Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.02.2007. Auch die FR meldet sich in der Multikulturalismus-Debatte des Perlentauchers zu Wort und druckt den jüngsten Beitrag von Lars Gustaffson. Andrzej Stasiuk beobachtet in der Welt, wie Deutschland psychologisch neutralisiert wird. In der SZ verbittet sich der Autor Henning Ahrens jegliches Rumgezicke schlecht bezahlter Übersetzer. Mehr Lichtblicke wünscht sich die taz bei der nächsten Berlinale. Die NZZ gedenkt der avantgardistischen Oberiuten in der Sowjetunion.

FR, 17.02.2007

Auch die FR nimmt die im Perlentaucher geführte Debatte zur Multikulturalität und den Grenzen der Toleranz auf. Arno Widmann kommentiert. "Wir werden es uns nicht leisten können - das erklärt den Zorn dieser Diskussion - noch einmal so lange zu brauchen, bis auch alle die, die aus dem Maghreb, aus Anatolien, aus Somalia, aus Pakistan zu uns kommen, begriffen haben, dass sie hier nicht die Scharia und den Mercedes haben können, den Sozialstaat und die Blutrache." Abgedruckt wird außerdem der jüngste Diskussionsbeitrag von Lars Gustafsson. "In Fragen der Vernunft und der Freiheit haben Gesellschaften genauso wie Individuen eine klare Antwort zu geben. Sie müssen sich entscheiden. Es gibt hier keinen Mittelweg. Das gilt für die Bürger eines Landes genauso wie für die Zugezogenen."

Von der Berlinale berichtet Daniel Kothenschulte über die Wettbewerbsbeiträge von Christian Petzold, Jacques Rivette und David Mackenzie. Auf der Medienseite rügt Rainer Braun die Berlinale-Berichterstattung im Fernsehen: Vor lauter Klatsch und Tratsch kaum noch Kino.Zu lesen ist außerdem die autobiografische Erzählung "Fleigender Sonnenschein besiegt den Großen Vorsitzenden" der in Berlin lebenden Schriftstellerin Luo Lingyuan, die für ihren Erzählband "Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock" mit dem Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet wird. Besprochen wird die heute eröffnende Retrospektive des Fotografen Andreas Gursky im Münchner Haus der Kunst.

Welt, 17.02.2007

Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk ist auf Lesereise durch Deutschland getourt. Seine Eindrücke - Hotels, Bahnhöfe, Bratwurstbuden - sind nicht unbedingt freundlicher als seine Erinnerungen an die Zeiten vor dem Mauerfall, wie wir in der Literarischen Welt lesen: "Freunde fuhren als Gastarbeiter nach West-Berlin, nach Düsseldorf, egal wohin. In Paketen und Briefen versteckt, schickten sie LSD-Portionen. Einige machten Musik in Kneipen oder auf der Straße. Sie schickten anständige Gitarrensaiten. Sie wurden arbeitslos und lebten von der Sozialhilfe. Ich habe nie gehört, dass sie sich mit Deutschen angefreundet hätten. Deutsche eigneten sich nicht für eine Freundschaft. Meine Freunde bezogen deutsche Sozialhilfe, aber in ihren Erzählungen kamen die Deutschen nicht als Menschen vor. Höchstens als Arbeitgeber, Polizisten oder Beamte. Und aus diesen Erzählungen war ersichtlich, dass Deutschland ein viel angenehmeres Land wäre, wenn es dort keine Deutschen gäbe... Melancholie und Nostalgie, das ist die einzige Art, um über Deutschland nicht den Verstand zu verlieren. Nur so kann man dieses Land psychisch neutralisieren. Ich versuche, mir einen weinenden Deutschen vorzustellen und kann nur kichern. Nicht einmal eine weinende Deutsche kann ich mir vorstellen."

Im Feuilleton berichtet Uwe Schmitt von einer Veranstaltung mit Ayaan Hirsi Ali im American Enterprise Institute in Washington. Rainer Haubrich meldet von den tatsächlich fortschreitenden Planungen zum Berliner Stadtschloss, dass es preiswerter wäre, auf die Kuppel zu verzichten. Im Interview mit Stefan Kirschner spricht Regisseur Claus Peymann über seinen eigenen Konservatismus, Peter Handke und das Berliner Ensemble. Uta Baier meldet, dass das Museum für Junge Kunst in Frankfurt an der Oder das Antichrist-Fenster der Marienkirche zeigt.

Auf der Berlinaleseite rühmt Elmar Krekeler Jiri Menzels Hrabal-Verfilmung "Ich habe den englischen König bedient" als wahrhaft alteuropäisch: "weise, warm, witzig". Wolfgang Hamdorf berichtet von Filmen über Kuba. Peter Dausend zieht einige bittere Lehren aus diesem Festival.

TAZ, 17.02.2007

Zum Abschluss der Berlinale ein letzter Schwerpunkt zum Thema. Cristina Nord bilanziert den diesjährigen Wettbewerb, der kaum Lichtblicke zu bieten hatte: "Das Programm umfasste 22 Filme, die meisten davon waren durchschnittlich, einige nicht mal das. Wer anhand der Wettbewerbsbeiträge hoffte, eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Zukunft des Kinos aussehen könnte, wurde gründlich enttäuscht. Und auch von der Reichhaltigkeit der Kinogegenwart war in diesem Jahr im Berlinale-Palast nicht viel zu spüren." Susanne Messmer beschreibt den vorletzten Wettbewerbsbeitrag "Lost in Beijing" als "beißend bitteres" Porträt des urbanen Gegenwartschina. Die Regisseurin des Films Li Yu spricht im Interview über ihre massiven Probleme mit der Zensur und stellt fest: "Das echte Leben ist in China noch viel härter, als ich das je in meinen Filmen zeigen könnte." Auf den Berlinale-Seiten gibt es noch einmal das volle Programm mit Kritiken unter anderem zu Jiri Menzels "Ich habe den englischen König bedient", zu Philipp Scheffners "The Halfmoon Files" und zu Nanouk Leopolds "Wolfsbergen". Für die zweite taz porträtiert Susanne Lang das Jury-Mitglied Gael Garcia Bernal.

Aus systemtheoretischer Perspektive ist dem Klimawandel nur mit abklärender Hilfe zur Selbsthilfe beizukommen, diagnostiziert in einem längeren Artikel der Soziologe Dirk Baecker: Es "hilft nichts anderes, als die präziseste Beobachtung mit der nach Möglichkeit schwächsten Form der Intervention zu kombinieren. Die schwächste Form der Intervention ist die Moderation. Für sie gibt es verschiedene Formate, die von der Aufklärung und dem Glauben über den Markt und das Gesetz bis zum gemeinsamen Kunstgenuss reichen. Alles hilft, was denjenigen hilft, die selber herausfinden müssen, wie sie die Probleme, die sie produzieren, in den Griff bekommen können."

Weiterer Artikel: Alexander Cammann war dabei, als Marcel Reich-Ranicki die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität erhielt. Besprochen wird eine Ausstellung mit Fotografien von Wolfgang Tillmans in der Kestner-Gesellschaft Hannover.

In der zweiten taz gehen Peter Unfried und Jan Feddersen den Vorwürfen an Senait Mehari nach, ihr Bestseller "Feuerherz" sei teilweise erflunkert. Georg Blume informiert über das Ende der Einkindpolitik in China.

Für das Dossier des taz mag hat sich Stefan Reinecke mit dem Dokumentarfilmer Andres Veiel unterhalten, und zwar über den unglaublich brutalen, rassistisch motivierten Mord von Potzlow, über den Veiel ein Theaterstück, einen Film und nun ein Buch mit dem Titel "Der Kick" gemacht hat. Ellen Wesemüller hat eine Frau besucht, die sich bei einer Reality-Show schönheitsoperieren ließ. Anna Steegmann schreibt über ihr Leben zwischen der deutschen und der englischen Sprache.

Rezensionen gibt es zu Amartya Sens "Anti-Huntington" mit dem Titel "Die Identitätsfalle" und zur Neuauflage von Theodor Lessings anti-darwinistischen Büchern "Meine Tiere" und "Blumen". In der Belletristik-Rubrik werden Per Pettersons Roman "Im Kielwasser", Gary Shteyngarts Roman "Snack Daddys abenteuerliche Reise" und- als "postkolonialistischer Kitsch" aus den Charts - Colum McCanns Roman "Zoli" besprochen (mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 17.02.2007

In der Beilage Literatur und Kunst erinnert die Lyrikerin Olga Martynova an die einflussreiche Gruppe der Oberiuten, die letzten und nicht wohlgelittenen Vertreter der russischen Moderne. "Daniil Charms verhungerte 1942 im Gefängnisspital, Alexander Wwedenski starb 1941 beim Häftlingstransport, Nikolai Olejnikow wurde 1939 verhaftet und erschossen, Nikolai Sabolozki kam 1939 in Haft, Leonid Lipawski fiel 1941 im Krieg. Jakow Druskin lebte bis 1980 im ständigen Dialog mit den Gegangenen, er schrieb: "Es ist peinlich, über sich selbst zu sprechen. Deshalb werde ich kurz sein: Mich interessiert die letzte Teilung. Was ich darunter verstehe, ist: Ich blieb allein.""

Weiteres: Der Leipziger Kunsthistoriker Arnold Bartetzky registriert den Aufstieg der schmuddeligen Arbeitervorstadt Krakaus, Nowa Huta, zum hippen Wohnort für Künstler. Rüdiger Görner schreibt zum hundertsten Geburtstag von W.H. Auden. Georg Kohler macht sich Gedanken über die Tugend des Richters im Justizsystem.

Im Feuilleton wägt Andrea Köhler die gar nicht so schlechten Chancen des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten Barack Obama ab, der bloß leider mit zweitem Vornmane Hussein heiße. Joachim Güntner kommentiert das Verbot von heimlichen Vaterschaftstests in Deutschland. Roman Hollenstein schreitet das renovierte Zeughaus in Mannheim ab.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Zerstörung der Gemütlichkeit?" über sechzehn wegweisende Wohn-Ausstellungen im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, der Steve-Reich-Abend der Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker am Grand Theatre in Luxemburg, und Bücher, darunter Fjodor Dostojewskis "Ein grüner Junge" in der Neuübersetzung von Swetlana Geier, Tadeusz Borowskis Erzählungen "Bei uns in Auschwitz" und ein Aufsatzband über die "Konstruktion urbaner Identitäten" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 17.02.2007

Die Schauspielerin Nina Hoss spricht im Magazin-Interview mit Anja Reich nicht nur über ihre Rolle in Christian Petzolds "Yella", sondern auch über ihre Vorbereitung auf die "Medea" am Deutschen Theater in Berlin. "Ich habe so eine kleine Kollektion, meinen Medea-Ordner. 'Rage Against The Machine' ist dabei, Maria Callas und David Bowie. Das versetzt mich in Stimmung - Wut, auch Verzweiflung. Wichtig ist, dass man bei sich bleibt, dass man nicht abgelenkt wird. Die Garderobieren trauen sich manchmal gar nicht, mich anzusprechen."

SZ, 17.02.2007

Clint Eastwood erzählt im Interview, wie er seinen Film "Letters from Iwo Jima" gemacht hat: "Als Paul Haggis mit dem Drehbuch zu 'Flags' fertig war, sagte ich: Ich habe da eine Idee für einen kleineren Film - aber du bist inzwischen zu teuer, das kann ich mir nicht leisten. Kennst du nicht einen geeigneten Studenten? Ein paar Tage später schlug er mir diese Frau vor, Iris Yamashita, die noch nichts verkauft hat, die er aber gut fand."

Im Übersetzerstreit findet der Schriftsteller und Übersetzer Henning Ahrens, die Übersetzer sollten jetzt mal aufhören zu "zicken wie Diven": "Wenn ich in einem halben Jahr zwei Krimis übersetze - mit ein wenig Fleiß kein Ding der Unmöglichkeit -, bei denen ich auf jeweils 400 bis 500 Manuskriptseiten komme, dann erwirtschafte ich in diesem halben Jahr einen Betrag, der in etwa jenem Vorschuss entspricht, den viele deutsche Autoren für einen Roman erhalten, an dem sie mindestens zwei Jahre gefeilt haben und der sich höchstwahrscheinlich nicht so gut verkaufen wird, dass später Tantiemen abfallen. Der Autor steht genauso unter der Knute der Realitäten von Kalkulation und Umsatz wie Verlag und Übersetzer."

Weitere Artikel: Johannes Willms berichtet über die Unzufriedenheit französischer Intellektueller mit Segolene Royal: Sie fühlen sich links liegen gelassen von der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin. Lothar Müller war dabei, als Marcel Reich-Ranicki am Freitag die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität verliehen wurde: "Mit großer Nonchalance ersetzte er die Dankesrede durch ein eigens zu diesem Zwecke neu erfundenes Genre: die Stegreifrezension der just gehaltenen Laudationes." Was macht Wissenschaftler optimistisch? Ralf Bönt grübelt über die Antworten, die 160 Wissenschaftler auf diese Frage bei edge.org gaben. Henning Klüver liefert Neuigkeiten aus Mailand. Peter Burghardt berichtet von der Buchmesse in Havanna, wo sich nach vier Jahren erstmals wieder deutsche Verlage präsentieren. Tobias Moorstedt meditiert über Fußballgeisterspiele in Italien. Alexander Kissler resümiert einen Vortrag des französischen Philosophen Jean-Francois Kervegan in der Münchner Siemens-Stiftung zum Rechtspositivismus. Gerhard Matzig schreibt zum Siebzigsten des Architekten Uwe Kiessler.

Besprochen werden die Berlinale-Wettbewerbsfilme "Bordertown" von Gregory Nava und Jiri Menzels "Ich habe den englischen König bedient" sowie der von Fatih Akin produzierte Panorama-Film "Takva", das Moshammer-Musical "Daisy's König" (kein Witz, das heißt wirklich so) in München, die Ausstellung "Laocoonte. Alle origini dei Musei Vaticani" in den Vatikanische Museen, die Ausstellung "Architektonische Nachhut" im Hamburger Museum der Arbeit, für die Ralf Meyer Versuche zur "Zähmung der NS-Architektur" fotografiert hat, und Bücher, darunter Wolfgang Herrndorfs Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende verkündet Eckhart Nickel, Glamour sei passe: "Geschmack ist immer incognito." Steve Lake informiert uns in einem sehr kundigen Artikel über den "aktuellen Stand der legendären Soft Machine". Katharina Koppenwallner denkt über Mode und Verkleidung nach. Joachim Oltmann skizziert den Werdegang des Politikers Carl Schurz. Javier Tomeo steuert eine Erzählung über seine Nachbarn in Barcelona bei (die hundertprozentige Kreuzberger sind). Bianca Jagger spricht im Interview über ihr Engagement für Menschenrechte und verweigert jede lustige Bemerkung über ihre Ehe mit Mick Jagger.

FAZ, 17.02.2007

Marcel Reich-Ranicki ist Ehrendoktor der Humboldt-Unversität zu Berlin, wo er als siebzehnjähriger Jude 1938 abgewiesen worden war. Dem "Gestalt gewordenen point d'ironie", wie ihn Universitätspräsident Christoph Markschies in seiner Ansprache nannte, gratulieren außerdem Frank Schirrmacher (hier), Peter Wapnewski und der Literaturwissenschaftler Michael Kämper-van den Boogaart. "Na ja, so hätte sich mein Leben vielleicht abspielen sollen: zwischen Staatsoper und Universität", bemerkt Reich-Ranicki in seiner Dankesrede. Und dann sind die ersten drei Seiten des Feuilletons schon um.

Weiteres: Die Sammlung Ströher wird Bonn verlassen, weiß Andreas Rossmann nun auch von Ulrich Ströher. Gastrokritiker Jürgen Dollase warnt vor dem "aromatischen Overkill" beim gewöhnlichen Dorfchinesen. Niklas Maak gratuliert dem Architekten Uwe Kiessler zum Siebzigsten. Thomas Wagner schreibt zum hundertfünfzigsten Geburtstag des Malers Max Klinger.

Im Medienteil berichtet Rainer Hermann, dass die Fernsehserie "Tal der Wölfe" in der Türkei nun auf Druck der Aufsichtsbehörde hin eingestellt wurde. Die Schallplattenseite handelt von einem Auftritt der "Kaiser Chiefs" in Berlin, eine von Bastian Sick zusammengestellte Auswahl von Liedern Udo Jürgens, die Symphonien Robert Schumanns in der Orchestrierung Gustav Mahlers vom Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly.

In der Beilage Bilder und Zeiten verspricht Dirk Schümer die "Wahrheit" über den Karneval in Vendig. Peter Geimer fragt sich, warum Menschen Devotionalien wie das Tintenfass von Goethe aufheben. Und Hubert Spiegel unterhält sich mit dem Autor Ingo Schulze, dessen neuer Erzählungsband "Handy" nächste Woche erscheint, übers Telefon.

Besprochen werden zudem Berlinale-Wettbewerbsfilme von Jiri Menzel, Jacques Rivette und David Mackenzie, "Armin" von Ognjen Svilicic und "Klopka" von Srdan Golubovic und Ulrike Ottingers "Prater", die Ausstellung "Design Life Now" mit amerikanischen Designarbeiten der vergangenen drei Jahre im New Yorker Cooper-Hewitt-Museum, und Bücher, darunter Lukas Hartmanns "Heul nicht, kleiner Seehund", Klaus Kordons Roman "Fünf Finger hat die Hand" sowie Herman Bangs neu übersetzter Roman "Am Weg" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).