Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2007. Im Tagesspiegel erklärt der irakische Autor Abbas Khider, dass die Kultur der Gewalt im Irak weit zurückreicht. Die NZZ zitiert Geisteswissenschaftler, die Wikipedia nicht zitieren. In der FAZ erklärt die Unternehmensberaterin Anne von Loeben, warum es in deutschen Unternehmen so wenig weibliche Führungskräfte gibt. Die SZ begutachtet schon mal Peter Steins Wallenstein-Inszenierung, in der sich die Schauspieler allenfalls bei unklarer Aussprache entblößen müssen. Die Welt traut sumerischen Steintafeln eher als der Digitalisierung.

Tagesspiegel, 27.04.2007

Der in München lebende irakische Schriftsteller Abbas Khider weist in einem interessanten Text darauf hin, dass die irakische Gesellschaft seit Jahrzehnten militarisiert wurde: "Die tägliche Gewalt im Irak, die wir seit 2003 im Fernsehen sehen, ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Sie ist Teil eines langen Prozesses, der mit dem Irak-Iran-Krieg seinen Anfang nahm. 1980 beschloss die irakische Regierung, dass dieser Krieg nicht mehr nur an der Front stattfinden solle, sondern auch in den Schulen und auf den Straßen. Die Militarisierung des Lebens war das höchste Prinzip der Baath-Partei und ihres Führers. So wurde im Laufe der Jahre eine Kultur der Gewalt fest im Bewusstsein der irakischen Gesellschaft - und in ihrem Unterbewusstsein. Jeder Iraker musste den Umgang mit Waffen erlernen. Neben der regulären Armee gründete die Regierung eine 'Kinderarmee', eine 'Jugendarmee' und eine 'Volksarmee'... Während dieses und aller folgenden Kriege regierte im Irak die Baath-Ideologie, es gab öffentliche Hinrichtungen, Abschiebungen von Schiiten als 'unreiner irakischer Rasse', Verhaftungen politischer Gegner. Das Land kannte fast nur noch eine Farbe: Khaki, die Farbe des Militärs."

TAZ, 27.04.2007

Claudia Pinl knöpft sich in der zweiten taz das Deutsche Familiennetzwerk vor, eine Plattform für konservative Familienpolitik. "Eine scheinbar nüchterne Lobbyarbeit, wie andere Interessenverbände sie auch betreiben? Das 'Heidelberger Büro' teilt mit den übrigen im Netzwerk vertretenen Gruppen das konservative Ideal, wonach die Familie aus einem Ernährer-Mann, einer Hausfrau-Mutter und möglichst vielen Kindern besteht. Der christlich-fundamentalistische Dunstkreis ist bei diesem Thema nie weit. So taucht das sich säkular gebende 'Heidelberger Büro' auf einer von der evangelikalen 'Offensive Junger Christen' betriebenen Web-Site unter dem Stichwort "Bündnis Ehe und Familie" auf, in trauter Runde mit Gruppierungen wie 'Familien für Christus'. Aber auch die Männerrechtler vom 'Väteraufbruch für Kinder' sitzen mit in diesem Boot."

Weiteres: Susanne Lang war enttäuscht vom Nicht-Dialog des ehemaligen RAF-Mitglieds Peter-Jürgen Boock und des Sohns eines RAF-Opfers, Michael Buback, in der ARD. Im Feuilleton stärkt Dorothea Marcus der Initiative "Kultur macht reich" den Rücken, die gegen Kultureinsparungen in Freiburg protestiert. Und im Medienteil schildert Boris R. Rosenkranz die Hilflosigkeit deutscher Medienwächter bei ausländischen Satellitenprogrammen.

Besprochen werden das neue Album "Beyond" der alten Band Dinosaur Jr. und ein paar Electropop-Platten.

Schließlich Tom.

Welt, 27.04.2007

Hendrik Werner warnt davor, das kulturelle Gedächtnis digitalen Speichermedien zu überantworten. Deren Haltbarkeit ist - nicht nur im Vergleich zu sumerischen Steintafeln - äußerst begrenzt. Ungefähr alle drei Jahre müssten die Systeme auf neue Versionen umgestellt werden. Paradox sei, "dass papierne Bibliotheken eines Tages den Datenbestand für ihre digitalen Nachfahren sichern müssen, obwohl die Bücher doch zuvor zu verzichtbaren Scan-Gang-Bauernopfern erklärt wurden. Diese Ironie der Überlieferungsgeschichte wird Google, der kalifornische Vorreiter der Digitalisierungsoffensive, noch leidvoll zu spüren bekommen. Wenn nämlich alle Archive ihre konventionellen Bestände so rasch, fortschrittsgläubig und irreversibel entsorgen, wie manche Google verpflichteten Bibliotheken in den USA dies anstreben, fehlt es ihnen irgendwann an einem zuverlässigen Backup, dessen das poröse kulturelle Gedächtnis nun einmal bedarf."

Der amerikanische Physiker James Kakalios erklärt, wie und warum physikalische Gesetze meist ganz richtig in Superhelden-Comics angewandt werden, aber nicht immer. Das Problem ist die Energie: "Bedenken Sie, die Energie, die wir am Tag verbrauchen, kommt von unserem reichhaltigen Frühstück. Wenn Flash auf nur ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, verbraucht er 75 Milliarden Kilokalorien. Nach dem Energieerhaltungssatz müsste er vorher sehr viel essen. In diesem Fall etwa 150 Millionen Cheeseburger."

Weiteres: Eckhard Fuhr hofft sehr darauf, dass der Prähistoriker Hermann Parzinger als künftiger Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Avantgarde nicht zu kurz kommen lassen wird. Manuel Brug stellt den israelischen Choreografen Emanuel Gat vor und gibt in einem weiteren Text Auskunft über die Pläne von Ruhrtriennale und Wiener Festwochen. Johanna Merhof schwärmt von der kanadischen Sängerin Leslie Feist.

NZZ, 27.04.2007

Auf der Medienseite berichtet Dominik Landwehr von einem Basler Symposion, in dem sich Geisteswissenschaftler mit der konkurrierenden Wissensproduktion bei Wikipedia auseinandersetzten. Landwehr zitiert etwa die Hamburger Historikerin Maren Lorenz, deren Anspruch es sei, "kein gutes Haar" an der Internet-Enzyklopdie zu lassen, "auch wenn sie selber einräumte, von diesem Projekt fasziniert zu sein. Wikipedia ist für sie nicht zitierbar, da eine Informationsseite schon beim nächsten Mausklick verändert sein kann. Ihre wichtigste Kritik: Es gibt bei Wikipedia keine einheitlichen Qualitätskriterien. Standards einzuhalten, ist auch aus quantitativen Gründen bei über 500 neuen Einträgen pro Tag in der deutschen Ausgabe nicht möglich. Die Historikerin hat nach einigen Versuchen, selber Einträge zu verfassen, das Feld geräumt: 'Bei Meinungsverschiedenheiten, auch Edit-Wars genannt, gewinnt jener, der den längeren Atem hat.' Aus historischer Sicht, so die Referentin, dominiert eine sehr traditionelle, männliche Geschichtsauffassung, die politische und militärische Prozesse ins Zentrum rückt." (Übrigens setzt der Perlentaucher keinen Link mehr auf Wikipedia, hier der Grund.)

Außerdem auf der Medienseite: "ras" fordert in einem Kommentar zur Medienreaktion auf das Massaker in Blacksburg - und vor allem die Publikation der Mördervideos - eine Selbstverpflichtung von Medien und großen Internetadressen, solches Material künftig nicht zu zeigen, um sich nicht zum Spieball eines terroristischen Kalküls zu machen. Tilmann P. Gangloff resümiert eine Rede des RTL-Chefs Gerhard Zeiler bei der Midem in Cannes, in der dieser selbst im Zeitalter der Digitalisierung weiterhin überwältigende Chancen für sein Qualitätsmedium sah. Eine Reuters-Meldung berichtet über Streit unter den Gesellschaftern des Süddeutschen Verlags.

Für das Feuilleton resümiert Joachim Güntner eine Braunschweiger Tagung über die Geisteswissenschaften und die Wirtschaft im Rahmen des "Jahres der Geisteswissenschaften". Die Schriftstellerin Marica Bodrozic schickt einen kleinen Brief aus Taschkent. Besprochen werden der neue "Spider Man"-Film, eine Ausstellung mit Schweizer Zeichnungen im Kunstmuseum des Kantons Thurgau, eine Woyzeck-Inszenierung, die für die Kulturorganistaion Transhelvetia zu pädagogischen Zwecken durch die Schweizer Städte tourt, CDs der brasilianischen Sängerin Maria Bethania, Chuck Klostermans Heavy-Metal-Buch "Fargo Rock City" und Pop- und Klassik-CDs in Kurznotizen.

FR, 27.04.2007

Die ARD hat in ihrer Sendung "Das Opfer und der Terrorist" das Aufeinandertreffen von Michael Buback und Peter-Jürgen Boock vermasselt, ärgert sich Arno Widmann und gibt Michael Buback Recht, der Aufklärung für wichtiger hält als Reue: "Es gibt Beobachter, die sehen in Bubacks Versuch, Klarheit zu gewinnen über die Person des Mörders eine verdammenswerte 'Individualisierung des deutschen Terrorismus'. Die genaue Kenntnis des Tathergangs, die Frage wer geschossen hat, erscheinen als nebensächlich. Es genüge, von einer 'Mittäterschaft' auszugehen. Die Rechtslage ist so. Sie ist und war von Anfang an umstritten. Es ging, als die einschlägigen Paragraphen in den siebziger Jahren geschaffen oder verschärft wurden, erklärtermaßen darum, die Justiz von der Aufgabe der Aufklärung des spezifischen Beitrages eines jeden Beteiligten zu befreien. Das ist in einem beängstigenden Ausmaß gelungen. Dem Versuch der RAF, dem einzelnen Mitglied seine persönliche Identität zu nehmen, sie einzuschmelzen in die der straff geführten Organisation, begegnete der Rechtsstaat damit, dass er gerade nicht sich und seine Grundhaltung, die der individuellen Verantwortung also, stark machte, sondern die Mitglieder der RAF als das behandelte, zu dem ihre Führung sie erst hatte machen wollen: als eine Einheit."

Weiteres: Hans-Jürgen Linke begrüßt, dass der Bundestag darüber diskutiert, den Jazz als dritte Gattung neben E-Musik und Popmusik systematisch zu fördern. In einer Times mager räsoniert er über Männerschminke. Besprochen werden ein Symposium und eine Schau zur Stummfilmschauspielerin Asta Nielsen im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, neue Ausstellungen im Städel-Museum sowie die Ausstellung "Airs de Paris" im Pariser Centre Pompidou.

FAZ, 27.04.2007

Auf der letzten Seite erklärt die Unternehmensberaterin Anne von Loeben im Interview, warum es in Deutschland nur so wenige weibliche Führungskräfte gibt. Drei Hauptgründe nennt sie: mangelndes Selbstvertrauen bei den Frauen, das Fehlen eines Netzwerks und eines "'top level support'. Wir werden ab einer bestimmten Karrierestufe nicht mehr unterstützt. Wer sich durchgebissen hat, eine bestimmte Ebene erreicht hat - der wird plötzlich alleingelassen. Da bräuchten sie dann Mentoren, die ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Externe Beratung kann ich mir natürlich einkaufen, aber man braucht Ratgeber in den Unternehmen, in den entscheidenden Kreisen. Ohne solche Mentoren, das ist meine Erfahrung, ist es nicht zu schaffen. Und das ist wirklich verheerend." (Diese Interviews sind ja schön und gut, aber würden sie anders rum nicht mehr Erkenntnisgewinn bringen: Frau von Loeben befragt die Herren FAZ-Redakteure, wie es mit den weiblichen Führungskräften in dieser Zeitung bestellt ist.)

Weitere Artikel: Andreas Kilb und Heinrich Wefing möchten die Gemäldegalerie vom Kulturforum ins geplante neue Berliner Schloss verlegen. Neue Erkenntnisse fand Christian Geyer nicht in der "Täter-Opfer-Show" mit Peter-Jürgen Boock und Michael Buback, doch entwickelt er eine echte Aversion gegen die neuen Bilder "vom gealterten, sich in der psychologischen Selbstanalyse bizarr spiegelnden Täter einerseits; und die Bilder vom Opferangehörigen, der bis zur Selbstverleugnung um späte Aufklärung ringt, andererseits". Thomas Ehrsam stellt ein - auch gleich abgedrucktes - Gedicht Gottfried Benns auf die Fotografin Riess vor, das den Herausgebern aller Gesamtausgaben entging. In der Glosse macht Eberhard Rathgeb sich Gedanken über dicke Deutsche. Ernst Horst war auf einer Münchner Tagung, die die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit dem Blick des Historikers zu betrachten suchte. Einem Heidelberger Vortrag Hubert Burdas über die Bildmedien hat Edo Reents gelauscht. Unzufrieden zeigt sich Michael Gassmann mit der neuen, "unwirtlichen" Mercatorhalle in Duisburg. Mark Siemons informiert über ein Gesetz zur Regulierung des Internets in China. "hpr" gratuliert dem Maler Heijo Hangen zum Achtzigsten. Auf der letzten Seite porträtiert Heiko Behr die skandalumwitterte britische Soulsängerin Amy Winehouse.

Besprochen werden Robyn Orlins Pariser Tanztheater-Inszenierung von Georg Friedrich Händels "Ode pastorale" mit dem Titel "L'Allegro, il Penseroso ed il Moderato", die Ausstellung "Neue Welt" über amerikanische Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts im Bucerius Kunst Forum Hamburg, Birgit Möllers Debütfilm "Valerie" und Bücher, darunter die erste Biografie des bolivianischen Präsidenten Evo Morales und Doris Dörries neuer Roman "Und was wird aus mir?" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 27.04.2007

In der Kühlhalle einer Brauerei in Berlin-Neukölln probt Peter Stein derzeit Schillers kompletten Wallenstein. Gustav Seibt gibt ihm weniger Chancen bei der Kritik als bei einem "modernen", vom Regietheater unbeeindruckten Publikum. "Steins Metier-Regie, die Lösung immer neuer, vom Stoff vorgegebener szenischer Aufgaben, setzt den denkenden Schauspieler voraus. Ob Verse richtig intoniert werden, ist hier eine Sachfrage, ein Problem historischer Reflexion. Die oft belächelten Schillerschen Antithesen - 'Ich müsste / Die That vollbringen, weil ich sie gedacht' -, sie sind Denkhilfen für den Schauspieler und Aufmerksamkeitsstützen für den Zuschauer. Sie zu konturieren, ohne sie zu überziehen, darin besteht eine der vielen Aufgaben. Wenn die Schauspieler nicht gut sprechen, dann drohe er ihnen mit Regieeinfällen, sagt Peter Stein. 'Dann müsst ihr euren Monolog wichsend in einer Badewanne sprechen.'" Klaus Maria Brandauer wird alles tun, um das zu verhindern.

Weiteres: Sonja Zekri begrüßt die von Feridun Zaimoglu losgetretene Diskussion um die Aufnahme einer Kopftuch tragenden frommen Muslimin in die zweite Runde der Islamkonferenz als produktiv für die Standortbestimmung der deutschen Muslime. Zekri annonciert auch ein Förderprogramm für die russiche Sprache im Ausland. Franziska Augstein erlebt im brandenburgischen Genshagen Valery Giscard d'Estaing bei einer Diskussion mit Richard von Weizsäcker und Stefan Meller als schweigsamen und frankozentrischen Indianer. Alexander Kissler resümiert eine Tagung über Sterbehilfe im ehemaligen NS-Euthanasiezentrum Schloss Hartheim bei Linz. "g.s." hört Udo di Fabio zu, wie er in Berlin die erste "Rede für die Freiheit" der FDP hält. Christian Gerhaher spricht mit Egbert Tholl über seinen Bariton-Part in Brahms" "Deutschem Requiem" unter Christian Thielemann. Im Literaturteil begutachtet Lothar Müller die neue Ausgabe der jetzt zum Alpheus Verlag gewechselten Zeitzschrift Tumult, in der es um "Gesichtermoden" geht. Im Comicprojekt über die Kunst im öffentlichen Raum äußert sich heute das Zeichnerduo Rattelschneck.

Besprochen werden die "fesselnde" Aufführung der "Florentiner Intermedien 1589" unter Regisseur Nigel Lowery im Staatstheater Saarbrücken, die demokratisch organisierte brasilianische Popband +2 und ihr Album "Kassin +2", Alexander Adolphs Film "Die Hochstapler", eine Ausstellung über die französische Künstlerkolonie Barbizon im Wuppertaler Von der Heydt-Museum, und Bücher, darunter Männlichkeitsratgeber, fünf "Legendäre Lexika" des 19. Jahrhunderts auf DVD (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).