Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.06.2007. Die FR sucht ein Kino in Afghanistan. In der Welt beschreibt Martin Amis die sechs oder sieben verschiedenen Lächeln des Tony Blair. In der taz widerspricht der Historiker J. Adam Tooze Götz Alys Thesen über die deutsche Ausplünderung der Juden. In der NZZ fragt Ernst-Wolfgang Böckenförde ob der Islam die Trennung von Staat und Religion mitmachen wird. Die SZ verteidigt die zeitgenössische Architektur. In der FAZ beschreiben Ranjit Hoskote und Ilija Trojanow die durchsichtige Inszenierung des Volkszorns gegen Salman Rushdie.

FR, 23.06.2007

Von einem Filmfestival in Kabul und vom Wiedererstehen des Kinos in Afghanistan berichtet Martin Gerner: "Am zweiten Tag des Festivals explodiert eine Bombe unweit des Französischen Kulturzentrums, wo die Filme gezeigt werden. Es gibt viele Tote. Trotzdem ist dieser Ort sicherer als das halbe Dutzend Kinos, das es in Kabul wieder gibt. 'In den 60er und 70er Jahren bestand das Publikum aus gebildeten Familien, es gab Abendvorstellungen. Heute tummeln sich junge Arbeitslose, Halbstarke, Drogenabhängige oder Kriminelle in den Kinosälen', so Jawanshir Haidary von der Filmmakers Union. Herat, die zweitgrößte Stadt des Landes, hat noch gar kein neues Kino. 'Ich bin jetzt 27 Jahre alt. Noch nie war ich in meiner Heimatstadt im Kino', sagt der Filmemacher Fahim Hashimi. Das alte Kino wurde unter den Taliban Moschee."

Weitere Artikel: Roderich Reifenrath verabschiedet Sabine Christiansen in den Talkshow-Ruhestand und kann im Rückblick nur staunen, wie eine so langweilige Sendung derart erfolgreich sein konnte. In einem Times mager stellt Harry Nutt in erster Linie fest, dass derzeit ganz schön viel über Europa gesprochen wird.

Besprochen werden die Ausstellung "Neu Bau Land" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, ein Frankfurter Konzert von Meat Loaf, Martin Kusejs Münchner "Woyzeck"-Inszenierung (ein bisschen zu ehrgeizig, findet Judith von Sternburg) und auch ein Buch, nämlich Arnold Stadlers neuer Roman "Komm, gehen wir" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages).

Welt, 23.06.2007

Auf der Forumsseite tritt der Autor Burkhard Spinnen bei der Verabschiedung von Sabine Christiansen nochmal kräftig nach. "Sie war die Anstandsdame eines Betriebsausflugs von hauptberuflich Verzweifelten. Während sie auf forciert seriöse ebenso wie auf nonchalante Art und Weise die Liquidierung des politischen Gesprächs betrieb, tröstete sie gleichzeitig über diese Exekution hinweg."

In der Literarischen Welt geht Kollege Martin Amis mit Tony Blair etwas milder um. "Macht ist als Droge beschrieben worden, als Aphrodisiakum und (von Maxim Gorki) als Gift; Macht ist auch, über weite Strecken, krebserregend langweilig. Wie alle Politiker hat Tony sechs oder sieben verschiedenen Sorten Lächeln. Lächeln zwei und drei sind für die Bischöfe genug. Wenn Tony in einem überfüllten Raum die Runde macht, ist sein Lächeln gegen Ende eine schmerzverzerrte Grimasse, und seine Augen sind diamanthart."

Fritz J. Raddatz erinnert in der wochenendlichen Literaturbeilage außerdem an den vor 50 Jahren gestorbenen Schriftsteller Alfred Döblin. Fürs Feuilleton besucht Falko Henning den Schriftsteller Walter Kempowski. Matthias Kamann schreibt über eine "anregende" Diskussionsrunde zu "Lernen, beten, Kinder kiegen" im Hamburger Institut für Sozialforschung. Berthold Seewald begutachtet die 35.000 Jahre alte Mammut-Figur, die auf der Schwäbischen Alb gefunden wurde. Auf den Kunstmarktseiten geht es um die erfolgreichen Tochtermessen der Art Basel und gute Ergebnisse bei Christie's und Sotheby's.

Besprochen werden die Kasseler Leistungsschau caricatura für Komische Kunst aus deutschsprachigen Ländern und Mary Townsends Filmporträt der Bildhauerin Monika Kaden.

TAZ, 23.06.2007

In einem großen Interview im taz mag widerspricht der Historiker J. Adam Tooze noch einmal Götz Alys Thesen, dass die Ausplünderung der Juden durch die Nazis für die Finanzierung des Krieges eine wichtige Rolle spielte: "Die Ausplünderung der deutschen und österreichischen Juden brachte dem Reich selbst in den Jahren 1938/39 nicht viel mehr als zwei Milliarden Mark an flüssigen Mittelln - die Besatzung Frankreichs hingegen dreizehn Milliarden Mark. Die Ausbeutung der besetzten Länder und jene der Juden sind also zwei verschiedene Themen, mit unterschiedlichen Größenordnungen. Das zu vermischen, ist ein weiterer Fehler bei Götz Aly." (Tooze hatte Alys Buch "Hitlers Volksstaat" vor zwei Jahren in der taz verrissen. Die Antwort von Götz Aly finden Sie hier. Inzwischen hat Tooze ein Buch über die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus veröffentlicht.)

Als Dossier gibt es eine Reportage von Anja Maier über die Jugendweihe, die sich in Ostdeutschland auch lange nach der Wende noch als populärer Initiationsritus erweist. Reinhard Krause hat eine Ausstellung über Email (nein, nicht E-Mail) besucht. Rezensionen gibt es unter anderem zu Ryszard Kapuscinskis letztem Buch "Notizen eines Weltbürgers", zu Aharon Appelfelds Roman "Elternland" und zu Piroschka Dosis Randgruppenbuch "Hype. Kunst und Geld" über die Konjunkturen des Kunstbetriebs (mehr dazuin der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Kultur-Aufmacher hat Wiebke Porombka zur Frage recherchiert, wie die Verlage ihre Bücher und ihre AutorInnen an die Käuferin und den Käufer bringen. Hakeem Jimo hat sich mit dem nigerianischen Regisseur Tunde Kelani über Nollywood unterhalten, die Heimkino-Industrie seines Landes, und über die Chancen für ein künstlerisch anspruchsvolles Kino aus Afrika. Dirk Knipphals war in seiner wöchentlichen Serie zwischen sieben und acht im Spreebogen, wo das normale Leben losging. Adrienne Woltersdorf informiert darüber, wie Hillary Clinton angesichts zweier neuer Bücher, die vor allem ihre Zustimmung zum Irakkrieg kritisch beleuchten, im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf dasteht. Besprochen wird Daniel Sanchez Arevalos Film "Dunkelblaufastschwarz".

In der zweiten taz erläutert Bettina Gaus, warum nur wenige Sabine Christiansen vermissen werden, die morgen ein letztes Mal ihre Talkshow moderiert. Außerdem verteidigt Jörn Kabisch die Unwissenheit der Prominenten in Jörg Pilawas "Großem Schultest". Jan Feddersen befasst sich mit dem Bild, das die Hamas vom Westen, vor allem vom westlichen Mann hat.

Und Tom.

NZZ, 23.06.2007

In Literatur und Kunst denkt der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde über die Bedingungen eines friedlichen Zusammenlebens der Religionen in Westeuropa nach: "Mithin bleibt als Grundfrage, wieweit der Islam seiner Art nach auf eine grundsätzliche Trennung von Religion und Staat und die Anerkennung des säkularisierten Staates hin vermittelbar ist."

Außerdem in der Samstagsbeilage: Marc Zitzmann liest noch einmal Baudelaires "Feurs du Mal", die vor 150 Jahren veröffentlicht wurden. Luzius Keller lauscht Baudelaireschen Nachklängen bei Samuel Beckett und Marcel Proust. Christian Saehrendt erinnert an den Auftritt ostdeutscher Künstler bei der Documenta vor dreißig Jahren. Thomas Feitknecht liest die Briefwechsel des ehemaligen NZZ-Feuilletonchefs Werner Weber mit Autoren wie Thomas Mann und Max Frisch. Es werden auch mehrere Bücher besprochen, darunter Ernst Tugendhats Studie "Anthropologie statt Metaphysik".

Im Feuilleton zeichnet Angela Schader ein Profil des wider Willen polarisierenden Schriftstellers Salman Rushdie. Sabine Haupt schildert Konflikte und Krise an der Genfer Oper, wo Gewerkschaften über die Arbeitsbedingungen klagen und es vor kurzem zu einem tödlichen Unfall kam. Joachim Güntner stellt das in Berlin geplante Ehrenmal für die Bundeswehr-Toten vor.

Besprochen werden Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" in einer Produktion der Theatergruppe Rimini Protokoll und eine Ausstellung der Sammlung Verbund (so heißt ein großes Wasserkraft-Unternehmen in Österreich) in Wien.

SZ, 23.06.2007

Gerhard Matzig denkt anlässlich des Tags der Architektur über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft der Baukunst nach. Er hat da ernsthafte Bedenken: "Es gehört fast schon zum gängigen Party-Smalltalk, auf der einen Seite zeitgenössische Architekturen zu beschimpfen (es sei denn, sie stammen von den üblichen Designern der Baukunst, von Hadid & Co.), um auf der anderen Seite dünne Schlossfassaden und die noch dünneren Natursteinhäute neuer Bürgerdomizile zu bejubeln. Leute, die nicht wissen, wodurch man einen Renaissance-Palast von einer gotischen Kirche unterscheiden könnte, sind inzwischen mutig genug, alles, was nach Aufbruch aussieht, mit lauter Stimme zu verurteilen. Und mit ebenso lauter Indifferenz."

Weitere Artikel: Ziemlich erzürnt ist Jens Bisky über den Kompromiss zum Berliner Homo-Mahnmal (Bild), das jetzt vor allem dank der Interventionen von "Emma" nicht nur sich küssende Männer, sondern im Zweijahres-Abwechslungsturnus auch sich küssende Frauen zeigt - "als gäbe es keinen Unterschied zwischen Staatsterror und Diskriminierung im Alltag". Tobias Kniebe hat auf dem Filmfest München Werner Herzogs - ziemlich teuren und ziemlich gelungenen - Hollywoodfilm "Rescue Dawn" gesehen; Fritz Göttler schreibt über den neuen Film von Nicolas Philibert (mehr), eine Recherche zu einem Film Rene Allios von 1976 über den Fall des Mutter- und Schwesternmörders Pierre Riviere, den wiederum Michel Foucault (Interview) berühmt gemacht hatte. Petra Steinberger macht sich Gedanken über Begriff und Wirklichkeit des "Niemandslands". Reymer Klüver erzählt kurz, wie Hillary Clinton ihren Wahlkampfsong vom Internet-Volk wählen ließ.

Besprochen werden Martin Kusejs "eindrucksvolle" Inszenierung von Büchners "Woyzeck" am Residenztheater München, eine Doppelausstellung zur Malerin Angelika Kauffmann in Bregenz und Schwarzenberg, Lou Reeds Münchner Auftakt zur Tournee, auf der Reed sein 73er Album "Berlin" auf einer vom Maler und Regisseur Julian Schnabel inszenierten Bühne spielt, die in München von Jukka-Pekka Saraste dirigierte "Kullervo"-Symphonie von Jean Sibelius, und Bücher, darunter ein Briefband des Dichters Nicolas Born, die Korrespondenz des Kunsthistorikers Erwin Panofsky und Gert Heidenreichs Kriminalroman "Im Dunkel der Zeit" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Im Aufmacher der SZ am Wochenende rechnet Holger Gertz mit dem Profisport ab, als dessen Prinzipien und nicht Pathologien er das Doping und die damit verbundene Heuchelei begreift. Dirk Peitz erzählt die Geschichte eines Freitauch-Rekord-Duells. Nadine Barth berichtet über Mode in China. Auf der Historienseite geht es um die Schlacht von Plassey und den Beginn der britischen Kolonialherrschaft in Indien. Abgedruckt wird eine Erzählung von Ruth Rehmann mit dem Titel "Wie ich schwimmen lernte". Im Interview mit Bruce Willis geht es um Werte und die Paparazzi-Kultur im Handy-Zeitalter: "Eines Tages wird man Wege finden, mich zu filmen, während ich selbstvergessen auf dem Klo hocke. Ja, ein Mobiltelefon wird sich auf den Weg machen und von unten meine Eier filmen."

FAZ, 23.06.2007

Die jüngsten Demonstrationen gegen Salman Rushdie in Pakistan und im Iran sind nur durchsichtige Inszenierungen des Volkszorn zur Ablenkung von innenpolitischen Problemen, schreiben der indische Autor Ranjit Hoskote und Ilija Trojanow: "Jeder kennt das Skript, die Symbolik ist allen vertraut. So muss nur noch die Logistik des Protestes zur Verfügung gestellt werden - die Lastwagen, die Megaphone, die Fahnen und Plakate. Selbst die Bühnen sind allen bekannt, die Plätze vor bestimmten Moscheen, die öffentlichen Parks. Schließlich bedarf es nur noch eines Anrufes bei den Fernsehstationen - und man hat sich mit einfachen Mitteln eine Weltöffentlichkeit gesichert. Das laute Entsetzen im Westen steigert die lokale Aufmerksamkeit. Die Organisatoren solcher Proteste verstehen sich auf die Ästhetik und die Macht des Fernsehens."

Weitere Artikel: Zum Tag der Architektur meditiert Dieter Bartetzko über die "eingefleischte Missachtung, die viele Architekten allem gegenüber pflegen, was dem eigenen Schaffen im Wege steht", die sich inzwischen auch auf die Nachkriegsmoderne erstrecke. Edo Reents befürwortet in der Leitglosse den Vorschlag eines Briten, die Höchstgeschwindigkeit von Autos bei einem bestimmtenn Wert abdrosseln zu lassen. In der Gastrokolumne empfiehlt der Kochdekonstruktivist Jürgen Dollase die Werke Hans-Stefan Steinheuers von "Steinheuer's Restaurant" (mit faschem Apostroph). Christian Schwägerl stellt eine scharfe Resolution des französischen Parlamentariers Guy Lengagne gegen den Kreationismus vor, die im Europarat zur Abstimmung kommen soll. Lorenz Jäger gratuliert dem konservativen Publizisten Caspar von Schrenck-Notzing zum achtzigsten Geburtstag

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite geht's um den letztjährigen Salzburger "Figaro" auf CD, um die neue CD von Paul McCartney und um ein neues Album des jungen und hübschen Rhythm & Blues-Stars Rihanna. Auf der Medienseite feiert Michael Hanfeld die Erfolge des Privatsenders Vox. Auf der letzten Seite ist die Eröffnungsrede Martin Walsers zur Ausstellung "Ordnung" in Marbach abgedruckt, eine Feier des schriftstellerischen Tagebuchschreibens: " Die Sprache ist ein öffentliches Medium. Ich sage, sie sei die andauernde Hochzeit zwischen Natur und Geschichte. "

Besprochen werden Martin Kusejs Inszenierung des "Woyzeck" in München, Konzerte des Musksommers in Bad Kissingen, eine Julian-Schnabel-Ausstellung im ehemaligen Schloss von Georg Baselitz in Derneburg und Bücher, darunter Lisa St. Aubin de Terans Roman "Deckname Otto" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Für Bilder und Zeiten besucht Hannes Hintermeier den Autor Dzevad Karahasan im nach wie vor vom Krieg gezeichneten Sarajewo. Andreas Kilb wird melancholisch über all die Coverversionen, die Radio und Kino bevölkern. Und Irene Bazinger interviewt die Chansonsängerin Ingrid Caven.

In der Frankfurter Anthologie stellt Marie-Luise Knott ein Gedicht des heute fast vergessenen Schlagertexters Robert Gilbert vor - "Erst strich er Seiten weg:

"Erst strich er Seiten weg, dann Sätze. Dann
Sah er sich noch einmal die Sache an.
Dann kamen Worte, danach Silben dran.
Bei Leichenschmaus schmiß er die Leichen raus (...)"