Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.05.2007. Die SZ fragt aus Anlass des G8-Gipfels: Welche Kosmetik ist tränengastauglich? Die FAZ geißelt die Heuchelei der Öffentlich-Rechtlichen in ihrer Berichterstattung über Doping im Radsport. Alfred Brendel gratuliert der Pianistin Katja Andy in NZZ und FAZ zum Hundertsten. Welt und FR studieren die Stasi-Akten Ryszard Kapuscinskis.Tagesspiegel und Berliner Zeitung recherchieren zu den Vorgängen um das Haus Suhrkamp.

Welt, 23.05.2007

Nach Andrzej Szczypiorski, Zbigniew Herbert und Zygmunt Bauman ist nun auch der große Reporter Ryszard Kapuscinski als Mitarbeiter des polnischen Geheimdienst geoutet worden, berichtet Gerhard Gnauck. Das polnische Newsweek-Magazin hat die Akte veröffentlicht: "Erhalten sind im wesentlichen Berichte aus den Jahren 1967-72, bis ins Intime reichende Charakterisierungen von Personen, drei Quittungen über Auslagen. Es scheint also Grund zur Hoffnung zu geben, dass aus der Arbeit des Agenten 'Vera Cruz' niemand persönlich Schaden erwachsen ist. Und in der anderen Schale der Waage: Wunderbare Bücher, die ohne die Nebenbeschäftigung des Autors vielleicht nie entstanden wären."

Regisseur Fatih Akin, dessen Film "Auf der anderen Seite" heute in Cannes läuft, erzählt von seinen bisherigen Erlebnissen auf dem Festival und kündigt an, seinen nächsten Film in Amerika spielen zu lassen: "Ein amerikanisches Abenteuer, darauf hätte ich Lust, dem Mythos mal auf den Grund zu gehen, wie Wenders. Nicht so wie Florian Henckel von Donnersmarck, der nach Beverly Hills zieht. Ich würde drüben drehen und dann wieder zurückkommen, nach Hamburg."

Weitere Artikel: Uta Baier stimmt auf den bevorstehenden "heißen Kunstsommer" ein, mit der Documenta in Kassel, der Biennale in Venedig, der Art Basel und den Skulptur Projekten in Münster. Michael Stürmer besichtigt die Walther-Rathenau-Gedenkstätte in dessen ehemaligen Schloss Freienwalde. Dankwart Guratzsch berichtet vom 24. Deutschen Städtetag. Siegfried Helm war beim Opernfestival in Glyndebourne. Wolfgang Lepenies erinnert an den Botaniker Carl von Linne, der vor dreihundert Jahren geboren wurde. Und Hendrik Werner gratuliert dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt zum Achtzigsten.

Auf den Forumsseiten ist die heftig kritisierte Rede Papst Bendedikts XVI. abgedruckt, in der er die Christianiserung der indianischen Bevölkerung Lateinamerikas als "ersehnt" bezeichnet: "Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbianischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur. Echte Kulturen sind weder verschlossen noch in einem bestimmten Augenblick der Geschichte erstarrt, sondern sie sind offen, mehr noch, sie suchen die Begegnung mit anderen Kulturen."

FR, 23.05.2007

Artur Becker informiert über die "schwierige Debatte", die in Polen nach Bekanntwerden der Zusammenarbeit des Journalisten und Autors Ryszard Kapuscinskis mit dem Geheimdienst der kommunistischen Regierung entbrannt ist. "Die beiden wichtigsten Blätter, nämlich die Rzeczpospolita und die Gazeta Wyborcza, geben sich große Mühe, Kapuscinski zu entlasten. Doch das ist nicht einfach. Krzysztof Gottesmann von der Rzeczpospolita begreift es nicht, warum Kapuscinski nach 1990 geschwiegen und nichts von seinen Kontakten zum Geheimdienst erzählt hat, und zwar öffentlich. Außerdem macht sich Gottesmann Gedanken darüber, was denn eigentlich die Kapuscinski entlastende Aussage der Geheimdienstakten bedeute, der Schriftsteller habe niemandem geschadet. Rein moralisch gesehen - eine berechtigte Frage."

Weiteres: Harry Nutt gratuliert Dieter Hildebrandt zum 80.Geburtstag. In Times mager kommentiert Ina Hartwig die "peinliche" Zahlungsunfähigkeit des "vermeintlichen" neuen Anteilseigners des Suhrkamp-Verlags Claus Grossner. Und Rudolf Walther berichtet über eine Berliner Großrazzia im Vorfeld des G-8-Gipfels, die es auf ein vier Jahre altes Buch abgesehen hatte.

Besprochen werden Nicolas Stemanns Inszenierung von Elfriede Jelineks "Über Tiere" am Deutschen Theater Berlin, Georg Friedrich Händels Oper Radamisto an der Hamburgischen Staatsoper, Inszenierungen von "Torquato Tasso", George Taboris neues Stück "Gesegnete Mahlzeit" und Oliver Bukowskis "Bowling alone" bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen sowie Bücher, darunter Christoph Heins Roman "Frau Paula Trousseau" und Texte und Reportagen des polnischen Grafen Antoni Sobanski aus dem Berlin der 30er Jahre (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

TAZ, 23.05.2007

Acht Piraten tun sich zusammen, um die britische Krone zu schlagen - für Tobias Rapp ist "Fluch der Karibik - Am Ende der Welt" ganz klar eine globale Gegenmachtfantasie. "Räuber bleiben die Gipfelteilnehmer natürlich, aber um der eigenen Verstrickung in die komplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse Herr zu werden, spaltet man sie vom Imperium ab, um sie zu Identifikationsobjekten machen und sie so gegen die Macht wenden zu können. Und schaut man sich die acht Piratenkapitäne einmal an, die sich zum Gipfel treffen - eine Chinesin, ein Franzose, ein Singapurer, ein Inder, ein Afrikaner, ein Südamerikaner, ein Türke und Johnny Depp (und dazu noch Keith Richards als Captain Teague, der Mann, der den aus dem ersten Teil bekannten Piratenkodex verwaltet) -: ist das nicht die Multitude, wie man sie aus der Globalisierungsgegnerfolklore kennt? Die Dritte Welt zusammen mit dem alten Europa plus Rock 'n' Roll?" (Soll das heißen, Angela Merkel ist Johnny Depp???)

Aus Cannes berichtet Cristina Nord über den Dokumentarfilm "Young Yakuza" des französischen Regisseurs Jean-Pierre Limosin, "Go Go Tales" von Abel Ferrara und Quentin Tarantinos Wettbewerbsfilm "Death Proof". Katrin Bettina Müller attestiert Nicolas Stemann, bei seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks "Über Tiere" am Deutschen Theater Berlin erneut "ein Händchen" für die Autorin bewiesen zu haben. Ekkehard Knörer resümiert eine Veranstaltung der Reihe "American Voices" am Potsdamer Einstein-Forum, in deren Rahmen die in Harvard lehrende Politologin Louise Richardson ihr neues Buch "What Terrorists Want" vorstellte.

Schließlich Tom.

NZZ, 23.05.2007

Alfred Brendel schickt einen liebevollen Geburtstagsgruß an die Pianistin Katja Andy, die heute in New York ihren 100. Geburtstag feiert: "Meine Bekanntschaft mit Katja Andy verdanke ich dem großen Pianisten Edwin Fischer. In dem letzten seiner Luzerner Meisterkurse 1958 saß eine uns Teilnehmern unbekannte kleine, mäuschenhafte Person mittleren Alters im Hintergrund. Nach mehreren Aufforderungen Fischers ('Kätchen, willst du nicht etwas spielen?') setzte sie sich an den Flügel und spielte unvergesslich Mozarts a-Moll-Rondo. Damit begann die ungetrübteste musikalische und persönliche Freundschaft meines Lebens."

Weitere Artikel: Martin Walder sah in Cannes Serienkiller-Filme der Brüder Coen, von Fincher und Tarantino: "Man lacht diesmal recht unbeschwert bei Tarantino. Generell aber zappeln wir heute im Kino einigermaßen hilflos in den Fragen nach Gewalt, Verrohung und ihrer Darstellbarkeit." Der Biochemiker Gottfried Schatz erzählt die Familienchronik zweier Mörder: Tuberkulose und Lepra. Erstere ist seit 1993 wieder auf dem Vormarsch, interessanter findet Schatz jedoch das Lepra-Bakterium, weil es die gut die Hälfte seines genetischen Erbes verkommen ließ und so einen "unverwechselbaren biologischen Charakter" entwickelte. Und Ulrich M. Schmid zeigt sich vollkommen unbeeindruckt von der Meldung der polnischen Newsweek, der Reporter Ryszard Kapuscinski sei Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes gewesen: "Wer Reiseprivilegien nutzen wollte, musste sich zur Zusammenarbeit mit den Organen bereit erklären."

Besprochen werden eine Ausstellung mit Werken von Nek Chand und Jivya Soma Mashe im Pariser Art-brut-Museum Halle St-Pierre und Bücher, darunter Glenn W. Mosts Geschichte des ungläubigen Thomas (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.05.2007

Michael Hanfeld geißelt im Feuilletonaufmacher die Heuchelei von ARD und ZDF, die mit naivem Augenaufschlag über Doping im Radsport berichten, als hätten sie selbst in diesem System keine Rolle gespielt: "Die Sender wollten den Radsport eben um jeden Preis, auch um den Preis der eigenen Glaubwürdigkeit; eine angemessene, distanzierte und kritische Berichterstattung zu diesem Sport hat es ein ganzes Jahrzehnt lang nicht gegeben. Der Drang, auszublenden, was dem Medienereignis Radsport schadet, führte schließlich so weit, dass Sportchefs vom Schlage eines Jürgen Emig beim Hessischen Rundfunk und eines Wilfried Mohren beim Mitteldeutschen Rundfunk ihr eigenes Mafiasystem errichteten."

Weitere Artikel: Michael Althen schreibt in der Cannes-Kolumne über Quentin Tarantinos Exploitation-Pastiche "Grindhouse". Alfred Brendel gratuliert der Pianistin und Lehrerin Katja Andy zum Hundertsten (hier sein längerer Artikel zum selben Anlass in der NZZ). Niklas Maak glossiert eine Präsentation der Documenta in einer Kreuzberger Buchhandlung, die so schlecht organisiert war, dass er nichts verstand. Jordan Mejias verfolgte eine New Yorker Lesung Don DeLillos aus seinen 9/11-Roman "Falling Man" (Auszug). Reiner Burger besucht eine Ausstellung russischer Gegenwartskunst in Dresden, die von sich reden machte, weil der russische Zoll einige Werke nicht ausreisen ließ - nun werden zum Zeichen des Protests kleine Farbausdrucke an die Stelle dieser Werke gehängt (auf der Website der Ausstellung werden sie leider nicht präsentiert). Edo Reents gratuliert dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt zum Achtzigsten. Regina Mönch schildert den Streit zwischen der Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue und dem Staatsanwalt Roman Reusch, der straffällige Jugendliche ihrer Meinung nach zu hart bestraft und nun wegen Äußerungen im Spiegel ein Disziplinarverfahren zu gewärtigen hat. Ulf von Rauchhaupt meldet den Fund eines altägyptischen Grabes. Der Rechtsprofessor Christoph Möllers schildert juristische Auseinandersetzungen um die Besetzung eines Richterpostens in Thüringen.

Auf der Medienseite empfiehlt Michael Hanfeld eine Dokumentation zur interessanten Frage, was der Aufsichtsratsvorsitzende Ferdinand Piech über die Korruptionsaffären bei VW wusste - heute Nacht im Ersten. Hanfeld meldet auch, dass das Auto von Bild-Chef Kai Diekmann in Brand gesetzt wurde. Und Jochen Hieber schreibt über die Autoren-Fußballmannschaft, als deren Star der Theaterautor Moritz Rinke gilt - sie wird von niemand Geringerem als Hans Meyer trainiert.

Für die letzte Seite besucht Claudia Bröll die Norland-Nanny-Akademie in Bath, in der die Superreichen dieser Welt ihre Kindermädchen rekrutieren. Jürgen Kaube verfolgte einen Berliner Vortrag des Chicagoer Juristen Cass Sunstein über Wesen und Unwesen der Demokratie. Und Wolfgang Schneider meldet, dass der Philosoph Peter Bieri, der als Romancier unter dem Namen Pascal Mercier Bestsellererfolge feiert, seinen vorzeitigen Abschied vom seinem Philosophielehrstuhl an der FU erklärt hat.

Besprochen werden der "Fluch der Karibik 3", Produktionen des Erlanger Figurentheaterfestivals und ein Auftritt der Electronikgruppe OMD in Stuttgart.

Weitere Medien, 23.05.2007

Berliner Zeitung und Tagesspiegel recherchieren weiter in der immer verwickelter und abstruser werdenden Causa Suhrkamp. Christian Esch hat versucht, mit Claus Grossner in Kontakt zu kommen, der vom Schweizer Erben Andreas Reinhart Verlagsanteile erworben haben will, aber nie das Geld gezahlt hat: "Grossner ist nicht zu erreichen, und in seinem Hamburger Büro ist nicht zu erfahren, welche Beweggründe er hat. Es liegt nahe, Zahlungsunfähigkeit zu vermuten.
Hans Barlach, der nun allein bei Suhrkamp einsteigt, gibt sich so zuversichtlich wie zuvor, auch wenn er über Grossners merkwürdiges Verstummen nicht froh ist. Der hätte ja nun zwei Monate Zeit gehabt, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen. In der Sache aber ändere sich nichts: Die Suhrkamp-Anteile, die vordem Reinhart gehörten, halte dann er allein."

Im Tagesspiegel schreibt Gerrit Bartels: Mit Claus Grossner verschwindet jedoch der lauteste und zwiespältigste Trommler aus dem Kampf um die Macht bei Suhrkamp. Ob er nun Vorwürfe gegen Ulla Unseld-Berkewicz richtete oder fürsorgliche Ratschläge für die Zukunft des Verlages erteilte, ob er Strategiepapiere entwarf oder Treffen mit Vertretern der Suhrkampkultur anberaumte, zu denen dann nie jemand kam: Grossner hielt das Soap-Niveau hoch und wusste immer, sich und seine Initiative "WWW-WissenWeltethosWeltzukunft" mit ins (Suhrkamp-) Gespräch zu bringen. Vor Grossner und vermutlich nicht zuletzt wegen ihm war im März schon Arnulf Conradi als verlegerischer Berater der Hamburger Minderheitengesellschafter ausgestiegen. So sind aus dem einstigen, seinerzeit gern auf Fotos posierenden Anti-Berkewicz-Quartett nur noch zwei übrig: Hans Barlach und Joachim Unseld, der im Besitz von zwanzig Prozent der Suhrkamp-Gruppe ist."

SZ, 23.05.2007

Jens Bisky hat sich unter den Globalisierungsgegnern umgetan und sich ihre Vorbereitungen auf den G-8-Gipfel näher angesehen. "Die Mehrzahl der linken Globalisierungskritiker will und wird nicht zum Schwert greifen. Das Äußerste heißt heute 'ziviler Ungehorsam'. Er wird in diesen Tagen geprobt. Am vergangenen Samstag trafen sich in Berlin Kreuzberg überwiegend junge Menschen zum Blockadetraining. Da war viel Nützliches zu lernen: Wie verständigt man sich unter Stress? Welche Kosmetik ist tränengastauglich? Wie lässt man sich wegtragen?"

Weitere Artikel: Lothar Müller führt uns anlässlich des 300. Geburtstags von Carl von Linne zu dessen Geburtsort Rashult in Schweden. Susan Vahabzadeh stellt Cannes-Beiträge von Quentin Tarantino, Julian Schnabel, Michael Winterbottom und Carlos Raygadas vor. Franziska Augstein gratuliert dem "staatstragenden Scheibenwischer" Dieter Hildebrandt zum Achtzigsten. Sabine Doering-Manteuffel informiert über die neugegründete Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Christopher Schmidt stellt Martin Kusej vor, der 2011 Nachfolger von Dieter Dorn am Bayerischen Staatsschauspiel wird. Marcus Jauer kommt in einem Prozessbericht noch einmal auf die Ohrenbleche am Berliner Hauptbahnhof zurück, deren sichernde Funktion die Bahn nun gerichtsnotorisch nicht gekannt haben muss.

Die Schallplattenseite widmet sich heute unvollendeten Kompositionen. Reinhard J. Brembeck sinniert über eine "manchmal unmögliche Leidenschaft fürs Ganze". Wolfgang Schreiber beschreibt Arnold Schönbergs Oper "Moses und Aron" als Beispiel dafür, dass auch "ein Torso das Ganze ergibt". In einem Interview meint der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke eingangs, dass Schubert bei seiner Unvollendeten wohl "einfach nicht mehr weiter wusste". Eine kleine Liste führt schließlich eine Auswahl von "Meistern der Leerstellen" auf.

Besprochen werden Bernhard Langs Oper "Der Alte vom Berge" in Schwetzingen und Bücher, darunter eine Sammlung von Zeitungsbeiträgen Umberto Ecos "Im Krebsgang voran" und ein neuer Roman von Luigi Malerba "Römische Gespenster" (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)