Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2007. In der Welt verteidigt Andrzej Wajda den Solidarnosc-Film "Strajk" von Volker Schlöndorff. Die NZZ porträtiert die Kranführerin Anna Walentynowicz, die Schlöndorff zu seinem Film inspirierte, aber nichts davon wissen will. Die FAZ räumt ihre Seiten frei für Klimaforscher, die uns streng wissenschaftlich nummeriert über Chancen und Risiken des Klimawandels aufklären. SZ und NZZ glauben nicht, dass Jesus in der von James Cameron präsentierten Grabkammer liegt. Die FR fand in einer Cranach-Ausstellung alles, was Protestanten ablehnen.

Welt, 02.03.2007

Der polnische Regisseur Andrzej Wajda verteidigt im Gespräch mit Gerhard Gnauck Volker Schlöndorffs Film "Strajk". Er selbst hat es nie geschafft, eine Fortsetzung seiner berühmten Filme "Mann aus Marmor" und "Mann aus Eisen" zu drehen, erläutert er: "Bei mir zu Hause liegen jetzt fünf Drehbücher für eine Fortsetzung, ein sechstes ist in Arbeit, und die Titel beginnen alle mit den Worten 'Der Mann aus'. Sie handeln alle vom Scheitern der Solidarnosc nach 1989, und sie gefallen mir alle nicht. Einen solchen Film kann kein polnischer Regisseur machen, denn der Sieg der Solidarnosc ist aufgebraucht, und dieser Film müsste den Niedergang zeigen und heißen: 'Wir wollen den Kommunismus wiederhaben'. Nur ein ausländischer Regisseur konnte 'Strajk' drehen."

Weitere Artikel: Im Feuilleton-Aufmacher versucht Michael Pilz nach dem Hören der neuen CD Genie und Kündertum des Herbert Grönemeyer zu ergründen. Ulrich Weinzierl schreibt einen sehr scharfen Verriss von Ernst Klees "Das Kulturlexikon zum Dritten Reich". Hanns-Georg Rodek entwickelt in der Leitglosse eine Vision der künftigen Karriere Florian Henckel von Donnersmarcks. Dankwart Guratzsch berichtet über Kritik an der heutigen Leitung des Dessauer Bauhauses. Marion Leske porträtiert den jungen Kurator und Sammler Rik Reinking. Auf der Medienseite unterhalten sich Sven Felix Kellerhoff und Michael Link mit dem Produzenten Nico Hoffmann über sein TV-Drama "Die Flucht".

FR, 02.03.2007

"Der pragmatische Künstlerunternehmer winkt zu uns herüber aus dem nur anscheinend weit entfernten 16. Jahrhundert", schreibt Judith von Sternburg über die Ausstellung "Cranach im Exil", die gerade in Aschaffenburg an drei verschiedenen Orten gezeigt wird: in der Kunsthalle Jesuitenkirche, Schloss Johannisburg und dem Stift St. Peter und Alexander. In der Jesuitenkirche finden sich "Heilige sonder Zahl. Die samtene Beschaffenheit ihrer Capes, die Wurst- oder Astform ihrer Finger gerät so unterschiedlich, wie es die Maler wünschten oder hinbrachten. Eine Rarität ist das Schneewittchensarg-Reliquiar der Heiligen Margarethe, deren halbverweste Leiche aus Holz nachgebildet und mit Knochen angereichert wurde. Kurzum ist hier alles versammelt, was die Protestanten ablehnten. (...) Im ungemein interessanten Katalog schildert Gerhard Ermischer, Kurator der Ausstellung, wie sich der Künstler auf die Gegebenheiten einstellte, schlichtere Arrangements für seine protestantischen Abnehmer herstellte, üppigere Varianten für die Katholiken. Die "Heilige Sippe", mit der die Reformatoren wenig anzufangen wussten, warb nun als Stich für bessere Kindererziehung."

An der Familienpolitik der Großen Koalition führt kein Weg vorbei, meint die die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim - aus ganz pragmatischen Gründen. "Partnerschaft, Gleichberechtigung, Emanzipation: Diese Stichworte lesen sich, als wären sie der frauenbewegten Literatur der 70er Jahre entnommen. Heute, welch wundersame Verwandlung, kehren sie wieder in ganz anderer Gestalt: als Aussagen der wissenschaftlichen Experten. Statt des revolutionären Pathos nun die nüchterne Aussage, eine Fakten-Bilanz der aktuellen gesellschaftlichen Lage. Die Botschaft der Experten heißt schlicht: Wenn die moderne Gesellschaft mehr Kinder will, dann muss sie dafür mehr Gleichberechtigung bieten. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben."

Weiteres: In einer Times mager resümiert Peter Michalzik das große Fußballturnier der Feuilletonisten, Schriftsteller und Theaterleute. Harry Nutt kommentiert Claus Peymanns Kommentar zum Kapitalismus-Kommentar des RAF-Mitglieds Christian Klar. Daland Segler annonciert den ARD-Zweiteiler "Die Flucht".

NZZ, 02.03.2007

Auf der Medien- und Informatikseite stellt "ark" das in Mali populäre Privatradio Kledu vor: "Neben den ausführlichen Nachrichtensendungen sorgt vor allem 'Dragon' für Profil. Der politische Kommentator ist das Aushängeschild von Radio Kledu. Er tobt sich jeden Morgen um 11 Uhr buchstäblich aus. 'Guten Morgen, alle ihr Diebe des malischen Volkes, guten Morgen, ihr korrupten Politiker', lautet eine der ins Mikrofon geschrienen Begrüssungsformeln. Als traditionsverbundener Mensch bemängelt er nicht nur Korruption unter Politikern, sondern auch die Verluderung der Sitten in den Straßen Bamakos. Im vergangenen Jahr erregte 'Dragon' international Aufsehen. Nachdem er die Gattin des Staatspräsidenten namentlich für ihre Selbstbedienungsmentalität in Bezug auf die Staatskasse kritisiert hatte, wurde er von Sicherheitskräften, mutmaßlich aus dem Umfeld des Präsidentenpalasts, gekidnappt, brutal verprügelt und im Busch ausgesetzt. Wie viele Anhänger seine Sendung hat, zeigte sich anschließend am Krankenbett."

Weiteres: Rene Grossenbacher und Ulrich Saxer berichten über die Medienlandschaft im westafrikanischen Land Benin, die die freieste in ganz Afrika ist. Kurz berichtet wird über das vom ZDF geplante und umstrittene "Forum zum Freitag", ein Internetangebot für Muslime in Deutschland. Dominik Landwehr besucht den ersten elektronischen Computer, mit dem die Briten einige Codes der Nazis knackten, in einem Museum im englischen Bletchley Park. Zitiert wird zuletzt eine britische Studie, wonach zuviel Fernsehen zu "Fettleibigkeit, Schlafstörungen, Kurzsichtigkeit, vorzeitigem Pubertieren, hormonellen Störungen, Konzentrationsproblemen und sogar zu Alzheimer" führt.

Im Feuilleton porträtiert Maria Graczyk die Solidarnosc-Heldin Anna Walentynowicz, die Volker Schlöndorff zu seinem Film "Strajk" inspirierte und dagegen heute so entschieden kämpft wie einst gegen das polnische Regime. Unter anderem bemängelt sie, "wie nonchalant Schlöndorff mit symbolischen Ereignissen umgehe. So rettet die Filmheldin den in der Werft gehassten Apparatschik vor der Lynchung. In der Wirklichkeit hätten die Streikenden hingegen alles getan, damit gerade diesem Menschen kein Haar gekrümmt wird. Warum? Weil er der Feind war und 'Solidarnosc' eine friedliche Bewegung. Eine Kleinigkeit? Vielleicht. Aber nicht für diejenigen, die damals Geschichte, nicht nur jene Polens, geschrieben haben."

Weitere Artikel: Wolfgang Stegemann, Professor für Neues Testament, zerpflückt die in einem Dokumentarfilm aufgestellte Behauptung des Regisseurs James Camerons, man habe die Ossuarien Jesu und seiner Famile gefunden ("es sind... keine antiken Quellen, aus denen Cameron und sein Team ihre Interpretation des Familiengrabes Jesu schöpfen. Es ist eher wohl Dan Browns Bestseller 'Sakrileg', der zu der Familiengrab-Hypothese inspiriert hat"). Fritz Schaub besuchte das Musikfestival auf den Ferieninseln Teneriffa und Gran Canaria. Auf der Architektur-und-Design-Seite stellt Hubertus Adam Neubauten in Rotterdam vor.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Hutkreationen von Philip Treacy in Düsseldorf, zweimal Schiller, nämlich "Don Karlos" unter Nicolas Stemann und "Maria Stuart" in Stephan Kimmigs Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater und - auf der Filmseite - Steven Soderbergh Film "The Good German", der unter australischen Ureinwohnern spielende Film "Ten Canoes" von Rolf de Heer und Matias Bizes Film über die "Unmöglichkeit einer aufkeimenden Liebesbeziehung zwischen zwei sich zunächst Fremden in einem Motelbett", "En la cama".

TAZ, 02.03.2007

Dirk Knipphals besucht den Schriftsteller Bernd Cailloux im "windschattigen" Schöneberg. Tobias Rapp empfiehlt der neuen Spex-Redaktion einen glatten Bruch mit der Vergangenheit und weniger Bezüge auf Diedrich Diederichsen. In der zweiten taz staunt Matthias Lohre über die grünen Töne des CDU-Präsidiumsmitglieds und Interviewpartners Friedbert Pflüger. Im Medienteil wird gemeldet, dass die Gesellschafter der SZ bei ihrem jüngsten Treffen angeblich keineswegs über einen Verkauf nachgedacht haben.

Und Tom.

SZ, 02.03.2007

Peter Lampe stellt klar, dass selbst so kurz vor Ostern Jesus der letzte ist, der in der in Jerusalem gefundenen Grabkammer liegen könnte. "Nirgends finden sich Hinweise auf christliche Nutzer, nicht einmal der aramäische Gebetsruf der frühesten Christen, 'Maranatha' ('Unser Herr, komm!'), mit dem sie die Wiederkunft Jesu zum Weltende herbeisehnten. Nur Kreise und Rosetten zieren die Ossuare. Nirgends zeigt sich eine Verehrung des Jesus. Allenfalls ein münzengroßes Graffito auf dem Deckel des Jesus-Ossuars, ein X mit einem dritten Strich, könnte als hingekritzeltes Sternchen gedeutet werden, wenn das X nicht die flüchtig hingeworfene Marke des Steinmetzen war, die auch auf dem Ossuar selbst sichtbar ist, während der dritte Kratzer zufällig sein mag. Das reicht nicht, um hier den 'Stern aus Jakob' von 4. Mose 24 zu begrüßen."

Weiteres: Holger Liebs besucht das langjährige Künstlerpaar Gilbert & George anlässlich ihrer ersten Ausstellung in der Tate Modern in London. Thorsten Schmitz schildert den Streit um das "Toleranz"-Museum in Jerusalem, das auf einem ehemaligen muslimischen Friedhof errichtet werden soll. Frank Thinius präsentiert Adolf Krischanitz' würfelförmigen Entwurf für die temporäre Kunsthalle am Berliner Schlossplatz. Jens-Christian Rabe porträtiert den Schauspieler Paul Herwig, der gerade in Kleists "Prinz Friedrich von Homburg" an den Münchner Kammerspielen zu sehen ist. Der Schweizer Architekt Hans Zwimpfer hat sich sein "Wohnhaus mit gestaffelten Geschosswohnungen" patentieren lassen und damit den Unmut der Zunft geerntet, berichtet Gert Kähler. Max Scharnigg trifft Kim Frank, den ehemaligen Sänger der Band "Echt", der jetzt ein neues Album herausbringt. Jens Bisky schildert den Verkauf des Rotbuch Verlags an die Eulenspiegel Gruppe. Andrian Kreye schreibt zum Tod des Politikberaters und Essayisten Arthur M. Schlesinger.

Besprochen werden die Aufführung von Andre Previns Oper auf der Basis von Tennessee Williams" "A Streetcar Named Desire" im Theater an der Wien, Brian Enos Installation "Luminous" im Kaufhaus Selfridges in London, und Bücher, darunter Roberto Arlts Debütroman "Das böse Spielzeug" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 02.03.2007

Alle reden über das Wetter, da kann das Feuilleton der FAZ nicht länger schweigen. Genauer gesagt: Die Redakteure räumen das Feld und machen den Platz frei für die Klimaforscher. Hier ein Auszug aus Frank Schirrmachers Erklärung: "Wir haben den Wissenschaftlern angeboten, sich des Feuilletons zu bemächtigen. Sie sollen der skeptischen Öffentlichkeit klarmachen, was bei den aktuellen Debatten pure Medienhysterie ist und was schieres Faktum. Sie haben dieses Angebot angenommen. Sie sind heute die Herren dieser Seiten. Sie schildern, auch mit Blick auf die heranwachsenden Schüler und Kinder, welche Welt das sein wird, in der wir leben. Sie versuchen, so wenig alarmistisch wie möglich zu sein. Was übrig bleibt, ist alarmierend genug."

Im Interview spricht Hans Joachim Schellnhuber, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), über die politischen Auswirkungen des Klimawandels: Er "würde das Leben besonders in jenen Ländern unerträglich machen, die uns schon jetzt als Ursprungsorte des Terrorismus erhebliche Probleme bereiten. Man kann also Klimaschutz als Unterkapitel der Geopolitik begreifen." Der Rest sind Fragen und Antworten, wissenschaftlich streng durchnummeriert von "1.1 Wissen wir genug?" - ambivalente Antwort: "Die Politik sollte die zum Teil schon recht gut untermauerten und bewerteten Aussagen der Klimaforscher mindestens so ernst nehmen wie die Prognosen der Wirtschaftsentwicklung durch Wirtschaftswissenschaftler." - bis zu "3.3 Woher Wasser nehmen?". Julia Voss stellt im knappen Überblick die besten Sachbücher zum Klimawandel vor, darunter auch Jared Diamonds' Bestseller "Kollaps" (mehr) und die Buchversion von Al Gores soeben Oscar-gekröntem Plädoyer "Eine unbequeme Wahrheit" (mehr).

Im Feuilleton, das bleibt, kommentiert Gerhard Stadelmeier ganz knapp Claus Peymanns Resozialisierungsangebot für Christian Klar - und die ersten Reflexe konservativer Politiker. Verena Lueken schreibt über Katastrophenfilme - und darüber, warum Hollywood der Klimakatastrophe nicht gewachsen ist. Edo Reents dreht eine assoziative Pirouette zum Thema Klimawandel und landet dabei im Berlin in Zeiten der Cholera und bei Arthur Schopenhauer.