der Medienseite resümiert Heribert Seifert den Multikulturalismus-Streit auf perlentaucher.de (hier) und signandsight.com (hier) und benennt auch eine geradezu utopische Qualität der Auseinandersetzung: "Zur kanonischen Idee der Aufklärung gehört die Vorstellung einer universellen Öffentlichkeit, an der alle Vernunftbegabten jederzeit und an jedem Ort Zugang haben sollten. Die Internet-Kulturplattform Perlentaucher zeigt, dass diese utopische Idee heute grundsätzlich realisierbar ist."

Der Münchner Zoologe Josef H. Reichholf will zwar nicht bezweifeln, dass sich das Klima erwärmt, aber er weist daraufhin, dass das nicht der erste drastische Klimawandel in der Geschichte der Menschheit ist, und er findet die Aussagen der Klimawissenschaft ungenügend: "Wenn, wie die Klimaforscher aus den Messdaten schließen, der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre tatsächlich seit über einer Million Jahre nie so hoch gewesen sein soll wie in unserer Zeit, dann kann das Kohlendioxid auch nicht der allein entscheidende Faktor für die Klimaerwärmung sein. Es lebten nämlich in der letzten Warmzeit vor rund 120.000 Jahren tropische Nilpferde in Rhein und Themse. Die Fossilien belegen dies."

Weitere Artikel: Derek Weber macht uns mit Gerüchten um die Neubesetzung der Wiener Staatsopern-Direktion bekannt. Andrea Köhler zeichnet einen Streit um das islamkritische (oder -feindliche?) Buch "While Europe Slept - How Radical Islam Is Destroying the West from Within" (Auszug) von Bruce Bawer nach, das für den National Book Critics Circle Award nominiert ist aber bereits für die Distanzierung einiger Juroren sorgte (hier die Besprechung des Buchs in der New York Times). Joachim Güntner macht sich Hoffnungen, dass das Fritz-Bauer-Institut nach einigen Streitigkeiten mit dem neuen Direktor Raphael Gross zur Ruhe kommt.

Für die Filmseite erkundete Martin Girod auf dem Forum der Berlinale ein "reiches und anregendes Feld inhaltlicher und formaler Erneuerungsversuche". Besprochen werden Gianni Amelios neuer Film "La stella che non c'e" und Peter Webbers Film "Hannibal Rising".

FAZ, 16.02.2007

Wen das ganze Gerede über Religion schon fast zum Atheismus bekehrt hat, der lese das Interview mit Christian Stückl, Leiter der Oberammergauer Festspiele. Da schwant einem wieder, warum man doch nie aus der Kirche ausgetreten ist. "Für mich waren Religion und Theater immer fast untrennbar miteinander verbunden. Ein Einmarsch von sechzig Benediktinermönchen in den Gottesdienst, das war für mich ein theatrales Erlebnis. Wie ich dann nach München kam, war meine erste Inszenierung als Regiehospitant bei Dieter Dorn der 'Faust', und mir war klar: Der kann sich dieser ganzen Ebene des Himmels nur mit Ironie nähern."

Vor sechzig Jahren erschien Thomas Manns "Doktor Faustus", und jetzt hat das 21. Jahrhundert gerade erst angefangen, und Frank Schirrmacher geht's auch nicht so besonders: "Es beginnt mit den Vorhersagen. Alle düsteren (und helleren) Prognosen über die Veränderung unserer Welt, also die Berechnungen des Klimawandels, der Demographie, der Energiewirtschaft, des 'Clash of Civilisations' und anderer Krisenszenarien, spielen grundsätzlich in den Jahren 2015 bis 2050, und sie alle erreichen ihre Peripetie irgendwann nach 2030. Wer weiß, was sich ziemlich exakt zwischen 1915 und 1950 im zwanzigsten Jahrhundert ereignet hat, wird solche Ankündigungen nicht ganz abgebrüht zur Kenntnis nehmen, jedenfalls alarmierter als unsere verschollenen Mitbürger des eiskalten Februars 1907."

Weitere Artikel: In der Leitglosse kritisiert "Ri" Äußerungen Georg Baselitz' zur Restitution von Ernst-Ludwig Kirchners "Berliner Straßenszene". Rainer Hermann berichtet, dass sich in der Türkei inzwischen 13.953 Anrufer gegen die Ausstrahlung des zweiten Teils von "Tal der Wölfe" ausgesprochen haben, in dem der Held diesmal gegen die Kurden zu Felde zieht. Jürgen Kaube stellt die Zeitschrift für Ideengeschichte vor. Patrick Bahners saß in der letzten Vorlesung von Heinrich August Winkler. Thomas Wagner schreibt zum Tod des Fluxus-Künstlers und Poeten Emmett Williams. Die Juristen Rainer Hüttemann und Peter Rawert machen einen Vorschlag, wie man das Erbrecht zugunsten eines größeren Spielraums für gemeinnützige Zuwendungen reformieren kann. Swka. gratuliert dem Künstler Franz West zum Sechzigsten. Wolfgang Sandner stellt das Programm des Klavier-Festivals Ruhr vor. Andreas Eckert gratuliert dem Historiker David Brion Davis zum Achtzigsten.

Auf der Berlinaleseite geht's um Wettbewerbsfilme mit Jennifer Lopez und Marianne Faithfull. An beiden lässt Verena Lueken kein gutes Haar. Zu Marianne Faithfull als "wichsende Witwe" Irina Palm schreibt sie: "Keinem anderen Schauspieler bisher haben wir derart lange beim Denken zugeschaut, ohne je zu erfahren, was denn Gegenstand dieser Nachdenklichkeit sei. Denn was aussieht wie Denken, ist, das darf man sagen bei einer Darstellerin, die bereits als Gewinnerin eines Schauspielbären hoch gehandelt wird, das schiere Unvermögen..."

Besprochen werden weiter Zack Snyders Comicfilm "300", "Schindlers Häuser" von Heinz Emigholz im Forum und Rodolphe Marconis "Lagerfeld Confidential". Leonie Wild erinnert uns daran, dass der Filmpreis "Teddy Award" für "schwule, lesbische und transidente Filmemacher" seit 1987 vergeben wird. Und malt. verirrt sich auf diversen Berlinale-Partys.

Auf der Medienseite berichtet Karen Krüger über Ungereimtheiten in einem Beitrag des NDR-Medienmagazins "Zapp", der nachzuweisen versuchte, dass die Sängerin Senait Mehari entgegen ihrem Buch keine Kindersoldatin gewesen sei. Paul Ingendaay verfolgte den ersten Tag des spanischen Terrorprozesses vorm Fernseher. Siegfried Thielbeer berichtet über Methoden der norwegischen Yellow Press bei der Ausspionierung der Königsfamilie.

Auf der letzten Seite schreibt Regina Mönch über die Gründung eines "Zentralrates der Ex-Muslima" von Frauen, die bekennen, ihrer Ursprungsreligion abgeschworen zu haben und die sich von keinen Islam-Vereinen repräsentiert sehen wollen. Und Wolfgang Sandner stellt das Orchestra dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom vor.

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk William Hogarths in London, die Schau "Op Art" in der Frankfurter Schirn, die Ausstellung "Die Liebe zum Licht - Fotografie im 20. und 21. Jahrhundert" im Kunstmuseum Bochum, Reinhard Keisers Oper "Fredegunda" an der Bayerischen Theaterakademie München, ein Konzert von Ornette Coleman in Essen und Bücher, darunter Herbert Heftners Studie "Von den Gracchen bis Sulla" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Kölner Stadtanzeiger, 16.02.2007

"Es gibt keine europäischen, sondern nur westliche Werte", stellt der Historiker Heinrich August Winkler in seiner gestern gehaltenen Abschiedsvorlesung klar, die der Kölner Stadtanzeiger dankenswerter Weise veröffentlicht: "Europa hat noch nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Das gilt für Europa im geographischen Sinn, das vielzitierte 'Europa vom Atlantik bis zum Ural'. Wenn wir von der Europäischen Union als einer Wertegemeinschaft sprechen, meinen wir, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, eine Staatengemeinschaft, die sich zu den westlichen Werten bekennt. Den Unterschied zwischen Europa und dem Westen hat niemand so prägnant zum Ausdruck gebracht wie der Wiener Historiker Gerald Stourzh: 'Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber Europa geht auch über den Westen hinaus.' Zum Westen als Wertegemeinschaft gehören ihrem Selbstverständnis nach die großen angelsächsisch geprägten Demokratien Nordamerikas, also die Vereinigten Staaten und Kanada, sodann Australien und Neuseeland sowie, seit seiner Gründung im Jahre 1948, Israel. Große Teile Europas hingegen hatten keinen Anteil an der Herausbildung und Aneignung der Werte und Institutionen, die wir als typisch 'westlich' verstehen."

SZ, 16.02.2007

Tiefenschärfe bis zum Abwinken findet Gottfried Knapp in Andreas Gurskys riesenformatigen Fotografien, für die im Münchner Haus der Kunst eigens die Lampen abgehängt wurden. "Gursky befreit sich also von den Zwängen der Zentralperspektive, aber auch von den Mängeln der atmosphärischen Perspektive, die in der Ferne alles undeutlich werden lässt. Auf seiner subtil komponierten Luftansicht des bis zum Horizont sich erstreckenden Viehmarkts von Greeley kann man die Kühe selbst in den entferntesten Koppeln noch zählen. Man könnte Gurskys Hochformate mit ihrer Multiperspektive und ihrem unerhörten Tiefensog als Reißschwenks mit der Kamera von der senkrechten bis zur waagrechten Position empfinden. Jedenfalls erschließen die nahtlos zusammengeschraubten Nah- und Ferndetails Ausdrucksdimensionen, von denen die Fotografie vorher nur träumen konnte."

Weiteres: Sowohl der Archäologe Michael Müller-Karpe als auch der Kunsthändler Hans-Christoph von Mosch beschweren sich im Gespräch mit Sonja Zekri beide über die Unesco-Konvention zum Kulturgüterschutz, die der Bundestag heute nach 37 Jahren ratifizieren wird. "Je strenger, je komplizierter ein Gesetz ist, desto schwieriger ist es für uns." Gustav Seibt war bei der Abschiedsvorlesung des Historikers Heinrich August Winkler in der Humboldt-Universität Berlin. Von einem neuen Kalten Krieg mit Russland will Franziska Augstein schon rein begriffstechnisch nichts wissen. Siggi Weidemann weiß von Streitigkeiten um die schon restitutierte Sammlung des jüdischen Kunsthändlers Jacques Goudstikker. Henning Klüver berichtet von dem Aufruhr, den der israelische Historiker Ariel Toaff mit seinem Buch "Pasque di sangue" losgetreten hat, in dem er behauptet, für das Matzenbrot askenasischer Juden sei im Mittelalter teilweise Blut benutzt worden, in Italien für Aufruhr sorgt.

Besprochen werden Christina Paulhofers "reiche" Inszenierung von Tennessee Williams "Endstation Sehnsucht" am Basler Schauspiel, ein Konzert der jungen Pianisten Martin Stadtfeld und Jewgenij Kissin in München, Berlinalefilme wie Zack Snyders "300", Jacques Rivettes "Die Herzogin von Langeais", Philip Scheffners "The Halfmoon Files" und Hal Hartleys "Fay Grim". Und Bücher, darunter Raoul Schrotts Reiseberichte " Die fünfte Welt" sowie Jörg-Uwe Albigs Roman "Land voller Liebe" über den Untergang der BRD 1989 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 16.02.2007

Als "komplex und elegant" preist Marcus Woeller William Kentridges Hommage an den Stummfilmpionier Georges Melies im Hamburger Bahnhof in Berlin. "Während einer Ameisenplage in seinem Wohnort Johannesburg machte er die Insekten zu Komplizen einer ecriture automatique. Nicht nur dass sie in ihrem massenhaften Auftreten wie schwarze Farbspritzer wirken, wenn sie dicht gedrängt auf einem Sirupfleck sitzen. Die Ameisen verwandeln sich dank ihres militärischen Gehorsams selbst in lebendige Linien. Tagelang hat Kentridge ihre Spuren mit Video abgefilmt. Er hat ihnen mit Zuckerwasser die Marschrichtung diktiert und sie über einen Parcours aus Marmeladenresten wuseln lassen. Im Kontrast des Umkehrfilms aufgenommen und digital verfremdet werden sie zu einer flirrenden Abstraktion sich bewegender Bildpunkte und verformender Linien."

Außerdem verfasst Wolfgang Müller einen Nachruf auf Emmett Williams, der die Fluxus-Bewegung mitbegründete. In der zweiten taz stellt David Denk den Schauspieler Maximilian Brückner vor, der von den Filmvermarktern auf der Berlinale zm deutschen Shooting Star 2007 gekürt wurde. Patrick Steller hält die BritAwards für zu kommerziell. Und eine Besprechung widmet sich Yoko Onos neuem Album "Yes, I'm a Witch".

Schließlich Tom.

FR, 16.02.2007

Harry Nutt resümiert Heinrich August Winklers "fulminanten" Abschiedsvortrag an der Humboldt-Universität Berlin (beim Kölner Stadtanzeiger ist sie hier nachzulesen). "Es gibt keine europäischen Werte, sondern nur westliche, lautete seine erste These, die er, unter einen großen geschichtlichen Bogen gespannt, ausführte. Der Westen gehe weit über Europa hinaus, so habe beispielsweise Ostmitteleuropa, das erst jetzt wieder durch die Osterweiterung der EU zu Europa zurückkehrt, geistesgeschichtlich stets zum alten Westen gehört. Westen, das ist in dieser Diktion mehr als Himmelsrichtung. Winklers Westen ist eine über viele Jahrhunderte entstandene politische Kultur mit offenem Ausgang."

Von der Berlinale meldet sich Michael Kohler mit Besprechungen von Filmen von Steve Buscemi, Hal Hartley, Julie Delpy und Pascale Ferran. In einer Times mager solidarisiert sich Ina Hartwig mit der deutschen Jugend. Besprochen wird zudem ein Jazzkonzert mit dem Saxophonisten Ornette Coleman und dem Pianisten Joachim Kühn in Essen.

Welt, 16.02.2007

Klaus Honnef besucht die Retrospektive des Monumentalfotografen Andreas Gursky im Münchner Haus der Kunst. In der Randspalte glossiert Uwe Schmitt die Angewohnheit der in den USA auffällig gewordener Promis, sich zur Läuterung "ab in die Rehab" zu begeben. Eckhard Fuhr war bei Heinrich August Winklers Abschiedsvorlesung an der Humboldt-Universität. Hendrik Werner sichtet mit wohligem Grusel die einschlägige Kannibalen-Literatur. Uwe Schmitt berichtet von neu entdeckten Briefen Anne Franks an Behörden, Freunde und Verwandte.

Auf der Berlinaleseite beschreibt Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfiltage in Oberhausen, wie er die Berlinale erlebt. Elmar Krekeler möchte den Zustand der Welt unbedingt verbessert sehen, damit ihm künftig Problemfilme mit Jennifer Lopez erspart bleiben. Josef Engels hat sich auf dem Talent Campus umgetan. In der Kolumne mit dem schönen Titel "Außer Atem" meldet Holger Kreitling, dass Variety Wim Wender gerade zum "Teuton uber-auteur" gekrönt hat (nach Goethe, Nietzsche und Heinz Erhardt).