Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2007. Die Welt erinnert an den zwiespältigen Erfolg von Rachel Carsons Ökologiebestseller "Der stumme Frühling". In der NZZ erklärt Juri Andruchowytsch, warum er mit Österreich so wenig anfangen kann. Die SZ hält nichts von der vielfach ausgerufenen Renaissance der Skulptur. Die FAZ porträtiert die im Iran zum Tode verurteilte, in Deutschland lebende Aktivistin Mina Ahadi, die gerade eine Kampagne "Wir haben abgeschworen" lanciert hat.

NZZ, 05.03.2007

Ulrich M. Schmid und Andreas Breitenstein haben ein schönes Interview mit Juri Andruchowytsch über die Lage der Ukraine in Europa, über sein Verhältnis zu Deutschland und der Schweiz und über die ukrainische Literatur heute geführt. Nur über Österreich äußert er sich trotz der k.u.k.-Geschichte seines Landes etwas unfreundlich: "Ursprünglich wurde Österreich von mir idealisiert, heute bin ich von Österreich tief enttäuscht. Anfang der neunziger Jahre lernte ich den k. u. k. Mythos kennen. Die mitteleuropäische Idee war ganz neu für mich, ich schrieb damals meine ersten Essays zu diesem Thema, wie zum Beispiel 'Erz-Herz-Perz'. Heute grenzt sich Österreich scharf von der habsburgischen Tradition ab. Niemand versteht mich, wenn ich in Österreich über dieses Thema spreche. Die Leute sagen: Das ist uninteressant und veraltet. Österreich ist ein kaltes Land, von dem ich viel geträumt habe und in dem ich kein Verständnis gefunden habe."

Weitere Artikel: Sieglinde Geisel blickt in den Merkur von Februar. Besprochen werden der "Hamlet" in der Regie Jan Bosses am Schauspielhaus Zürich, Bruckners Achte mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und Bernard Haitink, eine Ausstellung mit Zeichnungen und Aquarellen Hermann Hesses im Wiener Leopold-Museum, und Massenets "Manon" mit Anna Netrebko in Wien ("Bei allem Höhenglanz, aller Beweglichkeit, kompakten Fülle und technischen Perfektion: Der Charakter ihres Soprans ist schwer zu fassen, eine winzige Distanz scheint zwischen der Stimme und der Rolle zu bestehen", schreibt Marianne Zelger-Vogt).

Welt, 05.03.2007

Ein Klassiker der Ökologiebewegung ist wieder aufgelegt worden, Rachel Carsons Buch "Der stumme Frühling", der zur weltweiten Ächtung des Stoffes DDT führte - und damit dummerweise auch zu einem drastischen Wiederanstieg der Malaria-Erkrankungen mit Millionen von Toten, schreibt Ulli Kulke. Versuche, DDT wieder einzusetzen, scheitern: "Seit Jahren ist in Uganda, einem der am schlimmsten betroffenen Länder, die Diskussion in Gang, wieder DDT in den Häusern zu versprühen. Die Ärzte sind vehement dafür, Exporteure wie der Tabakkonzern BAT mit seinen immensen Ländereien kämpfen dagegen." Sonst heißt es noch, Rauchen sei gesundheitsschädlich!

Im Feuilleton begrüßt Paul Badde ein vom Vatikan ausgerufenes Paulus-Jahr. Uta Baier erzählt die Geschichte des Galeristen Walter Westfeld, dessen Sammlung von den Nazis requiriert wurde. Dankwart Guratzsch berichtet über ein Voksbegeheren gegen die Pläne des Architekten David Chipperfield für die Museumsinsel, die von Prominenten wie Günther Jauch unterzeichnet wurde. Johanna Schmeller unterhält sich mit dem Fotografen Raymond Depardon, der in Berlin eine Ausstellung eröffnet. Besprochen werden der "Prinz von Homburg" in München und der "Hamlet" in Zürch.

TAZ, 05.03.2007

An die neunzig Magazine haben sich für die Documenta 12 wieder zu einem Redaktionsnetzwerk zusammengeschlossen und die erste Ausgabe eines Magazins gezeitigt. Der Leiter Gregor Schöllhammer erklärt Brigitte Werneburg, wie fruchtbar eine internationale Öffentlichkeit sein kann. "Dabei entwickeln sich Debatten zwischen Magazinen aus Argentinien und Chile und solchen aus Polen, Rumänien oder Jugoslawien. Südamerika redet mit Osteuropa, und gemeinsam wird die ganze vernachlässigte Geschichte der Blockfreien erschlossen. Ganz andere Wege als die der großen Handelswege finden plötzlich Beachtung. Ein Kollege aus Indien hat jetzt mit anderen Kollegen aus Asien angeregt, über die ungeheure Schizophrenie kultureller Güterkontrolle in den großen Städten Asien zu arbeiten. Sie stehen unter autoritären Regimen, die hochzensorisch unterwegs sind. Aber auf den großen Märkten ist alles zu haben. Sie kriegen in Thailand jeden europäischen Avantgardefilm der Sechzigerjahre, selbst einen von Friedel Kubelka."

In der zweiten taz versucht sich Peter Unfried einen Reim auf den österreichischen "Postkabarettist-Bandleader-Philosophen" Alfred Dorfer zu machen. Besprochen werden Wolfgang Engels "grundsolide" Inszenierung von Schillers "Wallenstein"-Trilogie an drei Spielorten in Leipzig und Roland Barthes' nun ins Deutsche übertragene Vorlesung "Wie zusammen leben".

Und Tom.

FR, 05.03.2007

Peter Michalzik schlottert bei Johan Simons' zurückgenommener Inszenierung von Kleists "Prinz von Homburg" in den Münchner Kammerspielen vor Kälte. "Die versammelten, wirklich großartigen Schauspieler müssen nämlich vollkommen unkleistisch spielen. In dieser Versuchswelt entstammen die unterdrückten, minimalistischen Gesten der Angst und Todesnähe dem Typus Film, in dem man nicht weiß, ob man nicht genetisch verändert ist oder einen Sender in seinem Kopf hat. Sandra Hüller etwa ist die Idealbesetzung für die keusch-begehrenswerte Herzensdame Natalie, aber sie ist es auch, die Homburgs Hand zu ihrem Handschuh führt und seinen Traum damit zur Wirklichkeit, sein Gefängnis perfekt macht. Gleichzeitig vertritt sie Homburgs Sache so gefasst und überhaupt nicht aufgelöst gegenüber dem Kurfürst, dass hier - wie sonst auch - von den ungeheuren Szenen Kleists, die ja vor allem dafür geeignet sind, die Herzen zu zerreißen, nichts übrig bleibt. Die Kälte frisst das Drama sozusagen von innen her auf."

Im Literaturteil hofft Jörg Plath, dass dem Internationalen Literaturfestival Berlin die aus Kostengründen nun wieder angedachte Biennalisierung erspart bleibt. "Diese schreckt das ilb natürlich mehr als das Poesiefestival, dessen Organisatoren institutionell durch die Literaturwerkstatt abgesichert sind. Das ilb müsste dagegen seinen kleinen Mitarbeiterstab entlassen und jedes zweite Jahr von Neuem beginnen. Die Folge wäre eine vollständige Auslieferung an den Reisezirkus des internationalen Literaturbetriebs und die Werbeabteilungen der Verlage."

Weiteres: Christian Thomas nutzt Times mager, um über die "Generation Option" zu räsonieren. Besprechungen widmen sich Jan Bosses "schöner, intensiver, kluger" Aufführung von Shakespeares "Hamlet" in Zürich und einem Konzert mit dem Orchestre de Paris unter Christoph Eschenbach in Frankfurt.

FAZ, 05.03.2007

Regina Mönch porträtiert die im Iran zum Tode verurteilte, in Deutschland lebende Aktivistin Mina Ahadi, die gerade eine Kampagne "Wir haben abgeschworen" lanciert hat: "Mit Gleichgesinnten hat Frau Ahadi die Erfahrung gemacht, dass in einer Mediengesellschaft Provokation zuweilen hilfreicher ist als ausgefeilte Argumente, um ein politisches Ziel zu erreichen. Ihren höflichen Protest gegen die von den Medien verbreitete Darstellung, der Karikaturenstreit habe die gesamte islamisch dominierte Welt in Aufruhr versetzt und tatsächlich jeden einzelnen Bürger der sogenannten muslimischen Staaten beleidigt, habe man noch übersehen. Dass es in der Migrantengesellschaft Deutschlands Tausende gibt, die das Kopftuch, die Scharia, ja den ganzen Islam ablehnen, müsse aber endlich zur Kenntnis genommen werden. Und weil Aiman Mazyek, Generalsekretär des 'Zentralrates der Muslime', im Vorfeld der Islamkonferenz nicht näher Rechte für 'dreieinhalb Millionen Muslime' eingeklagt hat und die Scharia 'in Einklang bringen' will mit der Demokratie, setzt nun der Kreis um Frau Ahadi einen 'Zentralrat der Ex-Muslime' dagegen."

Weitere Artikel: Eberhard Rathgeb hat sich mit dem Charite-Professor Klaus Michael Beier getroffen, der eine Präventiv-Therapie für Pädophile anbietet: "Viele Pädophile, berichtet Beier, haben soziale Vernichtungsängste, sie fürchten, deklassiert zu werden, wenn ihre sexuelle Neigung bekannt würde." Klaus Ungerer freut sich über die Wiederkehr längst vergessener Computerspiele aus der Frühzeit - auf dem Handy. Hildegard Wiegel hat eine Konferenz in Rom zum Thema "Ruinenkult" besucht. Beim Blick in deutsche Zeitschriften ist Ingeborg Harms auf Aufsätze zu Franz Grillparzer und zur Coolness Humphrey Borgarts gestoßen. "bat." kommentiert den Streit um die Ausrichtung der Dessauer "Bauhaus"-Stiftung. Leider nur von einer Nicht-Einigung im Kampf um den Bau der Dresdener Waldschlösschenbrücke kann "Rh" berichten. "Si" informiert darüber, dass in China vergleichsweise sehr wenig Geld für Kultur ausgegeben wird. Auf der Medien-Seite spricht die Schriftstellerin Maria Frise, die selbst aus Schlesien fliehen musste, über den ARD-Zweiteiler "Die Flucht": "Ja, es gibt durchaus viele realistische Elemente; aber leider steckt da auch viel Rosamunde Pilcher drin."

Auf der letzten Seite schreibt Thomas Thiel über seinen Besuch im oberpfälzischen Etzelwang - wo der Hollywood-Star Nicolas Cage sich im letzten Jahr ein Schloss kaufte und seither nicht mehr gesehen ward.

Besprochen werden Wolfgang Engels Leipziger "Wallenstein"-Inszenierung, eine Frankfurter Ausstellung, die sich mit Hannah Arendts Beziehung zur Literatur befasst, Andrei Serbans Wiener Inszenierung von Jules Massenets "Manon" mit Anna Netrebko in der Titelrolle und Phil Morrisons Film "Junebug".

Auf der Sachbuchseite werden unter anderem Rüdiger Voigts Carl-Schmitt-Studie "Den Staat denken" und das postume Werk der ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja besprochen. Eine Rezension gibt es außerdem zu Sebastian Brocks Anstaltsroman "Silbersee" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Berliner Zeitung, 05.03.2007

Eine pikante Meldung hat Christian Esch zu machen: Michael Schindhelm, gerade noch Generaldirektor der Berliner Opernstiftung, geht nach Dubai. Er soll in dem Wüstenemirat "Kulturdirektor" werden. "Das Emirat wolle ein Kulturzentrum von internationalem Format errichten, eine Lagunenstadt, deren Aufbau 'mindestens bis 2012, 2013' dauern werde. Sein Engagement werde entsprechend auf Jahre angelegt sein. Noch befinde er sich allerdings bloß in einer dreimonatigen Vorbereitungszeit, die soeben begonnen habe. Über die Einzelheiten des Vertrages wollte er sich nicht äußern. Das Angebot aus dem Golf-Emirat habe keinen Einfluss auf seine Entscheidung gehabt, in Berlin als Generaldirektor der Opernstiftung zurückzutreten."
Stichwörter: Berlin, Dubai, Schindhelm, Michael

SZ, 05.03.2007

Die Skulptur ist wieder da auf dem Kunstmarkt, und Jörg Heise ist unbeeindruckt. "So wie jene, die zuvor die 'Rückkehr der Malerei' postulierten, damit vor allem eine Rückkehr zum kreuzbravem Abpinseln von Wirklichkeitsvorlagen meinen, so ist mit der ausgerufenen 'Renaissance der Skulptur' vor allem eine Rückkehr zu handwerklicher Selbstgenügsamkeit gemeint. Nur ja nicht zu komplizierte Fragen aufwerfen, es könnte ja die erlernte Arbeitstechnik überflüssig machen - oder das Galeristenverkaufsgespräch mit den Trophäensammlern ins Stocken bringen. Da kann man eigentlich nur noch empfehlen, Skulpturen künftig nach Europalettengröße zu normieren, das erleichtert Transport und Lagerung (den Witz hat allerdings schon Kippenberger gemacht)."

Weiteres: Kulturstaatsminister Bernd Neumann überlegt gerade, wie die zwei Millionen Euro für Nachforschungen zu Raubkunst in deutschen Museen verteilt werden sollen, meldet Stefan Koldehoff. Rainer Erlinger macht sich Gedanken über den Begriff der Gnade als Herrschaftsinstrument. Mit den Recherchen zu seinem Dokumentarfilm hat David Ridgen jetzt den Mord an zwei Schwarzen durch den Klu-Klux-Klan im Süden der USA wieder aufgerollt, berichtet Bernadette Calonego. Holger liebs informiert, dass Steven Spielberg 1989 ein Bild von Norman Rockwell kaufte, das 1973 gestohlen worden war. Dirk Peitz trifft bei Jean-Benoit Dunckel von der französischen Band Air mit einer Vermutung ziemlich ins Schwarze. ""Es ist wahr, dass Leute uns mittlerweile ihre Kinder zeigen und sagen: Das wurde zu 'Moon Safari' gezeugt. Schon merkwürdig." Till Briegleb bringt vom Symposium zu den Lead Awards in Hamburg die Medientrends hin zu den Alten und zur Selbstverwirklichung mit.

Besprochen werden die "übervorsichtig moderne" Inszenierung von Kleists "Der Prinz von Homburg" durch Johan Simon in den Münchner Kammerspielen, die von Intendant Wolfgang Engel besorgte Aufführung von Schillers "Wallenstein"-Trilogie am Schauspiel Leipzig, eine Ausstellung über Deutschlands erste Lifestyle-Zeitschrift "die neue linie" im Bauhaus-Archiv Berlin, die Schau "Modelle für Morgen" für eine neue European Kunsthalle in der Kölner Innenstadt, Filme von Andreas Veiel und Veit Helmer auf DVD, und Bücher, darunter Michael Jürgs' Biografie der Künstlerin Eva Hesse "Eine berührbare Frau" sowie Tadeusz Borowskis Erzählungen "Bei uns in Auschwitz" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).