Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2007. In der FR beschreibt der iranische Reformer und Philosoph Abdolkarim Soroush die vernunftwidrigen Tücken von Revolutionen. Die Welt sieht das Niveau der seriösen Medien bezüglich Günter Grass auf neue Tiefstände sinken. In der SZ schildert der israelische Historiker Moshe Zimmerman das schwierige Verhältnis zwischen Polen und Israelis. In der Berliner Zeitung bewundert Hussain Al-Mozany den Zentralrat der Ex-Muslime für seinen Mut. Die NZZ lässt alte Veilchen wieder blühen - zum Beispiel im Gesicht von Gabriel Garcia Marquez, verpasst von Mario Vargas Llosa.

FR, 03.04.2007

Der iranische Reformer und Philosoph Abdolkarim Soroush schreibt in einem von resetdoc.org übernommenen Text über die drei Feinde der Vernunft - Offenbarung, Liebe und Revolution. "Die Vernunft der Revolution liegt vor allem in ihrer Ablehnung der alten Vernunft. Revolutionäre wissen, wogegen sie sind, aber sie sind meist weit davon entfernt zu wissen, wofür sie sind. In einer Revolution gibt es nur einen einzigen Maßstab für gut und böse: die Revolution selbst. Wenn etwas aber zu seinem eigenen Maßstab wird, ist die Sache schon unvernünftig geworden. Die Aufgabe vernünftiger Menschen in einer Revolution ist nicht, sich der Welle der Revolution entgegenzustellen. Das geht über jedermanns Fähigkeiten. Die Aufgabe der Vernünftigen ist es, die Zerstörung zu reduzieren."

Weiteres: Volker Mazassek resümiert das Wiesbadener goEast-Filmfestival, das mittlerweile im siebten Jahr mittel- und osteuropäische Filme präsentiert. Christian Holl ist die Hamburger Hafen City, deren Prunkstück die Elbphilharmonie werden zu soll, zu einseitig auf die obere Mittelschicht ausgelegt. Georg-Friedrich Kühn blickt zufrieden auf die Berliner "MaerzMusik" zurück. In einer Times mager sorgt sich Christian Thomas um Kopfhörer-Träger.

Eine Besprechung widmet sich der Ausstellung zu "Schlaf und Traum" im Dresdner Hygiene-Museum.

Wir verweisen außerdem auf Joschka Fischers Aufruf zur Intervention in Darfur: "Wir haben es in Khartum mit einer Regierung zu tun, die entweder nicht fähig oder nicht Willens ist, ihre eigenen Bürger vor Massengewalt und Gräueltaten zu schützen. Nach dem anerkannten Prinzip der 'Verantwortung zu schützen' ('Responsibility to protect'), das von den Staats- und Regierungschefs beim UN-Weltgipfel 2005 einstimmig verabschiedet wurde, geht die Verantwortung für den Schutz der Bevölkerung auf die internationale Gemeinschaft über."

Berliner Zeitung, 03.04.2007

Der Autor Hussain Al-Mozany macht deutlich, an welches Tabu die Exil-Iranerin Mina Ahadi mit der Gründung eines Zentralrats der Ex-Muslime rührt. Denn aus dem Islam kann man nicht austreten. Selbst Idi Amin soll erschrocken gewesen sein, als er sich von Muammar al-Gaddafi bekehren ließ ("'Was ist denn das für ein schrecklicher Glaube? Wenn man eintritt: Schwanz ab. Wenn man austritt: Kopf ab!"): "Im islamischen Klerus herrscht Übereinstimmung darüber, dass der Abtrünnige mit dem Tod bestraft werden muss... Nur im Vergleich hierzu scheint der Zentralrat der Ex-Muslime noch recht gut weg gekommen zu sein. Der Rat der Abtrünnigen will provozieren, zunächst aber hielt sich der Aufruhr unter Muslimen in Grenzen. Allerdings wurden von Beginn an Mitglieder des Rates mit Morddrohungen belegt. Die offiziellen Räte der Muslime schweigen bislang über diese; sie nehmen eine passive Haltung ein, die genauso verheerend ist wie die Grundhaltung islamischer Institutionen gegenüber islamistischen Terroristen. Kein einziger Terrorist wurde für ungläubig erklärt, nicht einmal Bin Laden oder Zawahiri oder Zarqawi."

NZZ, 03.04.2007

Kersten Knipp versüßt den Morgen mit bestem literaturhistorischem Klatsch. Warum haben sich die einst innig befreundeten Großschriftsteller Gabriel Garcia Marquez und Mario Vargas Llosa entzweit? Nun, die Szene spielt im Jahr 1976 und handelt von Vargas Llosas Frau Patricia, und Kersten Knipp zitiert die Nacherzählung von Garcia Marquez' Frau Mercedes. Man muss sich die Sache in Mexiko-Stadt vor einem Kino vorstellen: "Freudig habe ihr Mann den Freund begrüßen wollen, doch der empfing ihn mit ebenjenem Faustschlag, der den Autor von 'Hundert Jahre Einsamkeit' souverän zu Boden schickte. 'Wie kannst du es wagen, mich zu umarmen nach dem, was du mit Patricia in Barcelona getan hast', soll Vargas Llosa gerufen haben - um damit auch schon das letzte Wort in dieser Sache gesprochen zu haben. 'Überlassen wir die Antwort den Historikern', lautet seitdem seine Standardantwort auf alle Fragen nach den Ursachen der Rangelei." Hier ein jüngst veröffentlichtes Foto des lädierten Garcia Marquez.

Weitere Artikel: Andrea Köhler berichtet über iranische Proteste gen den Fantasy-Film "300" das die historische Schlacht bei den Thermopylen während der Perserkriege im Jahre 480 vor Christus zum Hintergrund hat. Michael Mayer schreibt zum Tod des Psychotherapeuten und Kommunikationswissenschaftlers Paul Watzlawick. Besprochen werden Mahler- und Mendelssohn-Konzerte unter Mariss Jansons und Robert King beim Lucerne-Festival und Bücher, darunter Jean-Philippe Toussaints Roman "Fliehen" (mehr hier) und Stanley Cavells Hauptwerk "Der Anspruch der Vernunft - Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie" (mehr hier).

TAZ, 03.04.2007

Ein anregendes Klima findet Dorothea Marcus auf dem F.I.N.D.-Theaterfestival mit jungen israelischen Dramatikern an der Berliner Schaubühne vor. "In Deutschland könnte man neidisch werden, wenn man hört, welche immense Bedeutung zeitgenössisches Theater in Israel hat. Klassiker werden so gut wie gar nicht gespielt, 80 Prozent der Stücke sind von zeitgenössischen Autoren, die Menschen gehen wie besessen ins Theater - bis zu 500 Vorstellungen gibt es von einer Produktion. 'Die Menschen brauchen das wie ein Lagerfeuer, um ihre Probleme psychologisch zu bearbeiten', sagt der Regisseur, Dramaturg und Übersetzer Abihail Milstein in perfektem Deutsch bei einer Diskussion zum Festival. Und die dritte Generation in Israel? 'Wir sind jetzt nicht mehr nur die Opfer, sondern auch die Henker - und müssen uns völlig neu definieren', bringt der Autor Shlomi Moshkovitz das Lebensgefühl seiner Generation auf den Punkt."

Auf der Meinungsseite kommt Micha Brumlik auf die Frage zurück, wann Kritik an Israel antisemtisch sei, und ob auch Kritik von Juden (wie etwa die Independent Jewish Voices) als solche zu werten sei. Brumlik ist hier eindeutig: "So, wie es frauenfeindliche Frauen oder schwulenfeindliche Homosexuelle gibt, kann es auch jüdische Antisemiten geben. Ob es sie gibt, ist eine empirische, keine grundsätzliche Frage." Aber er stellt auch fest: "Die Gereiztheit der 'innerjüdischen' Debatte dürfte sich vor allem daraus erklären, dass der Staat Israel durch die Entwicklung des iranischen Atomprogramms, begleitet von den Eliminationsdrohungen nicht nur Präsident Ahmadinedschads, derzeit der einzige Staat auf der Welt ist, der von einem atomaren Holocaust bedroht ist. Das mindestens wahrzunehmen fordert jede nüchterne politische Betrachtung, die mehr will, als wohlfeil und frei von allen Folgen universalistische Moral zu predigen."

Weiteres: Ronald Berg rüstet Denkmalschützer mit Argumenten gegen die stärker werdende Front der Rekonstrukteure. Helmut Höge sammelt Bärenmythen des östlichen Europas. Isolde Charim empfiehlt Jean Baudrillards "Das System der Dinge" zur erneuten Lektüre. Dass ausgerechnet das Interview mit Murat Kurnaz, für das angeblich 18.000 Euro geflossen sind, mit dem Lead-Award der Medienbranche ausgezeichnet wurde, lässt Oliver Gehrs in der zweiten taz einen Verfall der Sitten konstatieren. Im Medienteil fordert der Leiter der nordrhein-westfälischen Medienanstalt, Norbert Schneider, gegenüber Steffen Grimberg, dass die Anbieter von Radio und Fernsehen im Internet besser überwacht werden müssen.

Besprochen werden zwei von Laurent Chetouane inszenierte Theaterabende in den Berliner Sophiensaelen.

Und Tom.



Welt, 03.04.2007

Hannes Stein erinnert an den Trotzki-Biografen Isaac Deutscher, der heute hundert Jahre alt geworden wäre. Eckhard Fuhr ist die große deutsche Romantiker-Ausstellung in Brüssel zu europäisch und zu wenig deutsch. Hendrik Werner porträtiert die Berliner Krimi-Autorin Susanne Goga. Besprochen werden die Ausstellung "Schlaf und Traum" im Dresdner Hygiene-Museum, neue Aufnahmen mit Passionsmusik, Donizettis "Regimentstochter" in Wien, Shakespeares "Sturm" in Bielefeld.

Nachgetragen sei ein Verweis auf Eckard Fuhrs ungewöhnlich deutliche Kollegenschelte in Sachen Günter Grass und Medien, die wir in der gestrigen Feuilletonrundschau übersehen haben: "Im Falle Grass stimmte auf jeden Fall das intellektuelle Niveau nicht. Die Art und Weise, in der sich seriöse Blätter bei der Beschreibung und Kommentierung seiner Auftritte in Leipzig in Orgien persönlicher Herabsetzung ergingen, spottet jeder Beschreibung. Dass der Spiegel erwähnen zu müssen glaubte, dass Grass angeblich Tausend-Euro-Schuhe trug, ist in seiner erbärmlichen Verklemmtheit schon schwer zu ertragen." Auch die FAZ-Berichterstattung zu Grass auf der Leipziger Buchmesse spießt Fuhr noch einmal auf.

SZ, 03.04.2007

Junge Israelis machen immer stärker die Polen für den Holocaust verantwortlich, stellt der israelische Historiker Moshe Zimmermann anhand von deren Reiseberichten verblüfft fest. "Die häufigste Bezeichnung, die sich bei den Besuchern aus dem 'Heiligen Land' mit dem Wort Polen verbindet, ist 'verfluchtes, unreines Land', weil es 'der größte jüdische Friedhof der Welt' sei und der Ort der Vernichtungslager. Diese Beziehung zum polnischen Territorium führt zu einer pauschalisierten Einstellung gegenüber 'den' Polen und zur Aufhebung der Trennlinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart: So heißt es, dass die polnische Armee kampflos kapituliert habe, während sich Juden gegen die Nazis zur Wehr setzten. Was sonst soll sich ein Soldat aus Israel vorstellen, wenn in der für ihn vorbereiteten Zusammenfassung über die Geschichte Warschaus der polnische Aufstand im Herbst 1944 unerwähnt bleibt?"

Der Künstler Ai Weiwei erklärt Henrik Bork im Interview, warum er 1001 Chinesen zur documenta nach Kassel bringt. "Was mich an Kassel interessiert, ist, was dort mit einem 18-jährigen Mädchen passiert, das aus der Provinz Gansu im Nordwesten kommt, dort auf einem Feld Kartoffeln anbaut. Oder mit den Frauen einer Minderheit aus der entfernten Provinz Guangxi, die bisher nicht einmal eigene Namen hatten. Sie mussten sich welche geben lassen, für ihre Reisepässe. Sie entdecken gerade, dass ein Name zu mehr zu gebrauchen ist, als sich damit vom Ehemann rufen zu lassen. All dies wird gerade von einigen der besten Dokumentarfilmer und Schriftsteller unseres Landes dokumentiert. Es ist dieser Prozess, der mich am meisten interessiert. Am Schluss treffen wir uns dann alle zu einer großen Party in Kassel."

Weitere Artikel: Clemens Pornschlegel hält das apokalyptische Pamphlet von Maurice G. Dantec "American Black Box. Le Theatre des Operations 2002 - 2006", das den Vierten Weltkrieg heraufbeschwört, zwar nicht für akkurat, aber für beeindruckend. Dani Chiaretti fliegt für die Reihe "Megacitys" mit einem Luftschiff über Sao Paulo. Italienische Akustiker haben Kirchen nach ihren Klangeigenschaften untersucht und empfehlen für gregorianische Choräle gotische Häuser, weiß Carolin Pirich. In einer Zwischenzeit wundert sich Joachim Kaiser über die grimmige "Disproportion des Talents zum Leben", die sich in den Spätwerken Goethes, Bölls und Grass' ausdrückt. Im Medienteil meldet Nikolaus Piper, dass der amerikanische Immobilien-Investor Sam Zell die L.A. Times für 8,2 Milliarden Dollar gekauft hat.

Besprochen werden eine "fantasievolle" Ausstellung zu Schlaf und Traum im Dresdner Hygiene-Museum, eine Aufführung von Wagners "Parsifal" mit Kent Nagano am Dirigierpult und Peter Konwitschny im Regisseurstuhl am Münchner Nationaltheater, Bettina Oberlis Film "Herbstzeitlosen", das zweite Album von "Maximo Park", und Bücher, darunter Thankmar von Münchhausens "elegante" Geschichte von "Paris" sowie Gary Steyngarts Roman "Snack Daddys abenteuerliche Reise" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 03.04.2007

Zum zweihundertsten Jahrestag des Erscheinens von Hegels "Phänomenologie des Geistes" erklärt Christian Geyer, was verkehrt daran ist, alles Sein in Werden aufzulösen. In der Glosse sinniert Jürgen Kaube über Hierarchie- und Führungsfragen in der freien Wirtschaft. Richard Kämmerlings berichtet von einer Marbacher Tagung zu Literatur und Zeitgeschichte. Das Elternpaar Silvana und Andreas Rödder - sie Studienrätin, er Geschichtsprofessor - kritisiert die Familienpolitik Ursula von der Leyens: "In Wahrheit handelt es sich um eine illiberale Politik zur staatlichen Lenkung der Gesellschaft zugunsten eines bestimmten Modells von Familie." Arnold Bartetzky informiert über den Warschauer Streit um die geplante Rekonstruktion des Sächsischen Palais. Auf der letzten Seite porträtiert Andreas Kilb den in Hollywood reüssierenden deutschen Schauspieler Thomas Kretschmann ("King Kong"). Regina Mönch hat von ihrem Besuch den Eindruck mitgebracht, dass in der Bauhaus-Stadt Dessau manches "im Argen liegt".

Auf der DVD-Seite stellt Bert Rebhandel "La hora de los hornos" vor, Fernando Solanas "Klassiker des agitierenden Films". Außerdem gibt es empfehlende Hinweise auf drei italienische Thriller aus den Siebzigern, Raoul Walshs Südstaaten-Film "Weint um die Verdammten", das Anime "Utena", Opern-DVDs und zweimal späten Lubitsch.

Besprochen werden eine Leipziger Ausstellung, die den Einfluss des Malers Max Klinger vorführt, Jossi Wielers Münchner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Ulrike Maria Stuart", Inszenierungen der "Johannespassion" und von Gustave Charpentiers Oper "Louise" in Paris, Stefan Bachmanns Berliner Inszenierung von Paul Claudels "Die Gottlosen" (der Irene Bazinger den sofortigen Absturz in die "Irrelevanz" bescheinigt) und ein Buch, der Kriminalroman "Arrivederci amore, ciao" von Massimo Carlotto (dazu mehr in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).