Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.04.2007. In der Welt ist Zafer Senocak entsetzt über die Pogromstimmung in der islamischen Welt, wie sie sich im Mord an drei Bibelverlegern in der Türkei offenbart hat. In der NZZ warnt der algerische Schriftsteller Habib Tengour nach den Bombenattentaten in Algier seine Regierung vor weiteren "Märtyrern", wenn sie den jungen Leuten nicht mehr bietet als Sorge, Angst und Lebensüberdruss. In der taz sieht Mounir Azzaoui den Euro-Islam bereits in den neuen Moscheen verwirklicht. Die FR recherchiert über Tibet und wird von der chinesischen Polizei bespitzelt. Die SZ erkennt in Kalkutta die Sinnhaftigkeit ausländischer Kulturpolitik. Die FAZ kommentiert die jüngsten Gewaltexzesse der Polizei in Russland.

Welt, 20.04.2007

"Unduldsamkeit, Gewalt und Hass sind die Alltagsgefühle der islamischen Welt", schreibt bitter der Berliner Autor Zafer Senocak nach dem Mord an drei Bibelverlegern im türkischen Malatya. Eine Tragödie, die auch die säkulare Türkei erfasst: "Längst hat in der Türkei der Nationalismus jene emotionale Leere besetzt, die die Religion hinterlassen hat. Hie und da bildet er auch eine Allianz mit den kruden Resten eines Glaubens, der vor allem eins ist: fremdenfeindlich, menschenverachtend. Das ist der Ungeist, aus dem die entsetzlichen Verbrechen gegen Andersgläubige begangen werden. Mögen die Taten von Einzeltätern oder kleinen radikalen Gruppen begangen werden: Sie werden von einer Stimmung genährt und gestützt, die Breitenwirkung besitzt, einer Pogromstimmung, einer Folge verdrängter Schuld - eine moralische Katastrophe."

Weiteres: Hanns-Georg Rodek gibt einen Ausblick auf die Wettbewerbsbeiträge, die beim Filmfestival von Cannes zu sehen sein werden. Dankwart Guratzsch meldet, dass das Novalis-Viertel in Weißenfels gegen heftige Proteste abgerissen wird. Und Hans Stimmann schreibt zur Baugeschichte des vor fünfzig Jahren errichteten Berliner Hansaviertels, in dem er das genaue Gegenteil europäischer Stadtarchitektur sieht. Matthias Heine schreibt einen Nachruf auf die Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen, Marie Zimmermann, die sich das Leben genommen hat.

Besprochen werden eine Ausstellung zu Marie-Louise von Motesiczky im Wien Museum, eine Aufführung von Berlioz' "Fausts Verdammnis" in Dresden und Karin Rohrstocks Buch "Es wird gestorben, wo immer auch gelebt wird".

NZZ, 20.04.2007

Der algerische Schriftsteller Habib Tengour ist nicht zufrieden mit der Reaktion seiner Regierung auf die Bombenanschläge letzte Woche in Algier. "Den bösen Geist exorziert man nicht, indem man sich in Lobreden auf die segensreichen Auswirkungen der nationalen Versöhnung und die Weitsicht des Präsidenten ergeht, und auch nicht mit dem Bannspruch: 'Aber das ist doch nicht der wahre Islam!' Algerien befindet sich seit den Studentenrevolten im November 1986 im Zustand des Bürgerkriegs, und die Ereignisse der vergangenen Woche sind eine weitere Episode in dieser Krise. Die Fakten sind stur, und es ist besser, ihnen ins Gesicht zu sehen, als sie mit schönen Worten zu verschleiern. Warum behaupten, dass alles in bester Ordnung sei, dass die Algerier untereinander und mit sich selbst versöhnt seien - wenn der Alltag ihnen nichts anderes bietet als Sorge, Angst und Lebensüberdruss? Vor allem für die Jungen tut sich dort, wo die Zukunft liegen sollte, lediglich ein Abgrund auf. Ihre Lieder handeln von nichts anderem als der Flucht aus dieser Hölle. Da kann das den 'Märtyrern' verheißene Paradies durchaus eine wünschenswerte Option sein."

Dirk Pilz porträtiert mit großer Sympathie den Theaterregisseur Tilmann Köhler und seine fünf "Stammschauspieler". "Vor drei Jahren haben Köhler und die Seinen übrigens gemeinsam ein internes Selbstverständigungspapier verfasst. Darin steht: 'Das Rad neu erfinden! Wir werden mit unseren Versuchen selbst auf die Fresse fallen und uns nicht von Resignierten den Sturz aufzwingen lassen. Es gibt für Stücke kein Richtig und kein Falsch, es gibt nur ein Lebendig und ein Tot.'"

Weitere Artikel: Christian Broecking berichtet vom Niedergang der Avantgarde-Musik in New York: Wegen der enorm gestiegenen Mieten müssen immer mehr Clubs schließen. Frank Schäfer schreibt einen unsentimentalen, aber nicht unfreundlichen Artikel zu Iggy Pops Sechzigstem. Stefan Hentz stellt das Jubiläumsprojekt des Vienna Art Orchestra vor. Paul Jandl schreibt zum Tod von Marie Zimmermann, der Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen.

Besprochen werden die Architekturausstellung "Alvar Aalto through the eyes of Shigeru Ban" in der Londoner Barbican Art Gallery, eine Ausstellung mit Leon Spilliaerts Selbstporträts im Pariser Musee d'Orsay, eine CD von Money Mark und politische Bücher, darunter der - bisher nur auf Englisch erschienene - Band "Iraq in Fragments. The Occupation and Its Legacy" von Eric Herring und Glen Rangwala.

Auf der Medien- und Informatikseite stellt Stephan Russ-Mohl zwei Studien zur Qualitätssicherung in deutschen und schweizerischen Nachrichtenredaktionen vor. Knut Henkel berichtet über das gefährliche Leben kritischer Journalisten in Kolumbien. Es gibt einen Podcast zu einem Podiumsgespräch über die schöpferische und zerstörende Kraft von Computern und Internet im Arbeitsalltag. Set. stellt den neuen Video-Walkman vor, mit dem Sony "in der Gegenwart angelangt" sei. Und Mdb. ist überaus zufrieden mit dem neuen Videospiel "God of War 2": "Selbstverständlich dominiert blutrünstige Hack'n'Slash-Action, geprägt durch die Wahl der Waffen von Kratos - Kampfbeile, Schwerter und Speere - und das Ambiente der griechischen Mythologie, in der bekanntlich nicht zimperlich miteinander umgesprungen wird. Doch Jump'n'Run-Geschicklichkeits-Tests und Flugpartien auf Greifvögeln sowie graduell kniffligere Rätsel sorgen für abwechslungsreiche Herausforderungen auf dem Weg zum Olymp."

FR, 20.04.2007

Harald Maass, China-Korrespondent der FR, berichtet über die Unmöglichkeit, aus dem von China besetzten Tibet zu berichten. "Als wir am Morgen das Hotel in der Altstadt verlassen, läuft ein Mann in einem roten Jackett hinter uns her. Wir biegen in Seitenstraßen ein, wechseln die Richtung. Ein zweiter und ein dritter Mann verfolgen uns. Einer spricht in den Kragen seiner braunen Jacke. Nach ein paar Minuten wird uns klar, dass wir umringt sind von Geheimpolizisten. Sobald wir mit einem Tibeter reden, tritt kurz darauf einer der Männer auf ihn zu, um ihn auszuhorchen. Selbst im Restaurant versuchen die Spitzel, vom Nachbartisch unsere Gespräche abzuhören. Am nächsten Tag wird die Überwachung noch stärker. Wir überlegen, mit dem Bus nach Shigatse zu fahren. Kaum sitzen wir im Taxi, hält eine Polizeikontrolle unser Auto an."

Weiteres: Peter Michalzik schaut sich die Videos des Amokläufers von Blacksburg an, fühlt sich in seiner Sensationslust manipuliert und wünscht, NBC hätte das Material für sich behalten. Im Interview freut sich der Direktor des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, Udo Kittelmann, über die gemeinsam mit den Kunstmuseen Liechtenstein und St. Gallen erworbene Sammlung Ricke, die ab heute gezeigt wird. Harry Nutt hält die Kampagne "Nofretete geht auf Reisen" der Hamburger CulturCooperation für bestenfalls "vorauseilenden kulturellen Altruismus".

Bei der Ausstellung "Die Entdeckung der Kindheit" im Frankfurter Städel entdeckt Arno Widmann vor allem Anzügliches und Laszives.

Und noch ein Hinweis auf das Interview mit Jack Nicholson, das wir gestern nicht rechtzeitig gesehen haben: Nicholson spricht darin über seine Filme, Regisseurfreunde und die Filmindustrie in Amerika: "In Amerika hat sich der Filmbetrieb in eine unerfreuliche Richtung entwickelt. Es ist heute zum Beispiel schwierig geworden, ausländische Filme zu sehen, da sie sehr schlecht vertrieben werden. Früher waren sie weit verbreitet. Man fieberte neuen Filmen regelrecht entgegen und konnte quasi jedes Wochenende ein Meisterwerk erwarten von Regisseuren wie Stanley Kubrick, Mike Nichols oder Roman Polanski. Das war eine ganz besondere Zeit damals, in der sich Filmemacher von fremden Einflüssen inspirieren lassen konnten, und ich frage mich, warum das heute nicht mehr möglich ist. Es war schon erschreckend festzustellen, dass Nancy Meyers, die Regisseurin von 'Was das Herz begehrt', niemals Akira Kurosawas 'Die sieben Samurai' gesehen hat, aber zu ihrer Verteidigung muss ich sagen, dass solche Filme in den USA fast überhaupt nicht mehr gezeigt werden."

TAZ, 20.04.2007

Der Gründer des "Arbeitskreises Grüner Muslime" in Nordrhein-Westfalen, Mounir Azzaoui, glaubt im Interview mit Daniel Bax auf der Meinungsseite, dass es den Euro-Islam schon gibt. "Das kann man doch jetzt schon an Moschee-Neubauten sehen. Am Anfang gab es die importierte Moschee, die praktisch eine Kopie von Vorbildern aus der Heimat war. Mittlerweile gibt es die adaptierte Moschee, die Elemente aus beiden Kulturkreisen verbindet. Und bald wird es sicher auch die innovative Moschee geben, die ohne Minarett und Kuppel auskommt - auch wenn sich viele Muslime das noch schwer vorstellen können."

Im Feuilleton glaubt Claudia Wente schon, dass Raubkunst zurückgegeben werden muss, aber vielleicht nicht unbedingt die Nofretete. Auf eine finale Diskussion über den Deutschen Herbst hofft Jan Feddersen in der zweiten taz.

Besprechungen gibt es zu Opernaufführungen nach Texten von Shakespeare in Osnabrück sowie Wedekind und Pirandello in Brüssel, zu Schorsch Kameruns "hübsch komensurabler" Überprüfungsrevue "Der kleine Muck ganz unten. Die Welt zu Gast beim Feudeln" in der Berliner Volksbühne und dem neuen Album der Arctic Monkeys "Your Favourite Worst Nightmare".

Dann Tom.

SZ, 20.04.2007

Alex Rühle lässt sich im Goethe-Institut Kalkutta von der Sinnhaftigkeit ausländischer Kulturpolitik überzeugen. "Die Terrasse des Goethe-Instituts ist eine Art kulturelle Agora. Hier kehrt die ganze Stadt ein, in dem Gartencafe hat in den Siebzigern der Schauspieler Anjan Dutt seine ersten Stücke entworfen. Hier wurde die Bangla-Band Bhoomi gegründet, und man merkt am Kommen und Gehen der Gäste, welch dichtes, weit über die Kulturzirkel hinausgehendes Netzwerk das Institut über die Jahre geknüpft hat. Gerade lässt sich der Sozialtheoretiker, Mystiker und Stadtutopist Venkateswar Ramaswamy, der drüben in Howrah, in den muslimischen Slums, eine Schule betreibt, in einen Stuhl sinken, sieht, wie der deutsche Besucher seinen verzuckerten Tee in die Büsche kippt, und sagt mit sardonischem Lächeln: 'Pass auf, was du tust, wer zu viele Sünden begeht, wird zur Strafe in Kalkutta wiedergeboren.' 'Jetzt klingst Du wie Günter Grass', sagt Subramanian Raman. Raman hatte Grass seinerzeit die Wohnung besorgt, er arbeitet seit 1975 am Goethe-Institut."

Weiteres: Die Bundesregierung will es Stiftungsgründern leichter machen, wie Christoph Kappes informiert. "Statt wie bislang 307.000 Euro können sie nach dem Entwurf bald bis zu 750.000 Euro Gründungskapital absetzen." Die "echte, die römische Dekadenz" erblickt Jörg Häntzschel in den prunkvoll restaurierten Antiken-Sälen des Metropolitan-Museums in New York, ärgert sich aber über das Schweigen zur Raubkunst-Diskussion. Susanne Vahabzadeh freut sich, dass im Wettbewerb von Cannes dieses Jahr auch Fatih Akins "Auf der anderen Seite" läuft (hier das Programm). Dirk Peitz spricht mit dem einstigen Suede-Sänger Brett Anderson über dessen erstes Soloalbum. Und Christine Dössel schreibt zum Tod der Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen Marie Zimmermann. Christoph Schröder empfiehlt die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift Bella triste, ein Sonderheft zur deutschen Gegenwartslyrik.

Besprochen werden Robert Lepages Inszenierung von Igor Strawinskys Oper "The Rake's Progress" in Brüssel (Reinhard J. Brembeck bewundert die Beleuchtung, vermisst aber eine "in die Tiefe des Stücks vorstoßende Deutung"), Walt Beckers Altherren-Motorradrocker-Film "Born to be wild" und Bücher, darunter ein Reportagen- und ein Erzählband von Herman Bang (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 20.04.2007

Die Polizei prügelt, Journalisten werden ermordet - und Putin schweigt. Julia Voss resümiert anlässlich der jüngsten Gewaltexzesse der Polizei die Gegenwart russischer Demokratie: "Zu Gewalt, Terror und Mord in Russland hat Putin bisher geschwiegen, gleichgültig wie eindeutig der Aggressor feststand. Bei den Demonstrationen war es die russische Polizei, die zuschlug; die Mörder von einundzwanzig Journalisten in Russland sind unbekannt. Schuldig ist aber eine Regierung ohnehin, die stumm die Gewalteskalation im eigenen Land übergeht."

Weitere Artikel: Jürg Altwegg informiert über die Positionen französischer Juden im Wahlkampf. In der Glosse kommentiert Christian Geyer Wolfgang Schäubles nonchalante Haltung zur Unschuldsvermutung mit Verweisen auf Augustinus und Restaurantkritik. Katja Gelinski macht auf ein Urteil des obersten US-Gerichtshofs aufmerksam, das das Recht auf Abtreibung einschränkt. Vom Fortgang der Nofretete-Kampagne berichtet Heinrich Wefing. Timo John begrüßt Stuttgarts neue Domsingschule. Michael Althen war bei der Eröffnung des Restaurants "San Nicci" im Berliner Admiralspalast zugegen. Den Nachruf auf Marie Zimmermann, Leiterin der Wiener Festwochen, hat Gerhard Stadelmaier, den auf den Comic-Zeichner Brant Parker hat Patrick Bahners und den auf den linken Juristen Helmut Ridder Lorenz Jäger verfasst.

Auf der letzten Seite spricht Maria Emanuel Markgraf von Meißen Herzog zu Sachsen, Chef des Hauses Wettin, im Interview über Restitutionsansprüche seiner Familie. Karen Krüger porträtiert Holger Nollmann, den evangelischen Pfarrer von Istanbul. Paul Ingendaay informiert über den Verkauf der spanischen Stierkampfbibel zum Schleuderpreis.

Besprochen werden die Ausstellung "Entdeckung der Kindheit" im Frankfurter Städel, Keith Warners Brüsseler Inszenierung von Igor Strawinskys "The Rake's Progress" sowie seine Inszenierung von Hector Berlioz' "La damnation de Faust" in Dresden, eine Ausstellung mit Fotografien von Wolfgang Tillmans in Hannover, Sung Hyung-Chos Dokumentarfilm "Full Metal Village" und Bücher, darunter Urs Stähelis soziologische Analyse der Börse mit dem Titel "Spektakuläre Spekulation" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).