22.06.2007. In der FAZ macht Marina Litwinenko, die Witwe des ermordeten Ex-KGB-Offiziers, Wladimir Putin für den Mord verantwortlich. In der FR fordert Adam Krzeminski eine europäische Öffentlichkeit. Die SZ staunt über das heutige Theater: Der Regisseur wird zum Autor und der Autor zum Medium. Außerdem hofft hier der bulgarische Autor Vladimir Zarev, dass sein Land mit der EU nun endlich vom Chaos der Nachwendezeit erlöst werde.
FR, 22.06.2007
Die
FR dokumentiert die
Eröffnungsrede Adam Krzeminskis zum Prager Kongress "Let's Talk European", der von
signandsight.com, dem englischsprachigen Dienst des
Perlentauchers initiiert wurde. Der polnische Publizist fordert eine europäische Öffentlichkeit: "Momentan stehen die
nationalen Interessen im politischen Diskurs der Europäer im Vordergrund. Und es gibt immer noch nicht genug Träger der europäischen Öffentlichkeit. Der britische Pressemogul Maxwell stellte nach neun Jahren
The European ein, eine Zeitung, die als Forum für den europäischen geistigen Austausch gedacht war. Die europäische Demokratie spielt sich in hohem Maße innerhalb der Nationalstaaten ab und nicht in der kontinentalen Dimension. Auch der betuliche Fernsehsender
Euro-News schafft keine europäische Öffentlichkeit. Eine europäische Föderation wird es aber ohne ein
europäisches Bewusstsein nicht geben."
Der palästinensische Journalist
Daoud Kuttab macht die Islamisten, vor allem aber die
Israelis für das Chaos in den palästinensischen Gebieten verantwortlich. Denn Herren ihres Schicksals seien die Palästinenser immer noch nicht. "Manche Palästinenser plädieren heute für die Beendigung der Farce einer
palästinensischen Eigenständigkeit. Diese Position, öffentlich vertreten von Dr.
Ali Jirbawi von der Birzeit Universität, sieht vor, alle Macht und Verantwortung den Israelis zu übergeben und alle Zwischenlösungen abzulehnen, um so Israel zu zwingen, entweder die Verantwortung für die Sicherung und wirtschaftliche Versorgung der besetzten Gebiete zu übernehmen oder einem endgültigen Abkommen zuzustimmen, in dem Israel den Palästinensern volle Eigenständigkeit und territoriale Integrität zusichert."
Weitere Artikel: Der polnische Historiker
Robert Zurek beklagt den "Paternalismus" der deutschen Medien und der Öffentlichkeit gegenüber seinem Heimatland. Arno Widmann
gefällt Ai Weiweis Souveränitätsverzicht zugunsten der Natur in Kassel durchaus. Ulrike Rechel
plaudert mit der Popsängerin
Tori Amos. Tom Mustroph
kolportiert, dass drei Berliner Aktionskünstler, die Geldscheine mit
Schwefelsäure beträufeln, nun Besuch von der Polizei bekamen.
Veröffentlicht wird ein Unterstützungsbrief deutscher Schriftsteller für
Salman Rushdie. Christian Schlüter
nutzt die Times mager nebenan, um ebenfalls eine Lanze für Rushdie zu brechen.
Besprochen wird eine
Ausstellung zu
Erwin Wurm in den Deichtorhallen Hamburg.
NZZ, 22.06.2007
Menschenrechtsorganisationen wollen die
Datenschutzpraktiken mehrerer Internetunternehmen untersuchen,
berichtet S.B. auf der Medien- und Informatikseite. "Der endgültige Bericht soll im September publiziert werden. Bereits jetzt wurde aber bekanntgegeben, dass
Google in Sachen Datenschutz sehr schlecht dasteht: Die Firma sei eine
Bedrohung für die Privatsphäre der Menschen."
Weiteres: Beatrice Uerlings
liest sich durch "
Wallstrip", das
Video Blog eines
Hedge-Funds-Managers, berichtet wird außerdem über neue
Fernsehformate und über
Multimedia-Journalismus im Test.
Im Kulturteil
besucht Peter Hagmann den renovierten Konzertsaal "
Salle Pleyel" in Paris. Besprochen werden eine
Ausstellung über
Konstantin den Großen, Spätantike und Christentum in
Trier, ein Bartok-Abend mit Oper und Ballett im Genfer
Grand Theâtre, ein Auftritt des
Tonhalle-Orchesters Zürich bei den
Zürcher Festspielen, eine Skulptur der Architekten
Ernst J. Fuchs und
Marie-Therese Harnoncourt, Beiträge der Neuberger
Ernst-Jandl-Tage, "
Icky Thump", das neue
Album der
White Stripes ("fast ausnahmslos brillant"), das Debutalbum von
Battles und Bücher, darunter Oskar Weggels
Buch über die Geschichte
Taiwans und Bernd Stövers
Geschichte des
Kalten Krieges (mehr in unserer
Bücherschau heute ab 14 Uhr).
TAZ, 22.06.2007
Monika Goetsch
unterhält sich mit der Popsängerin
Sinead O'
Connor über das neue Album und die Kinder. In der zweiten
taz staunt Arno Frank über die Chuzpe, mit der Outdoor-Künstler wie
Ai Weiwei bei der
documenta Schutt zur Kunst erklären. Jan Feddersen
porträtiert den südafrikanischen Autor und
Aids-Aktivisten Edwin Cameron, der den Zivilcouragepreis des Berliner CSDs erhält. Im Medienteil
meldet Andreas Zumach die Einstellung des einzigen deutschsprachigen Schweizer Nachrichtenmagazins
Facts. Auf der Meinungsseite
möchte Daniel Bax den
Islam der christlichen Religion in Deutschland rechtlich gleichstellen.
Besprochen werden der
Sammelband "Wissenschaft, Technik, Leben" über das Denken des französischen Wissenschaftsphilosophen
Georges Canguilhem und neue
Platten von den
Beastie Boys,
Ryan Adams und
Chin Chin.
Schließlich
Tom.
nachtkritik, 22.06.2007
Felizitas Ammann hat
Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" in Zürich
gesehen. Inszeniert hat
Rimini Protokoll - es gab keine Aufführung im eigentlichen Sinne, sondern eine Erinnerung an die
Uraufführung vor 51 Jahren. "Hans Städeli, der damalige
Bühnentechniker, schildert ausführlich, was hinter der Bühne so alles geschah. Er erzählt von Pausen und ehemaligen Kollegen, vom Schnürboden und den beiden Feuerwehrmännern, die mit einem Eimer Wasser bereit standen. Das ist eine einzige und sehr lustige Liebeserklärung an den schwerfälligen Theaterapparat, der sich trotz neuer Technik gar nicht so sehr verändert hat. Unterbrochen wird Städeli vom
Inspizienten, der sich immer wieder zu Wort meldet, mit Aufrufen für die historische und für die heutige Uraufführung - die Zeitebenen vermischen sich von Beginn an."
Welt, 22.06.2007
Tim Ackermann
resümiert die Pannen auf der
Documenta und hält die Reaktion des chinesische Künstlers
Ai Weiwei fest, dessen Holzturm durch einen Sturm zerstört wurde: "Der Preis hat sich soeben
verdoppelt". Peter Dittmar
erinnert daran, dass Kunst und Natur zu vereinen schon immer schwierig war. Hendrik Werner
scheint mit den Alterswerken von
Günter Grass und
Martin Walser zwar auch nicht viel anfangen zu können, das Urteil
Elke Heidenreichs - "ekelhafte Altmännerliteratur" - war ihm aber doch zu unmanierlich. Holger Kreitling
berichtet über die Neuordnung der Liste der "Besten Filmen aller Zeiten". Wieland Freund
berichtet von einem gewissen "Gabriel", der angeblich das
Ende von Harry Potter VII kennt. Katharina Dockhorn
skizziert anlässlich des Münchner Filmfests, das mit
Eran Kolirins Film "The Band's Visit" eröffnet wird, die
israelische Filmszene. Und Bremens scheidender Theater- und Opernintendant
Klaus Pierwoß blickt im
Interview zurück auf seine 13jährige Amtszeit und
neun Kultursenatoren: "Jeder neue Senator hat wieder versucht, es neu und ganz anders zu machen als seine Vorgänger, was nicht gelingen konnte."
Besprochen werden eine
CD von
Art Brut,
Maria Ossowskas Buch "Das ritterliche Ethos und seine Spielarten" und die
Aufführung von
Lalos Oper "Fiesque" in Mannheim.
FAZ, 22.06.2007
Im Interview hält
Marina Litwinenko, die Witwe des ermordeten Ex-KGB-Offiziers, Wladimir Putin und nicht den nun als Täter geltenden Andrei Lugowoi für den eigentlichen Drahtzieher des Polonium-Attentats: "Ich glaube, dass er von Putin und dessen Funktionären zu dem
Mord angestiftet worden ist. Meine These ist, dass der Mord den russischen Dissidenten in London in die Schuhe geschoben werden sollte, damit sie beim britischen Establishment an Rückhalt verlieren." Es war auch ein geplanter politischer Mord, so Litwinenko, der ihren Mann beim Geheimdienst aussteigen ließ: "Der Wendepunkt kam 1997, als man ihn in eine geheime Untereinheit versetzte. Sascha erhielt den Auftrag,
Boris Beresowski, der lange als Berater im Kreml tätig war, zu töten. Sascha und einige seiner Kollegen wollten nicht zum Werkzeug einer politischen Intrige werden und erzählten Beresowski davon. In Panik vertraute der sich Saschas ehemaligem Vorgesetzten an; von da an galt Sascha beim Geheimdienst als Verräter." (Eine
Leseprobe aus ihrem Buch "Tod eines Dissidenten" finden Sie
hier.)
Weitere Artikel: Niklas Maak hat spätestens mit dem unwetterbedingten
Zusammensturz von Ai Weiweis Skulptur das "produktive Scheitern" als Leitmotiv der
documenta 12 erkannt. Wenig
hält Jürgen Kaube von jüngsten Forderungen,
noch mehr junge Leute auf die ohnehin schon so manchen Qualitätsmaßstabs verlustig gegangenen Universitäten zu schicken. Julia Voss hat sich mit Paul White unterhalten, der das "
Darwin Correspondence Project" (
Website) leitet. In der Leitglosse
nähert sich Dietmar Dath den polnischen
Kaczynski-Zwillingen knallhart mathematisch: als europäischen Kaczynski-Wert k für Stimmvoten hat er die Zahl 1,41421356237309504880168872420969807856967187537694807317667973799
ausgemacht. Joseph Hanimann hat in Marseille eine Ausstellung besucht, die sich als Vorgriff auf ein seit zehn Jahren geplantes, aber nicht gebautes
Mittelmeer-Museum begreift. Über britische Reaktionen auf muslimische Reaktionen auf den
Ritterschlag für Salman Rushdie informiert Gina Thomas. Günter Kowa hat sich das neue Besucherzentrum der
Nebra-Scheibe angesehen. Florian Balke porträtiert die türkische Übersetzerin deutscher Literatur
Sezer Duru, die heute mit dem Dekabank-Preis des Frankfurter Literaturhauses ausgezeichnet wird.
Auf der
Sachbuchseite finden sich Rezensionen zu Tina Browns
Diana-Biografie und Robert Frenays Manifest "Impuls" über "das kommende Zeitalter naturinspirierter Systeme und Technologien." Außerdem werden ein Sammelband zur "Shoah in der deutschen Literatur" und Maeve Brennans Erzählungsband "Der Teppich mit den großen pinkfarbenen Rosen" rezensiert (mehr dazu in der
Bücherschau des Tages).
Besprochen werden ein Konzert der
Beastie Boys in Berlin sowie Konzerte und eine barocke Opernparodie beim Potsdamer Musikfest.
SZ, 22.06.2007
Der bulgarische
Autor Vladimir Zarev hofft, dass mit der EU sein Land nun endlich vom Chaos der Nachwendezeit erlöst wird. "Auf eine besonders harte Bestrafung rechnen wir auch beim ehemaligen Direktor der Zentralen Wärmeversorgung Sofias, den hier alle nur '
Valentin, der Warme' nennen. Auf österreichischen Konten und in bulgarischen Safes hat sich dieser Mann trotz eines Gehalts von nur 600 Euro im Monat in kurzer Zeit über 15 Millionen vom Munde absparen können. Bei seinen Kunden lief es genau anders herum: Obwohl sie mit dem Heizen immer sparsamer wurden, ja, viele sogar ihre
Heizkörper plombieren ließen, wurden die Rechnungen immer höher."
Im zeitgenössischen
Theater wird der Regisseur zum Autor und der Autor zum Medium, beobachtete Christopher Schmidt bei den
Mülheimer Theatertagen. "Das Theater überlässt immer häufiger dem Publikum die Bühne, lässt das Saalmikro durch die Reihen gehen, macht sich zum offenen Kanal für Wirklichkeits-Protokolle, Raubkopien und Mitschriften und wird zum Content-Merger, zum großen Provider, Wärmespeicher und
Volksempfänger. Der Regisseur Philip Tiedemann hat diesen Trend zugleich auf die Spitze getrieben und parodiert, als er zu Beginn dieser Spielzeit aus einem Witz einen Theaterabend machte und das
Hamburger Telefonbuch dramatisierte."
Weitere Artikel: Abgedruckt ist ein kurzer offener
Brief deutscher Schriftsteller zur Unterstützung von
Salman Rushdie, der wieder Drohungen aus Iran und Pakistan erhalten hat. Christine Dössel vergibt Bestnoten an das
Festival "Theaterformen" in Hannover. Holger Liebs kommentiert süffisant die
sturmzerzausten Kunstwerke auf der documenta.
Michael Moore ist subtiler geworden, bemerkt Jörg Häntzschel bei der Präsentation von "Sicko" in New York. Petra Steinberger kann sich vorstellen, dass sich hinter dem vom mehreren britischen Gewerkschaften diskutierten
Boykott israelischer Universitäten ein "antisemitischer Funke" verbirgt. Jörg Häntzschel
liest O.J. Simpsons nie veröffentlichtes und nun im Internet
kursierendes Buch "If I did it" mit gehöriger Irritation über das recht deutliche Schuldgeständnis.
Hans Leyendecker beschreibt im Medienteil, wie
Konrad R.
Müllers Foto von
Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 so stark
retuschiert wurde, dass Müller jetzt einen Prozess gegen die Verletzung seiner Urheberrechte gewann.
Besprochen werden
Verdis "Macbeth" in Glyndebourne, die Ausstellung "Aller Anfang ist Dada!" über
Hannah Höch in der
Berlinischen Galerie und Bücher, darunter "Die Rechte der Frau und andere Schriften" der 1793 guillotinierten
Olympe de Gouges sowie
Thomas Harlans Roman "Heldenfriedhof" (mehr in unserer
Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).