Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2007. Die Welt hört Günter Grass und Norman Mailer in New York. In der FR liefert ein unbekannter New Yorker den schönsten Satz zu Günter Grass und den Nazis. In der taz rockt Debbie. Die NZZ erklärt, was Hikikomori ist. Die SZ bewundert die effektvollen Auftritte Lang Langs. Die FAZ arbeitet sich mal wieder am Perlentaucher ab.

Welt, 29.06.2007

In der New York Public Library stand am Mittwoch "Das 20. Jahrhundert vor Gericht", berichtet Iris Alanyali. Mit dabei waren Günter Grass und Norman Mailer. Natürlich ging es dabei auch um Grass' kurze Mitgliedschaft als 17-Jähriger in der Waffen-SS. "Hier gab es Schützenhilfe von Norman Mailer, der von einem Auszug aus 'Peeling the Onion' als großartige Literatur über den Krieg schwärmte. Und ungefragt lieferte Mailer einen Erklärungsversuch für Grass' Schweigen. Er, Mailer, habe sich angesichts der Diskussion überlegt, worüber er selbst nicht würde schreiben wollen. Und sein Tabu-Thema seien die Messerstiche gegen seine zweite Frau Adele, die Mailer 1960 in die Schlagzeilen und ihm fünf Jahre Haft auf Bewährung brachten. 'Und dann habe ich mich gefragt, warum ich das nicht könnte.' Weil darüber zu berichten nicht genug sei. 'Am soundsovielten um soundsoviel Uhr geschah dies und das. Sowas machen nur schlechte Schriftsteller.' Man müsse ein derartig schwieriges Thema regelrecht zähmen, bezwingen."

Weitere Artikel: Torsten Krauel gratuliert Pamela Anderson zum Vierzigsten. Elk. schickt Notizen aus Klagenfurt ("12.45 Uhr: Eingenickt"). Sfk. erinnert daran, dass der neue britische Außenminister David Miliband mit seinen 41 Jahren keineswegs besonders jung ist für sein Amt: William Pitt der Jüngere wurde mit 24 Jahren Premier. Michael Stürmer begutachtet den frisch renovierten Spiegelsaal von Versailles. Der Intendant der Münchner Kammerspiele, Frank Baumbauer, hört 2009 auf, berichtet Matthias Heine. Rüdiger Sturm beschreibt die wachsenden Kooperationen zwischen Bollywood und der westlichen Filmindustrie. Daniel Libeskind plant zusammen mit Studierenden einen Hochschulcampus in Lüneburg, meldet DW. Eine weitere Meldung informiert uns, dass die Unesco erstmals einen Welterbetitel aberkannt hat: für ein Naturschutzgebiet in Oman.

Besprochen werden Rainer Kaufmanns Verfilmung des Walserromans "Ein fliehendes Pferd", Emir Kusturicas Inszenierung der Oper "Time of the Gypsies" an der Pariser Oper, eine Ausstellung altdeutscher Zeichenkunst in der Stuttgarter Staatsgalerie und eine CD von Keren Ann.

TAZ, 29.06.2007

Johannes Gernert begleitet die Reutlinger Mädchenband "Debbie rockt!", die als potenzielle Nachfolger von Tokio Hotel gehandelt werden, zu einem Konzert nach Berlin. Jan Feddersen vertreibt sich in der zweiten taz die Zeit bis zum ersten deutschen Auftritt von Barbra Streisand morgen in Berlin mit Gedanken zu ihrer "speziellen Aura".

Im Medienteil meldet Gabriele Lesser, dass die polnische Staatsanwaltschaft immer noch in Sachen Kartoffel-Satire der taz ermittelt. In den meisten Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist die Pressefreiheit massiv eingeschränkt, erfährt Barbara Oertel aus einer Studie der Nichtregierungsorganisation Freedom House.

Besprochen werden die Aufführung der brasilianischen Produktion "Schwarzer Engel" durch die "alles nivellierende Maschine" Frank Castorf in der Berliner Volksbühne und zwei CD-Kompilationen voller Dubstep.

Und noch Tom.

FR, 29.06.2007

Zwei deutsche Schriftsteller sind derzeit in New York, meint Ina Hartwig. Maxim Biller mit einer Kurzgeschichte und einem Online-Interview im New Yorker zumindest virtuell, Günter Grass höchstpersönlich. Hartwig hat einen Bericht ihrer Privatkorrespondentin erhalten. "Eine amerikanische Freundin und Verehrerin von Grass' Romanen, die einen Platz in der hintersten Reihe ergattern konnte, berichtet per E-Mail über die Veranstaltung: 'Grass las ein paar Seiten vom Ende des Buchs über seine geliebte Olivetti-Schreibmaschine. Er las auf Deutsch und eine junge Frau trug dann die englische Übersetzung vor. Er ernst, langsam; sie unterhaltsam, schnell. Die Fragen im Anschluss waren langweilig - einige wurden auf Deutsch gestellt -, bis ein mittelalter Mann schließlich bemerkte: Ich bin froh, dass Ihre Olivetti länger durchgehalten hat als die Nazis.'"

Weiteres: Susanne Lüdemann weist auf den kulturellen Sinn des vor dem Verfassungsgericht angezweifelten Inzestverbots hin, der in der Ermöglichung einer von der Herkunft unabhängigen Persönlichkeitsentwicklung liegt. In einer Times mager wünscht sich Daniel Kothenschulte weniger PR-Trubel um Tom Cruises Stauffenberg-Film und die stille Erlaubnis zum Drehen im Bendlerblock. Antje Hildebrandt freut sich über die 600. Sendung der Kindershow "1,2 oder 3" und würdigt Michael Schanze als "Fred Feuerstein des Kinderfernsehens". Eine Besprechung widmet sich der nach Milwaukee und Wien jetzt in Berlin gelandete Ausstellung über das Biedermeier als Vorhof der Moderne.

NZZ, 29.06.2007

Florian Coulmas berichtet von einer Besorgnis erregenden Entwicklung in Japan - dem "Hikikomori" genannten pathologischen Rückzug junger Menschen aus der Gesellschaft: "Hikikomori ist heute in Japan eine anerkannte Zivilisationskrankheit, deren Auftreten den Rahmen individueller Fehlentwicklung längst gesprengt hat. Die Zahl der Betroffenen wird auf über eine Million geschätzt. Die Dunkelziffer ist gross, da seelische Krankheiten oft als Makel betrachtet werden. Hinzu kommt, dass das Krankheitsbild neu und bis jetzt recht diffus ist. Es reicht von leicht unangepasstem Verhalten bis zu schweren Psychosen. Gemeinsam ist den Betroffenen die mangelnde Fähigkeit, mit anderen Menschen normal zu interagieren."

Weitere Artikel: Alexandra Stäheli denkt über die Dokumentarfilme Michael Moores nach - sein jüngster, "Sicko" startet heute in den USA - und kommt wie ein jüngerer Moore-kritischer Dokumentarfilm zur Ansicht, dass Moores narzisstischen Persönlichkeitsanteile seine Anliegen in Mitleidenschaft ziehen. Thomas Davis Bestandsaufnahme der ersten zwei Jahre von Friedrich Schirmers Intendanz am Hamburger Schauspielhaus fällt sehr verhalten aus.

Besprochen werden die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Hohenems und Nicolas de Crecys Comic-Bände "Journal d'un fantome" und "Periode glaciaire".

Auf der Medien- und Informatikseite setzt sich der Publizistikprofessor Stephan Russ-Mohl kritisch mit der Entwicklung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in Europa auseinander: "Blickt man indes auf die Nachbarländer, so werden große Anstalten wie die ARD, die BBC und die italienische RAI jedoch immer mehr zum Opfer einer Dynamik, welche Ökonomen als 'Tyrannei der kleinen Entscheidungen' bezeichnen: Millionen Zuschauer zwingen bei der täglichen 'Abstimmung' mit der Fernbedienung ein Programm herbei, das immer mehr sein öffentlichrechtliches Profil verliert. Es könnte genauso gut, aber zu einem Bruchteil der Kosten, von privaten Anbietern ausgestrahlt werden. Die Minderheiten, die Anspruchsvolles für ihre Gebührengelder erwarten, gehen leer aus - zumindest zu den Hauptsendezeiten bei den grossen Anbietern."

Außerdem: Sarah Genner warnt, dass das, was so alles im Internet über einen steht, durchaus karrieregefährdend sein können - und stellt das Unternehmen ReputationDefender.com vor, das gegen rufschädigende Informationen und Äußerungen vorzugehen verspricht.

SZ, 29.06.2007

Reinhard J. Brembeck hält den "Grimasseur" unter den Pianisten, Lang Lang, bei allen handwerklichen Mängeln für einen Glücksfall der Klassikszene. "Nun ist das körperlich sich zurückhaltende, quasi aseptische Musizieren eine moderne Erfindung des 20. Jahrhunderts. Auftritte von Niccola Paganini und Franz Liszt waren dagegen, will man Zeitzeugen glauben, durchaus große und effektvolle Theaterinszenierungen. Kleidung, Mimik, Gang, verdrehte Augen, fingierte Ohnmachten, Flirts mit dem Publikum - das gehört unveräußerlich und eben nicht nur als äußerliche Marotte zum Auftreten der großen Virtuosen des 19. Jahrhunderts. Denn in diesen, das Massenpublikum entdeckenden Zeiten ohne Schallplatten, Radio und Fernsehen, ohne staatliche Subvention und Künstlersozialversicherung war das öffentliche Konzert der einzige Ort für einen Musiker, sich zu etablieren. Und je hysterischer und effektvoller solche Auftritte vonstatten gingen, umso besser." Jörg Königsdorf plaudert anschließend mit Lang Lang über Open-Air-Konzerte und Kollegenmarotten.

Weiteres: Christine Dössel meldet, dass Frank Baumbauer ab 2009 den Münchner Kammmerspielen nicht mehr als Intendant zur Verfügung steht. Nicolas Sarkozy bricht mit der Tradition und stellt nur wenige Absolventen der Ecole nationale d'administration in seiner Regierungsmannschaft ein, beobachtet Jeanne Rubner. In seinem gekürzt abgedruckten Eröffnungsvortrag der Münchner Opernfestspiele grübelt der Soziologe Richard Sennett über die spannungsreiche Beziehung von Ritual und Drama. Prinzessin Diana wird von Tobias Kniebe als Katalysator einer globalen Verbundenheit begriffen. Susan Vahabzadeh verabschiedet Ulla Rapp, die auf dem Münchner Filmfest in diesem Jahr das letzte Mal die Reihe der unabhängigen Filme zusammenstellte. Hans Schifferle sieht derweil in München düstere Indio-Filme aus Peru. Im Literaturteil macht Jörg Später vor allem die Hitler-Biografie von Ian Kershaw dafür verantwortlich, dass es hierzulande derzeit so viele Bücher britischer Historiker über das Dritte Reich gibt.

Besprechungen gibt es zu Thomas Hürlimanns diesjährige Aufführung des traditionellen "Welttheaters" im schweizerischen Einsiedeln und Mohsin Hamids "unheimlichem" Roman "Der Fundamentalist, der keiner sein wollte".

FAZ, 29.06.2007

Im Interview zieht Sir Simon Rattle eine Bilanz seiner ersten fünf Jahre als Chef der Berliner Philharmoniker. Von radikalen Veränderung kann seiner Ansicht nach nicht die Rede sein:" Orchester bewegen sich so schnell wie die tektonischen Platten." Zwar wünscht sich die Kölner Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner, wie Patrick Bahners meldet, niedrigere Minaretttürme für die geplante Moschee, Konkurrenz zum Dom kann sie aber nicht erkennen: "Gemessen am Dom, wird sie ein kleines Kapellchen. Da sollte man die Kirche im Dorf lassen." Jordan Mejias berichtet von einer Veranstaltung in New York mit Günter Grass und Norman Mailer. Thomas Wagner lässt noch einmal die Kunstgroßereignisse des Sommers Revue passieren und diagnostiziert einen problematischen Mangel an Ablehnung für die moderne Kunst. Joachim Müller-Jung pflichtet dem "Zweiklassen"-Kritiker Karl Lauterbach bei, dass entschieden etwas faul ist im deutschen Gesundheitssystem. In der Leitglosse berichtet Heinrich Wefing von einer Diskussion zum Chipperfield-Entwurf für die Museumsinsel und bedauert, dass kein kluger Vertreter des Historismus aufs Podium geladen war. Auf dem Berliner Poesiefestival hat sich Andreas Kilb umgesehen und umgehört. Dirk Schümer informiert über neue Spekulationen um den Tod Pier Paolo Pasolinis. Auf der letzten Seite porträtiert Klaus J. Bade den nunmehr emeritierten Historiker und Politikberater Klaus J. Bade (Homepage).

Für die Medienseite hat Olaf Sundermeyer recherchiert, dass der Perlentaucher an der europäischen Presseschau eurotopics mitarbeitet und somit einen Staatsauftrag angenommen hat. Außerdem informiert diese Zeitung über einen Prozess, den sie gegen den Perlentaucher gewonnen hat, während sie bei dem anderen Prozess, den sie zusammen mit der SZ in erster Instanz verloren hat, ihre Informationsfreiheit nutzt, um diesmal darüber zu schweigen. Wir werden auf diese Berichterstattung zurückkommen.

Besprochen werden drei Premieren von Verdis Oper "Othello" in Karlsruhe, Wuppertal und Bonn im Vergleich (in dem die Bonner Inszenierung von Dietrich Hilsdorf am besten dasteht), eine große Ausstellung zur Fotografie im Kölner Museum Ludwig und Bücher, darunter Michael Jungs Untersuchung über "Marathon und Plataia".