Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.06.2007. In der FR rechnet der Schriftsteller Wojciech Kuczok mit der "Vierten Republik" der Gebrüder Kaczynski in Polen ab. Die Welt berichtet über Polen in der Wehrmacht. Die NZZ findet die Skulptur-Projekte in Münster manchmal geradezu witzig. Außerdem untersucht der Islamwissenschaftler Stefan Rosiny die Ursachen des Konflikts zwischen Hamas und Fatah. Im Tagesspiegel fragt der Literaturkritiker Hubert Winkels, warum der heutigen Kritik der Furor fehlt. In der SZ porträtiert Navid Kermani den oppositionellen iranischen Ajatollah Borudscherdi. Allein die Zeit regt sich über die neuen Morddrohungen gegen Salman Rushdie auf.

FR, 19.06.2007

In einem für die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter bestimmten Essay rechnet der Schriftsteller Wojciech Kuczok mit der "Vierten Republik" der Gebrüder Kaczynski in Polen ab. Selbst der Humor ist von der "Krankheit" betroffen. "Während in einem totalitären Staat Witze in einem Akt höchster Vertraulichkeit geflüstert, ja, einander mit Hingabe anvertraut werden, mit Zuversicht, dass der Witz den eingeweihten Kreis nicht verlassen würde, reißt man sie in Polen unter dem Sternzeichen der Zwillinge noch mit lauter, wenn auch gedämpfter Stimme. Der Mangel an Humor und der Überschuss an falsch verstandenem Ehrgefühl ergeben einen patriotischen Horror: Ein ehrliches Lächeln wird allmählich von allen als zynisches Grinsen wahrgenommen."

Weiteres: Rudolf Walther weiß, dass Friedrich Dürrenmatt schon vor 26 Jahren sein kurzzeitiges Interesse an der rechtsradikalen "Eidgenössischen Sammlung" zugegeben hat. "Meine Unsportlichkeit übertraf meine Weltanschauung, und ich gab auf." Christian Schlüter kommentiert in einer Times mager Oskar Lafontaines Aufruf zum Generalstreik.

Besprochen werden Christian Stückls Inszenierung von Stefan Zweigs "Jeremias" in Oberammergau, ein Konzert von Peter Gabriel in Mainz und Ausstellungen zum Maler Christopher Paudiß in Freising und zum Bildhauer Georg Petel in München.

Tagesspiegel, 19.06.2007

Der Literaturkritiker und Alfred-Kerr-Preisträger Hubert Winkels fragt sich, warum der heutigen Kritik der Furor fehlt, den Alfred Kerr noch hatte: " Warum geht uns der weltbewegende, ekstatisch-grandiose, größenwahnsinnige Anspruch der Kritik heute ab? Warum sind wir bescheiden und vernünftig und bedienen unser Publikum und nehmen uns selbst zurück? Gegenfrage: Für was hätten wir denn mit dem Einsatz aller Mittel zu kämpfen? Gegen wen hätte man - wie der Davidsbündler Kerr - seine Steine mit aller Kraft zu schleudern? Welche ästhetischen Inszenierungen wären mit der politischen Macht derart verkoppelt, dass sich ethische und ästhetische Auflehnung wie von selbst verbänden? Was geht uns triftig, schmerzlich wirklich an - außer wir uns selbst?"
Stichwörter: Kerr, Alfred, Winkels, Hubert

NZZ, 19.06.2007

Arbeiten von 33 Künstlern hat Samuel Herzog beim "Skulptur Projekte Münster" gesehen - "und im Unterschied zur Documenta oder zur Biennale von Venedig, wo es in diesem Jahr nichts zu lachen gibt, ist der Parcours an der Münsterschen Aa manchmal geradezu witzig", verspricht er. Die klug zusammengestellte Ausstellung antworte auch auf die Problematik von Kunst im öffentlichen Raum, die Gefahr laufe, zur bloßen Dekoration zu verkommen. "Oft rettet sich die Kunst deshalb in die Unsichtbarkeit, reduziert sich auf flüchtige Gesten oder heckt Konzepte aus, mit denen sich eine Beteiligung von Anwohnern erwirken lässt - ein Versuch, der eigenen Arbeit Relevanz zu geben, der allerdings oft zu recht unappetitlichen Instrumentalisierungen führt. Bei allen Unterschieden in der Qualität der einzelnen Arbeiten macht die Münstersche Veranstaltung doch deutlich, dass man den öffentlichen Raum dennoch auch heute noch erfolgreich mit Kunst bespielen kann."

Der Islamwissenschaftler Stefan Rosiny untersucht die Ursachen des Konflikts zwischen der Hamas und der Fatah. Die USA und Europa, die die Hamas-Regierung boykottieren, seien nicht ganz unschuldig an dem Dilemma. "Nicht nur politisch, sondern auch militärisch beteiligte sich die Fatah am Boykott der Hamas-Regierung - die seit dem Mekka-Abkommen im Februar 2007 gegründete gemeinsame Regierung änderte daran nur wenig. Die mit Fatah-Gefolgsleuten durchsetzten Sicherheitskräfte verweigerten der gewählten Regierung den Gehorsam und wurden dadurch faktisch zu nichtstaatlichen Milizen. In den letzten Wochen wurde zudem publik, dass die USA und Israel den Umbau der Präsidentengarde von Mahmud Abbas zur Elitetruppe finanzieren und diese mit Waffen versorgen. Möglicherweise griff die Hamas deshalb jetzt an und entmachtete die Fatah im Gazastreifen, um ihrer eigenen Entwaffnung durch eine militärisch gestärkte Fatah zuvorzukommen."

Besprochen werden die Eröffnung der "Schubertiade" in Schwarzenberg, ein Auftritt der Sächsischen Staatskapelle Dresden bei den Zürcher Festspielen und Bücher, darunter Derek Walcotts Lyrikband "Der verlorene Sohn" und Oliver Matuscheks Stefan-Zweig-Biografie (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Zeit, 19.06.2007

Die neuen Morddrohungen gegen Salman Rushdie werden von den Feuilletons noch mehr oder weniger mit Schweigen quittiert. Jörg Lau zitiert in seinem Zeit-Blog Äußerungen des pakistanischen Religionsministers, der Rushdie eine Bombe an den Hals wünscht, falls sich die britische Regierung nicht für den kürzlich verliehenen Sir-Titel entschuldigt, und auch Äußerungen des Muslim Council of Britain - und er kommentiert: "Es wird Zeit, dass entweder die Briten oder die Europäische Union offiziell etwas zu diesen unglaublichen Vorgängen sagt... Islamische Organisationen in Europa - die im Fall des MCB dummerweise jahrelang von der Regierung als Dialogpartner gepäppelt wurden - hetzen unisono mit Iran und Pakistan gegen einen europäischen Intellektuellen. Wenn wir uns das bieten lassen, machen wir uns zum Gespött der Welt."

Welt, 19.06.2007

Die Wadenbeißer der Kaczynski-Brüder haben den liberalen polnischen Politiker Donald Tusk im letzten Wahlkampf mit Hinweis auf die Vergangenheit seines Großvaters angegriffen, der kurze Zeit in der Wehrmacht gedient hat. Gerhard Gnauck berichtet über ein Buch ("Dziadek w Wehrmachcie") der Journalistin Barbara Szczepula, die herausgefunden hat, dass dies für Zehntausende von Polen galt: "Der wahlkampfbedingte Griff nach den Wehrmachtsarchivalien, der damals in Polen teils Zustimmung, teils empörte Ablehnung hervorrief, hat dieses Buch entstehen lassen. Teils sind es die Großväter selbst, die noch erzählen können, teils ihre Nachfahren. Kaum jemand aus der Großvätergeneration war bereit, unter vollem Namen aufzutreten. 'Vor dem Krieg wurden wir geschlagen, weil wir Polen waren', so beschreibt Tusks Mutter ihre Erlebnisse, 'heute schlagen sie uns, weil wir Deutsche sind.' Oder Deutsche zu sein scheinen, müsste man hinzufügen. In Danzig und der weiteren Umgebung, welche die Deutschen Westpreußen und die Polen Danziger Pommern nennen, war nichts schwarz-weiß und vieles komplizierter als anderswo."

Weitere Artikel: Marion Leske schlendert übe die Münsteraner Skulptur-Projekte. Gemeldet wird, dass Günter Grass die "merkwürdigen Zwillinge" Lech und Jaroslaw Kaczynski für ihre EU-Blockade angegriffen hat. Matthias Heine glossiert einen Streit in Oberammergau um die Spielzeiten für das Passionsspektakel. Thomas Lindeman unterhält sich mit der Videospieldesignerin Jane Jensen, die Spiele für Frauen und Alte entwickelt. Manuel Brug schreibt einen Nachruf auf den Musikkritiker Ulrich Schreiber. Eine ganze Seite ist aus Anlass der Entscheidung für Andreas Mecks Soldatendenkmalentwurf dem Gedenken für gefallene Söhne und Töchter diverser Vaterländer gewidmet. Und Hannes Stein gratuliert Andre Glucksmann zum Siebzigsten.

Besprochen werden CDs mit Placido Domingo und Christoph Marthalers Inszenierung der "Traviata" in Paris.

Im Forum macht sich Mariam Lau Gedanken über den neuen Konservatismus in Europa.

TAZ, 19.06.2007

In Nordrhein-Westfalen erobern die Alten die Bühne. Hans-Christoph Zimmermann vermutet nicht nur künstlerische, sondern auch handfeste wirtschaftliche Gründe. "Natürlich hilft der Kampf um den senioralen 'Silbersee' bei der Kompensation des Besucherrückgangs im Theater. Das Marktpotenzial der bald in Rente gehenden, finanzstarken und gebildeten Babyboomer-Generation (ab 1955) ist für Kulturinstitutionen nicht zu unterschätzen. Doch bei den Bühnen zeigt sich hier auch ein neuer emphatischer Begriff von 'Stadttheater'. 'Wir sind draufgekommen', sagt Essens Schauspielintendant Anselm Weber im Gespräch, 'weil wir uns mit der Region und der Stadt ständig beschäftigen.' Die 'Liebe'-Produktion ist Teil eines Stadterkundungsprojekts mit dem Titel 'GlaubeLiebeHoffnung', bei dessen Konzeption man bald auf das Thema Überalterung gestoßen sei. So sagt eine 2006 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte Studie Essen für 2020 eine Schrumpfung um 6,3 Prozent und ein Medienalter von 47,3 Jahren voraus."

Weitere Artikel: Wolfgang Ullrich findet Nico Stehrs Theorie über die Moralisierung der Märkte höchst interessant. Tobias Rapp schwärmt vom Festival für elektronische Musik "sonar", das in Barcelona abgehalten wurde. In der neuen Lettre erfährt Alexander Cammann von Karl Schlögel einiges über Moskau im Jahr 1937.

Besprochen wird die Uraufführung der Inszenierung "Angst" von Peter und Harriet Meinings alias norton.commander.productions, die die Zuschauer im Staatsschauspiel Dresden in Krankenhausbetten erlebten.

Und Tom.

SZ, 19.06.2007

Im Iran wird dem konservativen und oppositionellen Ajatollah Borudscherdi der Prozesss gemacht, berichtet Navid Kermani (Homepage). Nun sei die Todesstrafe beantragt worden. "Mit seinem Bart, der tief ins Gesicht reicht, sieht Borudscherdi aus, wie sich der Westen Hassprediger oder Terroristenführer vorstellt, auch im Tonfall, der Wut. Er ist kein eloquenter Intellektueller wie der Philosoph Abdolkarim Sorusch, kein wohlgekleideter Moderater wie der ehemalige Staatspräsident Chatami. Das Antlitz des Islams, das er verkörpert, ist nicht adretter als das seiner Gegner, die ihn umbringen wollen. Borudscherdi ist der Islam von nebenan, in gesellschaftlichen Fragen meist konservativ bis hin zum Reaktionären, patriarchalisch, aber eben auch säkular und dezidiert gewaltfrei. Es gibt ihn noch immer, nach beinahe 30 Jahren politischer Umerziehung in den Theologischen Hochschulen des Landes." Hier ein Video von einem misslungenen Verhaftungsversuch Borudscherdis.

"Bravo und Hosianna" ruft Christopher Schmidt, nachdem er Christian Stückls erfolgreiche Wiederbelebung von Stefan Zweigs "Jeremias" auf dem regendurchtränkten Oberammergauer Kofel gesehen hat. Stückl, der 2010 auch die Passionsspiele wieder inszeniert, "ist den Massenchoreografien der frühen Theatermoderne verpflichtet und der strengen zeitlosen Stilisierung; ein legitimer Nachfolger Max Reinhardts, so metiersicher staffelt er die Hundertschaften."

Weitere Artikel: Dieter Hoffmann-Axthelm regt in einem gekürzt abgedruckten Beitrag für die Zeitschrift Ästhetik & Kommunikation an, in der Denkmalpflege doch auch den Verfall zuzulassen. Gemeldet wird, dass Günter Grass der polnischen Regierung in Sachen EU eine "Blockadepolitik" vorgeworfen hat. In einer Zwischenzeit treibt sich Hermann Unterstöger auf der Thomas-Mann-Seite des Fischer Verlags herum. Helmut Mauro gratuliert dem Dirigenten Gerhard Schmidt-Gaden zum Siebzigsten. Ebenso alt wird der französische Philosoph Andre Glucksmann, ihm überreicht Joseph Hanimann Glückwünsche.

Besprochen werden Thomas Dannemanns Doppelinszenierung von Rainer Werner Fassbinders "Warum läuft Herr R. Amok?" und Thomas Braschs "Vor den Vätern sterben die Söhne" im Depot des Stuttgarter Schauspiels, eine Aufführung des Doppelalbums "Daydream Nation" durch Sonic Youth in Barcelona, eine Ausstellung mit Bildern von Helmut Newton, Larry Clark und Ralph Gibson in der Newton Foundation Berlin, und Bücher, darunter Ralph Giordanos Autobiografie "Erinnerungen eines Davongekommenen.", sowie Colson Whiteheads Roman "Apex" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 19.06.2007

In der Leitglosse bedauert Andreas Kilb, dass bei der Wochenendveranstaltung "Die Macht der Sprache" in der Berliner Akademie der Künste wenig rumkam. Edo Reents war dabei, als in Lübeck eine Neuausgabe von Thomas Manns "Doktor Faustus" vorgestellt wurde - und erklärt, warum der Roman jetzt und immerdar von so großer Bedeutung ist. Ein Stockholmer Tagung, auf der Alternsforscher über das Altern sprachen, hat Christian Schwägerl besucht. Lisa Nienhaus war auf der fränkischen Jakobsweg-Teststrecke zwischen Würzburg und Rothenburg ob der Tauber unterwegs. Joseph Hanimann porträtiert den hoch gelehrten Philologen Jean Bollack, der jetzt in Osnabrück die Ehrendoktorwürde erhielt. Tobias Döring gratuliert dem Autor Salman Rushdie zum Sechzigsten, Jürg Altwegg dem Philosophen und Publizisten Andre Glucksmann zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Richard-Serra-Ausstellung im New Yorker Museum of Modern Art, eine CD mit Musik des Komponisten Isang Yun, die Uraufführung der Schiller-Oper "Fiesque" von Edouard Lalo, Christian Stückls Inszenierung von Stefan Zweigs "Jeremias" in Oberammergau, eine Ausstellung mit Fotografien Wolfram Hahns im Museum c/o Berlin und Literarisches, nämlich die Romantrilogie "Die Zugereisten" des slowenischen Autors Lojze Kovacic (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).