04.06.2007. Weltpolitisches Feuilleton, heute. In der FR kritisiert der chinesische Soziologe Wang Hui die Sicherheitsfixierung in Heiligendamm - ist der Westen auf dem Weg zum asiatischen Autoritarismus? In der NZZ beklagt der israelische Schriftsteller Meir Shalev "vierzig Jahre der Unaufrichtigkeit und Ungerechtigkeit" nach dem Sieg im Sechstagekrieg. In der SZ beschreibt Navid Kermani, wie er bei einer Diskussion zur Kölner Moschee eine Kölner Botschaft empfing. In der taz begrüßt der kamerunische Schriftsteller Patrice Nganang den Haager Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten Liberias Charles Taylor. In der FAZ schreibt Ingo Schulze den Nachruf auf Wolfgang Hilbig.
TAZ, 04.06.2007
Heute beginnt in Den Haag der Prozess gegen den früheren Präsidenten Liberias,
Charles Taylor, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen angeklagt wurde."Und schon warnen manche vor einer '
juristischen Rekolonisierung'
Afrikas. Was für eine Afrikanität ist das, die über dem Recht stehen will?",
fragt der kamerunische
Schriftsteller Patrice Nganang auf der Meinungsseite. "Da er am Ende dieser langen Liste von Torheit und bewusster afrikanischer Blindheit vor dem Wesen der Gerechtigkeit steht, ist der Prozess gegen Charles Taylor vor dem Sondertribunal für Sierra Leone in Den Haag ein historisches Ereignis.
Endlich einmal steht ein ehemaliger afrikanischer Präsident vor Gericht in einem rechtsstaatlichen Verfahren, und er soll öffentlich zu seinen Taten Stellung beziehen! Wer hätte das je für möglich gehalten?"
Gabriele Goettle hat für ihre Reportage die in München lebende
Übersetzerin Dr.
Na Ding besucht. Na Ding erinnert sich, wie sie
1973 als 17-Jährige an einer chinesischen Mittelschule Deutsch unterrichtete: "Als ich da anfing, fast zum Ende der
Kulturrevolution, da war es nicht mehr so schlimm, aber er war immer noch spürbar, der Gegensatz: Wir, die Lehrer, sind
stinkende Intellektuelle, und sie sind die revolutionären Schüler. Sie wollten sich nichts sagen lassen. Unser Direktor von der Schule hat zu uns jungen Lehrern gesagt: 'Solange ihr während des Unterrichts noch in den Klassenzimmern bleibt und nicht weglauft, ist das schon ein höchster Sieg.' Damals war ich auch Lehrerin für Deutsch, und meine Schüler haben gefragt: 'Sagen Sie uns mal, wozu lernen wir Deutsch? Wenn wir
Englisch lernen würden, könnten wir wenigstens den Werbetext auf der Dose
lesen. Aber Deutsch? Zeit unseres Lebens werden wir nicht einem einzigen Deutschen begegnen!'"
Susanne Messmer
schreibt den Nachruf auf
Wolfgang Hilbig.
Schließlich
Tom.
Tagesspiegel, 04.06.2007
Nun ist der
Rentenstreit auch im deutschen Theater angekommen. Der
Tagesspiegel zitiert aus einem offenen Brief des Schauspielers
Gert Voss an
Claus Peymann, der sich über Voss' angebliche "Mordspension." in Wien
geärgert hatte: "Sie aber beziehen eine
Burgtheaterpension, eine
deutsche Rente und eine Intendantengage von über
200.000 Euro, mit der Sie in einem Interview geprahlt haben, dass Sie der teuerste Intendant in Berlin sind. Ich habe eine deutsche Rente von 800 Euro und eine österreichische Rente von 1300 Euro und bin gezwungen, lebenslang zu arbeiten."
Am Sonntag
erinnerte Marie-Luise Knott an den Schlagerkomponisten
Robert Gilbert, dem wir unsterbliche Lieder wie "Oh, mein Papa" verdanken - ihm war eine
Veranstaltung im Jüdischen Museum Berlin gewidmet.
FR, 04.06.2007
Der chinesische Soziologe
Wang Hui sieht im
Interview eine gewisse Annäherung chinesischer und westlicher Positionen. "Gerade in der jüngsten Zeit hat es zahlreiche Proteste in ländlichen Gebieten gegeben, die Anlass zu der Hoffnung geben, dass
China eine offenere, transparentere Gesellschaft werden kann. Es gibt jedenfalls Hinweise darauf, dass man die intellektuellen Debatten aufmerksamer verfolgt als früher. Umgekehrt kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die
westliche Welt immer stärker an einen asiatischen Autoritarismus orientiert und dabei die Errungenschaften der alten Demokratien aufs Spiel setzt. Die
Sicherheitsfixierung in Heiligendamm scheint zumindest ein Indiz dafür zu sein."
Weitere Artikel: Stefan Keim
kommentiert die Verleihung des
Mülheimer Dramatikerpreises an die Gruppe
Rimini Protokoll: "mutig und richtig". In Times mager
findet Elke Buhr die Aktion des Künstlers
Gregor Schneider, der in Berlin sein Publikum stundenlang Schlange stehen ließ - das war dann das Kunstwerk - alles andere als witzig. Christoph Schröder
schreibt den Nachruf auf den Schriftsteller
Wolfgang Hilbig, der am Samstag gestorben ist.
Welt, 04.06.2007
Eckhard Fuhr
kommt erleichtert von der Berliner Veranstaltung
"Perspektive Europa" zurück, bei der sich glücklicherweise Imre Kertesz, Wole Soyinka, Carlos Fuentes, Andrzej Stasiuk, Ilija Trojanow und Mario Adorf auf
keine europäische Identität einigen konnten. "Debatten über europäische Identität können zu keinem Ergebnis führen. Überflüssig sind sie nicht. Sie bringen das Europäische an Europa zum Vorschein. Das Europäische ist die Vielstimmigkeit. Man kann sich die kulturelle Einheit des Kontinents nicht anders vorstellen denn als fortwährendes Gewusel, Gesumme und Stimmenwirrwarr. Immer wieder ruft jemand laut zur Ordnung, zum Aufraffen und zum Sammeln um die
heiligen Grundwerte, doch dann findet sich sofort jemand, der das europäische Pathos mit europäischer Lust an der Selbstironie
nachäfft und zerkleinert."
Weiteres: Matthias Kamann
gesteht zu, dass die Erfinder des
Nierenshow-Fake es wirklich einfach hatten, alle Welt an der Nase rumzuführen: "Man fühlt sich an die Gen-Hysterie nach der Jahrtausendwende erinnert. Da wurde auch alles geglaubt:
Raelianer klonen Babys, unser Genom ist entzifferbar wie eine Handschrift, Bio-Roboter regieren die Welt." Hendrik Werner
schreibt zum 125. Geburtstag des bayrischen Komikers und Spötters
Karl Valentin. Uwe Wittstock
schreibt zum Tod des Schriftstellers
Wolfgang Hilbig.
Besprochen werden eine
Ausstellung im
Bayerischen Nationalmuseum, in der das
Cleveland Museum of Art seine Sammlung
Alter Meister zeigt,
Claus Guths "Luisa-Miller"-
Inszenierung und DVDs, darunter eine Box mit Genre-Filmen
Fritz Langs.
NZZ, 04.06.2007
Vierzig Jahre nach dem Sechstagekrieg
zeigt sich für den
Schriftsteller Meir Shalev, dass sich der Sieg gegen Israel gewendet hat: "Vierzig Jahre nach der Euphorie zeigt er uns, dass nicht nur die Palästinenser den Preis für Besatzung und Siedlungspolitik erlegen müssen, sondern auch wir, die Israeli. Vierzig Jahre - und Israel wird sich entscheiden müssen, was wichtiger ist: das Leben seiner Kinder oder die Gräber seiner Vorfahren. Vierzig Jahre, in denen die Armee primär damit beschäftigt war, Kontrollposten zu bemannen, Verdächtige zu verhaften, Feinde zu eliminieren und Siedlungen zu schützen, ließen die
Arroganz des Militärs ins Kraut schießen und seine Kompetenz verkümmern - das hat der Krieg gegen Libanon im vergangenen Sommer erwiesen. Vierzig Jahre der
Unaufrichtigkeit und Ungerechtigkeit im Umgang mit den besetzten Gebieten haben die Korruption auch in unsere eigene Politik und Gesellschaft einsickern lassen."
Der Schriftsteller
Ignacio Martinez de Pison spricht im Interview mit Jeannette Villachica über den Spanischen Bürgerkrieg und sein neues Buch
"Der Tod des Übersetzers", in dem es um den Übersetzer und Republikaner
Jose Robles Pazos geht, der auf Befehl des sowjetischen Geheimdienst liquidiert wurde.
John Dos Passos war mit ihm befreundet. "Der Fall Robles trug dazu bei, dass Dos Passos seine einstigen Weggefährten als Freunde verlor. Dos Passos hörte nicht auf, alle möglichen Leute, darunter
Hemingway, zu löchern, ob sie nicht etwas über Robles' Verschwinden wüssten. Aber die
Einschüchterungsversuche der Sowjets funktionierten; alle schwiegen. Die unterschiedlichen Positionen von Hemingway beziehungsweise Dos Passos wurden immer offensichtlicher. Hemingway schien der republikanischen Propaganda zu folgen: Es ist am wichtigsten, den Krieg zu gewinnen. Dos Passos wollte nur noch Robles' Verschwinden aufklären; der Sieg im Bürgerkrieg wurde für ihn zweitrangig.
Weiteres: Roman Bucheli
schreibt den Nachruf auf
Schriftsteller Wolfgang Hilbig. Andrea Köhler
stellt Al Gores neues Buch
"The Assault on Reason", in dem Gore sehr scharf gegen Bushs
Politik der Angst angeht.
SZ, 04.06.2007
Begeistert berichtet
Navid Kermani von einer Bürgeranhörung zur umstrittenen
Kölner Moschee und verteidigt die deutschen "Gutmenschen" gegen "ehemals linke
konvertierte Kulturkämpfer, die nicht mehr darüber reden möchten, gestern den Irakkrieg unterstützt zu haben, und dafür heute im Namen der westlichen Freiheit O-Töne
wie von Rechtsradikalen auf die Titelseiten spucken". Es kam bei der Anhörung geradezu zu Verbrüderungen: "Eine Frau mit Kopftuch, orientalisch die Gesichtszüge, rheinisch ihr Tonfall, rief begeistert, dass Köln seinen Weltruf als Zentrum der Lesben und Schwulen bewahren (unterm Weltruf macht's in Köln keiner), aber sich zusätzlich als Zentrum der religiösen Vielfalt etablieren möge. Bei der Aussicht schnalzt man doch mit der Zunge: Zentrum der sexuellen und religiösen Vielfalt. Das wäre, nein, das ist sie schon, die
Kölner Botschaft."
Weitere Artikel: Thomas Urban berichtet, dass das
polnische Familienministerium Goethe, Kafka und Dostojewski aus dem Schulunterricht verbannen will - zum Glück hagelt es im Land
Proteste. Helmut Böttiger schreibt den Nachruf auf den
Romancier Wolfgang Hilbig. Tobias Moorstedt
schreibt in den Nachrichten aus dem Netz über
Justin Kan, der sich eine Kamera vor den Kopf gebunden hat und sein Leben im Netz
öffentlich macht. Jörg Häntzschel besucht die große
Richard-Serra-Retro in
New York und hat den Künstler auch zum Interview gebeten. Henning Klüver hat
Jean-Jacques Aillagon vom Palazzo Grassi getroffen, der über Pläne für sein Haus und für ein neues Zentrum für Gegenwartskunst ebenfalls in Venedig spricht. Helmut Böttiger resümiert das prominent besetzte Symposion "
Perspektive Europa" in
Berlin.
Besprochen werden eine Choreografie
Angelin Preljocajs (unter anderem nach Stockhausen) bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen, neue
DVDs,
Verdis "Simon Boccanegra" in Frankfurt,
Michael Schorrs Film
"Schröders wunderbare Welt" und Bücher, darunter
Wojciech Kuczoks Roman
"Dreckskerl".
Auf der Medienseite enthüllt Hans Leyendecker, dass
Angela Merkel mit
Bob Geldof gemauschelt hat, damit dieser einen mäßigenden Einfluss auf
Herbert Grönemeyer ausübt.
FAZ, 04.06.2007
Der
Schriftsteller Ingo Schulze verabschiedet sich von seinem verstorbenen
Kollegen Wolfgang Hilbig: "Es ist immer beides bei ihm, das Grauen und die Schönheit. Er, der 1941 geborene Werkzeugmacher und Heizer aus Meuselwitz, dessen Vater in Stalingrad fiel, dessen Großvater Analphabet war, der als Arbeiter und Schriftsteller
die DDR beim Wort nahm und nolens volens damit ad absurdum führte, stochert
im Bodensatz seiner Seele und unserer Gesellschaft. Um das überhaupt auszuhalten, muss er davon in einer Sprache Bericht geben, die die deutschen Romantiker und (am ehesten wohl)
William Faulkner als Bezugspunkte hat und die eine Magie entwickelt, der sich wohl niemand entziehen kann, der nicht harthörig ist."
Weitere Artikel: Zwischen Spott und Klage schwankt Jörg Thomann in seinem Bericht über die
reaktionären Unterrichtsreformen des polnischen Bildungsministers. In einem kurzen Interview verteidigt Kameramann
Michael Ballhaus die heftig attackierte Fassbinder-Nachlassverwalterin
Juliane Lorenz: "Sie hat Fassbinders Erbe in einer Weise an die Öffentlichkeit gebracht, wie es außer ihr niemand vermocht hätte." In der Glosse
kommentiert Gerhard Stadelmaier den öffentlich ausgetragenen Streit - um existierende und behauptete Rentenansprüche - zwischen
Claus Peymann und Gert Voss. Andreas Rossmann beklagt sich über die Verleihung des Dramatikerpreises an die
Gruppe Rimini Protokoll für "Karl Marx: Das Kapital. Erster Band": Da man es nicht nachspielen könne, sei es auch
kein Drama und habe schon deshalb den Preis keinesfalls verdient.
Dirk Schümer war dabei als Daniel Barenboim und Stephane Lissner das neue Programm der
Mailänder Scala vorstellten. Wolfgang Sandner gratuliert der Performance-Künstlerin und
Musikerin Laurie Anderson zum Sechzigsten. Andreas Kilb hat die Berliner Konferenz "
Perspektive Europa" besucht und berichtet außerdem noch des langen und breiten vom Streit um den
Babelsberger Schlosspark. In St. Petersburg hat Kerstin Holm
Günter Grass lesen hören. Beate Tröger hat in einer Nacht in
Frankfurt Liebeslyrik gelauscht. Tilmann Lahme freut sich über den Erfolg der vom S. Fischer Verlag erstellten Website
thomasmann.de.
Besprochen werden
Jan Bosses Berliner "Endspiel"-Inszenierung (ein "
einziger Geistesblitz" ist leider, befindet Irene Bazinger, zu wenig), die Ausstellung "King of Fashion", mit der das New Yorker
Metropolitan Museum den Modemacher
Paul Poiret ehrt, Angelin Preljocajs Choreografie von
Karlheinz Stockhausens "Sonntags-Abschied", ein Duisburger Konzert mit
Martha Argerich und Bücher, darunter
Ulrich Becks neues Buch "Weltrisikogesellschaft" und
Gijs van Hensbergens "Guernica"-Studie (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).