Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.03.2007. Im Perlentaucher erklärt Bassam Tibi sein Konzept eines Euro-Islam. In der Berliner Zeitung erklärt Maxim Biller: entweder die große Liebe oder tot umfallen. Die taz bewundert die genial-sparsamen Inszenierungen des Stadttheaters Wilhelmshaven. Die FR vernimmt den Tarzanschrei aller deutschen Identitätsdramatik im Nationaltheater Weimar. In der FAZ entlarvt Bogdan Musial den Soziologen Zygmunt Bauman als Stalinisten. Die SZ meint: Wenn Günter Grass mit der FAZ abrechnen will, sollte er es in Prosa tun.

Perlentaucher, 20.03.2007

Bassam Tibi erklärt im Perlentaucher sein Konzept eines Euro-Islam: "Europa hat auf der Basis seiner kulturellen Moderne die Aufklärung als 'Entzauberung der Welt' und in diesem Rahmen einen Werte-Universalismus hervorgebracht, der weder ethnisch noch religiös und somit inklusiv ist. Ich wiederhole, dass die angeführte Inklusivität darin besteht, offen für die Aufnahme anderer zu sein. Das ist kein akademisches Gerede im negativen Sinne, sondern eine zivilisatorische Realität, die ich als Muslim und Araber aus meinem eigenen Leben in Europa kenne. Die Inklusivität ist die europäische Leistung im Kontext der Migration. Die Leistung der Migranten könnte in dem Versuch bestehen, ihre Identität mit Europa und dem dazugehörigen kulturellen System in Einklang zu bringen. Der Euro-Islam ist eine Vision, die beansprucht, diese Leistung zu erbringen. Trotz vieler anderslautender Behauptungen ist die Europa-Idee nicht christlich, sie ist säkular und hat im Hellenismus ihre Quellen. Derselbe Hellenismus gehörte auf dem Höhepunkt der islamischen Zivilisation zu den Quellen des mittelalterlichen islamischen Rationalismus. Somit liegt eine Brücke vor.

FR, 20.03.2007

Nikolaus Merck hat sich im Nationaltheater Weimar die Uraufführung von Tine Rahel Völckers Stück "Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen" angesehen. "Selbstverständlich legen die jungen Schauspieler Paul Enke, Ina Piontek, Thomas Braungardt, Jonathan Loosli und Antje Trautmann das Grundproblem klar dar: wie wächst ein Ich, entwickelt sich 'Identität', hin und her gerissen zwischen Gesellschaftszwängen und eigenen Überzeugungen. Wenn sie gemeinsam um ihr Regal herum marschieren und rufen, immer lauter und drängender rufen: 'Bald bin ich tot und habe nichts geschafft', klingt mit Don Carlos' '23 Jahre, und nichts für die Unsterblichkeit getan' folgerichtig auch Schillers Tarzanschrei aller deutscher Identitätsdramatik im Ohr."

Weiteres: Mirja Rosenau unterhält sich mit Michael Neff, dem Chef der Frankfurter Fine Art Fair, über die weltweite Inflation der Kunstmessen. Elke Buhr schildert in einer Times mager den Ärger, den sich der Berliner Künstler David Mannstein mit seinem verfremdeten Zitat Brandt-Zitat "Willy komm ans Fenster" eingehandelt hat (die Erfurter Jury war begeistert). Christian Schlüter resigniert nach vier Jahren Irakkrieg angesichts europäischer Uneinigkeit und amerikanischer Unüberlegtheit. Hans-Jürgen Linke meldet sich von einem kleinen Zürcher Festival für den Jazzmusiker und Alte-Musik-Protagonisten Barry Guy.

NZZ, 20.03.2007

Samuel Herzog blättert durch das erste Documenta 12 Magazine, das die Besucher auf die Documenta 12, die am 16. Juni in Kassel eröffnet wird, vorbereiten will. Modernity? heißt das Heft und bietet viel "diskursives Grau", so Herzog, aber auch manch überraschende Geschichte. "Gao Minglu etwa liefert eine gescheite Analyse des Sonderfalls der chinesischen Avantgarde der 1980er Jahre und vergleicht diese mit westlichen Phänomenen der 1970er Jahre. Ruben Gallo erzählt die bizarre Story von El Buen Tono, Mexikos größtem Tabakunternehmen, das 1923 einen eigenen Radiosender ins Leben rief. Und Helena Mattsson und Sven-Olov Wallenstein analysieren den Sonderweg des schwedischen Modernismus."

Weiteres: Joachim Güntner war bei einer Podiumsveranstaltung in Berlin über die europäische Ignoranz gegenüber den Verbrechen in Darfur. Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des Barockbaumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach im Stadtmuseum Graz, die Aufführung Händl Klaus' Stück "Wilde" am Theater Basel und Bücher, darunter Martha Gellhorns Novellenband "Paare" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 20.03.2007

Im Interview mit Natascha Freundel spricht der Schriftsteller Maxim Biller über das ewige große Thema und sein neues Buch "Liebe heute": "Ich weiß nur, dass es wahnsinnig aufregend ist, auf die Liebe seines Lebens zu warten - und dass es meistens schief geht, wenn man glaubt, man habe sie endlich getroffen. Weil man sie dann natürlich doch nicht bekommt, jedenfalls nicht so, wie man sie sich vorgestellt hat; und wenn man sie bekommt, funktioniert die Beziehung ohnehin nicht... Ich kenne Leute, die haben sich eingerichtet in der kleinen Liebe und denen geht's noch viel dreckiger als denen, die versuchen, die große Liebe zu bekommen und immer wieder scheitern. Es ist überhaupt kein Spaß, sich damit abzufinden, dass es keine große Liebe gibt, das ist dann wie lebendig begraben zu werden. Wenn Menschen nicht beim Liebe machen Kinder machen würden, würde ich sagen, sollten sie immer nur unbedingt hysterisch der großen Liebe hinterherlaufen. Bis sie es schaffen - oder tot umfallen."

TAZ, 20.03.2007

Überrascht war Benno Schirrmeister vom Esprit, den er in der tiefsten Provinz, im Stadttheater Wilhelmshaven, vorgefunden hat. "Mit 5,5 Millionen Euro Jahresetat lässt sich kein Spitzenensemble aufbauen: Man setzt in Wilhelmshaven stark auf junge Darsteller, die sich erst noch frei spielen müssen. Außerdem hat man ältere Schauspieler rekrutiert, denen anderswo nichts mehr zugetraut wurde. Auf der Bühne gibt's genial-sparsame Lösungen: eine Wand mit fünf Drehtüren, eine einzeln demontierbare rote Sitzgruppe auf einer Kreisschiene und eine obere Etage für mystische Autoritäten - das passt, das reicht und schafft Spielräume ohne Ende. Regie führen Thirtysomethings, die sich für eine gewisse Zeit völlig verausgaben wollen."

Weiteres: Wolfgang Ulrich entdeckt im Streit darum, ob Wetterlagen "Maggi" heißen dürfen, mittelalterliche Züge. Wiebke Porombka lässt sich im Gespräch von Thomas Böhm über den Preis der Literaturhäuser aufklären, deren diesjährige Träger am Freitag auf der Leipziger Buchmesse bekannt gegeben werden. In der zweiten taz fragt sich Klaus Raab, ob der Auftritt der Band Kids on TV im Internetportal MySpace deshalb gelöscht wurde, weil die Gruppe schwul-lesbische Mitglieder hat.

Besprochen wird Tilmann Köhlers Inszenierung von Tine Rahel Völckers "diskursintensivem" Stück "Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen" in Weimar.

Und Tom.

Welt, 20.03.2007

Andrea Maria Schenkels Dorfkrimi "Tannöd" hat Daniel Kehlmanns "Vermessung der Welt" vom ersten Platz der Bestsellerlisten gestürzt, und auch Stephenie Meyers Vampirgeschichten laufen gut: Hendrik Werner macht sofort Mystery als neuen Trend und Grund zu großen Sorgen aus: Warum fliehen die Deutschen aus der Wirklichkeit in die Fantasy? Zum Frühlingsanfang erinnert Eckhard Fuhr an die Winter früherer Tage, die kleine Eiszeit etwa, und ihre kulturellen Prägungen. Uwe Schmitt berichtet, dass erst jetzt die Bilder publiziert werden, die die Fotografin Dorothea Lange von den im zweiten Weltkrieg internierten Japano-Amerikanern gemacht hat. In der Randglosse kommentiert Sven Felix Kellerhoff David Mannsteins Lapsus, für sein Willy-Brandt-Denkmal ein nur halbrichtiges Zitat benutzt zu haben.

Besprochen werden eine Aufführung von Mussorgskys "undramatischer, depressiv auswegloser" Oper "Chowanschtschina" an der Bayerischen Staatsoper und Ballette in Stuttgart.

SZ, 20.03.2007

In seinem demnächst erscheinenden Gedichtband "Dummer August" reitet Günter Grass Attacken gegen seine Kritiker und jene Zeitung "wo - in Frankfurt am Main -/ das Niederträchtige als das Mächtige / Hochgewinn zieht und trocknen Kot wirbelt". Thomas Steinfeld würde Lyrik und Abrechnung lieber auseinander halten. "Indem er sich - scheinbar - nach Innen wendet und sein Innerstes nach außen kehrt, indem er nur noch als lyrische Empfindsamkeit auftritt, an der jeder Einwand, alle Kritik, jedes Argument zuschanden geht, will er einen Standpunkt über allen anderen einnehmen. In Gestalt seiner Gedichte soll die Kunst siegen, soll sie das letzte Wort gegen die Zeitungen haben. Die weitaus angemessenere Form, nämlich die ruhige, in Prosa gefasste Reflexion, schlägt Günter Grass aus, oder sie steht ihm nicht zu Gebote."

Weitere Artikel: Inspiriert durch einen Artikel im New Yorker stellt Jörg Häntzschel die Chicago Poetry Foundation vor, deren Antiintellektualismus und finanzielle Macht Gegenstand einer Debatte ist. Die Jugendsprache ist mehr vom Arabischen, Russischen oder Türkischen beeinflusst als dem Englischen, bemerkt Marcus C. Schulte von Drach. Im Interview mit Andre Behr und Lars Reichardt erklärt der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, der sich jetzt in der russischen Opposition engagiert, wie man durch Besonnenheit auch gegen übermächtige Gegner a la Putin antreten kann. Irina Antonowa, die Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums, in dem gerade die Merowinger-Ausstellung läuft, hat öffentlich verkündet, dass Deutschland seine seit dem Zweiten Weltkrieg vermisste Kunst niemals zurückerhalten wird, wie Stefan Koldehoff meldet. Willi Winkler kolportiert, dass Chicagos letztes Schlachthaus abgerissen wird. In Spanien regt sich die katholische Kirche über Jam Montoyas Fotografien von unzüchtigem Gottespersonal auf, berichtet Javier Caceres. Frankreich möchte sechzehn der Festungsbauten, die der Architekt Sebastien le Prestre de Vauban zur Zeit Ludwigs XIV. errichtete, ins Weltkulturerbe aufnehmen lassen, weiß Johannes Willms. Claus Heinrich-Meyer präsentiert seine Erfindung eines "Darmwind-Verbrennungs-Motors", die er sich in einer "Zwischenzeit" ausgedacht hat.

Besprochen werden Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Modest Mussorgskis Oper "Chowanschtschina" mit Kent Nagano als Dirigent am Münchner Nationaltheater, die Aufführung von Franz Molnars "Liliom" in Essen und Helmut Kraussers "Afrika" in Oberhausen, und Bücher, darunter Doris Dörries Roman "Und was wird aus mir?" und Günther Rühles Geschichte des "Theaters in Deutschland 1887-1945 (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.03.2007

Der Historiker Bogdan Musial hat einen schwarzen Fleck auf der Weste Zygmunt Baumans entdeckt - und enthüllt die stalinistische Vergangenheit des weltberühmten Soziologen: "Tatsache ist, dass sich Bauman mehr als zwanzig Jahre lang für das kommunistische Gewaltregime in Polen stark engagierte, echte und vermeintliche Gegner des Stalinismus mit der Waffe in der Hand bekämpfte und sie verleumdete. Sein Wirken lässt sich kaum als die Jugendsünde eines durch die kommunistische Ideologie verführten und verwirrten Intellektuellen abtun. Und es verwundert sehr, dass Bauman, der so gerne moralisiert, seine eigenen Taten nicht reflektiert."

Weitere Artikel: Andreas Rossmann resümiert die nun beendete lit.Cologne: "Die Mischung macht's und diese niemandem mehr ein U für ein E vor, wird auf solche Unterscheidungen doch souverän gepfiffen." Julia Voss springt dem Tierschützer zur Seite, der angeblich das vom Boulevard ins Herz geschlossene Eisbärbaby Knut töten lassen will. In der Glosse kommentiert "igl" Martin Walsers ungewohnte Versöhnungsbereitschaft. Regina Mönch informiert über ein Gerichtsurteil, das die Nennung des Namens eines ehemaligen DDR-Grenzoffiziers in einem Buch erlaubt. Von einer dem Historiker Wilhelm Zimmermann, dem auch von Friedrich Engels geschätzten Verfasser des Klassikers "Der Bauernkrieg", gewidmeten Tagung berichtet Martin Otto.

Auf der DVD-Seite kommt der Regisseur Dominik Graf aus dem Schwärmen über Robin Hardys Film "The Wicker Man" von 1974 nicht mehr heraus. Außerdem werden unter anderem eine Box mit Filmen Derek Jarmans und die DVD von David Jacobsons Film "Down in the Valley" mit Edward Norton besprochen.

Für die letzte Seite ist Michael Fischer ins Provence-Dorf Sauve gefahren, wo der Underground-Comic-Zeichner Robert Crumb lebt - und gegen den Bau eines Supermarkts kämpft. Jürg Altwegg porträtiert den deutschen Mediziner Gerald Radziwill, der in Zürich nichts von der in Medien-Kampagnen behaupteten Deutschen-Feindlichkeit spürt.

Besprochen werden eine Göttinger Ausstellung zur Begründung der Klassischen Archäologie durch Christian Gottlob Heyne, CDs mit Aufnahmen des Pianisten Emil Gilels, Gregor Schneiders in Düsseldorf ausgestelltes neues Werk "Weisse Folter", die Frankfurter Uraufführung von Matthias Pintschers Cello-Stück "Reflections on Narcissus" und ein Buch, Joachim Zelters Roman "Schule der Arbeitslosen" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).