Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.03.2007. Die SZ sieht den Beitritt der Bayerischen Staatsbiblitohek zu Google Book Search als Schlag gegen den gallozentrischen Direktor der Bibliotheque nationale. In der SZ verteidigen Autoren und Fernsehkomiker die lateinische Messe: eine Dosis Numinosis. In Spiegel Online erklärt Sibel Kekilli, warum sie aus Deutschland weg will. In der taz stellt Ilija Trojanow fest: Der Ursprung Europas liegt außerhalb Europas. In Slate ruft Christopher Hitchens: "Ayaan Hirsi Ali is no fundamentalist!"

TAZ, 07.03.2007

"Wie muss eine Bevölkerung beschaffen sein, die sich diesen Roman zum Kultbuch wählt?", fragt sich Marius Meller in seiner Untersuchung der Wirkungsgeschichte von Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt". "Man könnte 'Die Vermessung der Welt' also vor diesem Hintergrund gut als neubürgerlich bezeichnen und den fulminanten Erfolg als Symptom der Selbstorganisation und Selbstformierung einer neuen bürgerlichen Schicht, die eher Peter Sloterdijk als Jürgen Habermas, eher Udo di Fabio als Joachim Fest, eher Kehlmann als Botho Strauß liest. Darüber hinaus einer 'Subkultur' anzugehören - man sollte eher Partialkultur sagen -, schließt sich nicht nur nicht aus, sondern ist geradezu Voraussetzung für postmoderne, neubürgerliche Differenz und Individualität." Der vollständige Text ist im Merkur zu lesen.

Folgt man Ilija Trojanow in einer hübschen Meditation über Europa auf der Meinungsseite, dann sollte die Türkei unbedingt EU-Mitglied werden: "Die Ursprünge europäischer Zivilisation stimmen nicht mit den heutigen Grenzen überein. Die vielbesungene antike Wiege würde heute weder geografisch noch politisch zu Europa gehören. Ausgrabungen der letzten Zeit unterstreichen, dass die kulturellen Impulse im klassischen Griechenland überwiegend von Stadtstaaten ausgingen, die in jener Region lagen, die Europäer schon früh Kleinasien nannten - was in etwa so vermessen ist, als würde ein Baby seinen Nabel 'Kleinmutter' nennen."

In einer "Mail aus Manila" schreibt Tilman Baumgärtel über das philippinische Kino der Siebziger und frühen Achtziger, als es in Manila noch ein Filmfestival gab und sich alle wichtigen deutschen Regisseure hier die Klinke in die Hand gaben. Besprochen wird die Ausstellung "Gabriele Münter - Die Jahre mit Kandinsky, Fotografien 1902-1914" im Münchner Lenbachhaus.

Schließlich Tom.

Weitere Medien, 07.03.2007

In Slate wendet sich Christopher Hitchens (offensichtlich ohne die von Perlentaucher und signandsight.com lancierte Debatte zu kennen) gegen Timothy Garton Ash und Ian Buruma und ihren auf Ayaan Hirsi Ali gemünzten Begriff des "Fundamentalismus der Aufklärung": "Garton Ash and Buruma would once have made short work of any apologist who accused the critics of the U.S.S.R. or the People's Republic of China of 'heating up the Cold War' if they made any points about human rights. Why, then, do they grant an exception to Islam, which is simultaneously the ideology of insurgent violence and of certain inflexible dictatorships? Is it because Islam is a 'faith'?"

Spiegel Online, 07.03.2007

Im Interview mit Claus Christian Malzahn und Anna Reimann annonciert die Schauspielerin Sibel Kekilli ihren Weggang aus Deutschland, wo man ihr ausschließlich Rollen als Türkin geben wolle. Auch die Türken und türkischstämmigen Deutschen und der Islam kommen bei ihr nicht besonders gut weg: "Es tut mir in der Seele weh, wenn ich kleine Mädchen von sieben oder acht Jahren mit Kopftuch sehe. Denn das Kopftuch soll vor sexueller Begierde schützen. Was für einen Floh setzt man solchen Mädchen ins Ohr? Warum darf ein Mädchen mit acht Jahren nicht schwimmen? Weil ihre Eltern glauben, sie sei ein Sexobjekt. Wer er es nicht aushält, dass seine Tochter im Badeanzug schwimmt, soll in ein anderes Land gehen."

FAZ, 07.03.2007

China ist das gelebte Paradox - deshalb sind, insistiert Mark Siemons, alle Versuche zum Scheitern verurteilt, die eine einheitliche Tendenz der Entwicklung erkennen wollen: "Trotz der rapide fortschreitenden Pluralisierung der Wirtschaft und weiter Teile der Gesellschaft kann von einer Liberalisierung des Staates keine Rede sein, im Gegenteil: Das 'Monitoring', wie die Partei heute managementmäßig ihre Kontrollarbeit nennt, wird fortlaufend professionalisiert und perfektioniert; jeder Schritt zu mehr Bürgerbeteiligung - solche Schritte gibt es durchaus - wird durch mehr staatliche Einbindung zugleich eingehegt. Und der Marxismus, von dem man in den letzten Jahrzehnten glauben konnte, dass er auch den Regierungsmanagern selbst eine eher peinliche, völlig bedeutungsentleerte Erblast sei, erlebt in den Führungsetagen eine überraschende Renaissance. "

Weitere Artikel: Tilmann Lahme referiert die nun in einem Buch versammelten Dokumente zur Überwachung des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer durch die Stasi. Noch interessanter aber ist ein mit abgedrucktes Dokument, in dem der westdeutsche Verfassungsschutz nach Mayers Übersiedlung "dringend" von der "Überlassung einer Professur" an ihn abrät. In der Glosse stellt Edo Reents mit hochgezogener Augenbraue fest, dass der Schriftsteller Rainald Goetz in seinem bei der Website der deutschen Vanity Fair beheimateten Weblog Goethe, "Facharbeiterficken" und die unflätige Beschimpfung von Ursula von der Leyen zusammenbringt. Hannes Hintermeier meldet, dass die Bayerische Staatsbibliothek sich als erste deutsche Einrichtung mit dem Buchdigitalisierungsprojekt von Google zusammentut. Alexandra Kemmerer hat einen Vortrag Nikolaus Lobkowiczs gehört, mit dem dieser zum Auftakt einer Reihe über katholische Denker an der Katholischen Akademie in München seinem Gegenstand, dem Nazi-Kronjuristen Carl Schmitt, jeden relevanten Bezug zum Katholizismus absprach. Scharf kritisiert der Jurist Christoph Möllers die Versuche von Politik und Gerichten in den USA, den Gefangenen von Guantanamo ihr Recht auf Überprüfung der Rechtmäßigkeit ihrer Haft abzusprechen.

Auf der Medien-Seite beklagt Michael Hanfeld ein Urteil, das die Veröffentlichung von Prominenten-Fotos untersagt, die nicht von "allgemeinem Interesse" sind - es handelt sich seiner Meinung nach um eine klare "Einschränkung der Pressefreiheit". Auf der letzten Seite porträtiert Wolfgang Sandner den Komponisten und Intendanten Udo Zimmermann. In einer Reportage berichtet Roland Preuß vom Schicksal einer afghanischen Familie in Deutschland: "Wie weit sind sie angekommen in dieser Welt von unablässigem Koalitionsstreit, Leistungsdruck und Nacktbadern am Baggersee? Sadaf meint: 'Besser gestritten als bombardiert', wie sie es aus Afghanistan kannte."

Besprochen werden ein Frankfurter Konzert von McCoy Tyner mit seinem Trio und Roy Haynes mit seinem Quartett, eine dem Bühnenbildner Heinrich Kilger gewidmete Ausstellung in Berlin, Berliner Konzerte unter Michael Gielen und Simon Rattle, die Laura-Owens-Retrospektive in Münster (mehr Bilder bei Google), Anna Teresa de Keersmaekers Steve-Reich-Choreografie, Jan Bosses Zürcher "Hamlet"-Inszenierung und Volker Schlöndorffs Film "Strajk".

Rezensionen gibt es zu Ingo Herrmanns "Knigge"-Biografie und dem Band "Die Wanne des Archimedes" mit erstmals ins Deutsche übersetzten Gedichten von Daniil Charms (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 07.03.2007

Christian Schlüter analysiert Köhlers Entscheidungsoptionen über das Gnadengesuch von Christian Klar und deren Implikationen und Konsequenzen und findet: "Der politische Bundespräsident ist somit zum ersten Mal mit einer politischen Entscheidung konfrontiert, die diesen Namen auch verdient. Dass ihm jetzt nicht nur von allen Seiten Ratschläge erteilt werden, sondern er nun auch unausweichlich mit seinen eigenen - politischen - Ansprüchen konfrontiert ist, mag ihm nicht gefallen, trägt aber zur Klärung eben dieser Ansprüche bei."

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin hat Volker Schlöndorffs neuen Film "Strajk - Die Heldin von Danzig" gesehen und schreibt über die historische Vorlage zur Titelfigur, Anna Walentynowicz. Christian Thomas informiert über den prominent initiierten Protest gegen den Chipperfield-Bau auf der Berliner Museumsinsel, der nun in einem Volksbegehren münden soll. Und in "Times mager" träumt Peter Michalzik angesichts der kulturellen Großprojekte in Dubai vom Morgenland.

Besprochen werden Bücher, darunter zwei Bände über eine Zukunft ohne Erdöl mit ganz unterschiedlichen Tonlagen und eine Biografie über Helmuth James von Moltke von Günter Brakelmann. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Welt, 07.03.2007

Wieland Freund meldet, dass die Bayerische Staatsbibliothek als erste deutsche mit Google Books kooperieren will und rund ein Neuntel seiner Bestände online geben will, darunter auch seltene Drucke in osteuropäischen und asiatischen Sprachen: "Dank der Google-Kooperation lässt sich München nun einmal mehr in einem Atemzug mit Harvard, Oxford oder Stanford nennen. Die Zweifler müssen deshalb nicht gleich verstummen. Grundsätzliche Vorbehalte gegen die Verzahnung privatwirtschaftlicher Interessen und öffentlicher Aufgaben in der sogenannten 'Private Public Partnership' kann man haben, Zweifel an der Halbwertszeit der neuen Speichermedien ebenso."

Weiteres: Der Historiker Leonid Luks erinnert an die kurze Geschichte der demokratischen Revolution in Russland vom Februar 1917, die Lenins Bolschewiken allerdings mit ihrem Oktoberputsch zerschlagen haben. Gerhard Gnauck berichtet, dass die polnische Regierung nun ein gemeinsames Ausstellungsprojekt zwischen der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand und der angesehenen Warschauer Forschungsstätte Karta torpediert. In der Ausstellung "Gesichter des Totalitarismus" gibt es auch einen Teil zur Vertreibung der Deutschen. Jochen Schmidt betrachtet skeptisch die Pläne Nordrhein-Westfalens, die einzelnen Ballettkompanien zu einer landesübergreifenden zusammenzufassen. Online gemeldet wird der Tod des Soziologen Jean Baudrillard.

Besprochen werden Emilio Estevez' Robert-Kennedy-Film "Bobby", Susanne Kippenbergers Buch über ihren Künstlerbruder Martin "Kippenberger" und Stings Konzerttournee durch Deutschland.

NZZ, 07.03.2007

Zum Tode Jean Baudrillards lauscht Jürgen Ritte noch einmal dem alten Klappern. Katharina Schmidt, einst Direktorin des Kunstmuseums Basel, schreibt zum Tod des Schweizer Museumsleiters Franz Meyer. Besprochen werden William Dalrymples bisher nur auf Englisch erschienenes Buch über den indischen Aufstand "The Last Moghul - The Fall of a Dynasty", ein Konzert des Schwedischen Kammerorchesters mit Thomas Dausgaard in Zürich, einige CDs in Kurznotizen sowie Kinder- und Jugendbücher (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 07.03.2007

Johan Schloemann kommentiert im Aufmacher die ziemlich sensationelle Meldung, dass die Bayerische Staatsbibliothek bei Google Book Search mitmacht. Damit ist nach spanischen Bibliotheken eine weitere bedeutende nicht-englischsprachige Bibliothek in das Projekt eingestiegen: "Der Direktor der Pariser Bibliotheque nationale, Jean-Noël Jeanneney, ist jetzt mit seinen flammenden kulturkämpferischen Appellen gegen Google zwischen Bayern und Katalonien isoliert. Denn wo wäre die 'gefährliche kulturelle Homogenisierung' durch die Amerikanisierung, die der Franzose warnend beschwört, wenn wir fortan aus München altgermanistische Studien des 19. Jahrhunderts, asiatische Spezialitäten und praktisch die gesamte urheberrechtsfreie deutsche Literatur, wenn wir aus Madrid alte Cervantes-Ausgaben herunterladen können? Jedenfalls schaut Paris, schauen auch Rom, Warschau, Kopenhagen, Göttingen und Berlin den traditionsbewussten Bayern nun verdutzt hinterher."

Eine ganze Seite ist den Plänen von Papst Benedikt zu einer Rückkehr zur lateinischen Messe gewidmet, eine Idee, die unter Künstlern und Intellektuellen einige Fürsprecher hat. Mit unterschiedlichen Argumenten, aber im Grundgestus durchweg positiv äußern sich Robert Spaemann, Eckhard Henscheid, Martin Mosebach, Harald Schmidt, Ulla Hahn und Hans Zender. Und Durs Grünbein schreibt: "Eine Messe ist die Gedächtnisfeier des Kreuzopfers. Sie sollte, soviel leuchtet mir ein, eine möglichst festliche, undurchschaubare Veranstaltung sein, mit einem Wort: numinos. Überzeugt hat sie mich eigentlich nur in den Formen der Orthodoxen Kirche. Der byzantinische Ritus mit seinem sonoren Prunk, seiner Patriarchenschwere und Unnahbarkeit, war in dieser Hinsicht das größte Erlebnis. Das Wenige, was ich in Russland davon zu sehen (und vor allem zu hören, zu riechen) bekam - die Weihrauchwölkchen, die tiefe Bassstimme des Vorsängers, die nach innen gewendeten Zeremonien des bärtigen Popen -, kam der unheilschwangeren Szene des Abendmahls näher als jede wortreiche Beschwörung."

Weitere Artikel: Britta Voss beschreibt einen Selbstversuch mit dem "übersexualisierten" Internet. Alexander Görlach weiß, dass nun auch amerikanische Dächer ökologisch sinnvoll umgestaltet und bepflanzt werden. Gerhard Persche informiert über die Wiener Suche nach einer neuen Staatsoperintendanz. Stefan Turowski weist auf die Deutschlandtournee der australischen Hardrockband Jet hin. Zu lesen ist schließlich ein kurzer Nachruf auf Jean Baudrillard.

Besprochen werden Emilio Estevez' Film "Bobby" über den Tag, an dem Robert Kennedy starb, eine Ausstellung mit Werken von Helene Schjerfbeck in der Hamburger Kunsthalle, Marc Beckers RAF-Stück "Terrorprogramm" im Oldenburgischen Staatstheater, und Bücher, darunter ein Buch eines israelischen Soldaten über den Libanonkrieg und der Roman "Schöne Verhältnisse" von Edward St. Aubyn. Und auf einer Seite über Kinder- und Jungendmedien geht es unter anderem um das Internetportal "Teen Second Life" und die Hörbuchreihe "Wissen für Kinder".